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Als Sanderson Clark aus dem Haus herausgeschoben und ihn über den Rasen hatte wegeilen sehen, kehrte er ohne jede Hast in die Bibliothek zurück. Es war erstaunlich, wie ruhig er angesichts einer so verzweifelten Situation blieb; aber vielleicht war es sein Selbstvertrauen, das ihn zum Herrn der Lage machte.
Der Junge hat seine Sache gut gemacht, dachte er bei sich. Er hat rasches Auffassungsvermögen. Als der Diener zusammenbrach, verlor er zwar die Nerven, aber daraus kann man ihm keinen Vorwurf machen. Er beugte sich über den bewegungslosen Gresham und nickte beruhigt. Nicht tot, stellte er sachlich fest.
Sanderson überlegte, welches Geräusch wohl den Diener auf die Beine gebracht. Wahrscheinlich hatte er das Arbeiten des Bohrers gehört. Jedenfalls hatte der gewissenhafte Mann die Runde durchs Haus gemacht, um nachzusehen, ob nach dem Schlafengehen der Gäste alles in Ordnung war. Aber darauf kam es ja jetzt nicht an.
Er machte keinen Versuch, die Bibliothek zu verlassen und ließ den elektrischen Bohrer und den Sack mit dem Werkzeug ruhig am Boden liegen. Die einzige Gefahr, die ihm von diesen Gegenständen drohte, waren Fingerabdrücke, und er wußte, daß man keine feststellen könnte. Bei einem Versuch, in sein Zimmer zurückzugelangen, riskierte er, von aufgeschreckten Gästen gesehen zu werden. Wenn man ihn auf der Flucht von diesem Schauplatz überraschte, verdarb er sich seine einzige Chance. So blieb er, wo er war, um den Eindruck hervorzurufen, daß er, als erster von dem Schuß geweckt, heruntergekommen sei.
Sanderson legte rasch seinen leichten Mantel ab und versteckte ihn eilig in der Garderobe. Wie er jetzt im Pyjama im Raum stand, mußte seine Darstellung durchaus glaubwürdig wirken.
Er brauchte nicht lange zu warten. Von oben rief jemand durchs Haus, was los wäre. Man hörte eine Frau hysterisch schreien. Im nächsten Augenblick stürzte Rudolf Ferris die Treppen hinunter in die Bibliothek, wo er Sanderson gerade im Begriff fand, dem bewußtlosen Diener die erste Hilfe zu leisten. Ferris, der 1918 als Fliegerheld aus dem Krieg zurückgekehrt war, galt allgemein als beliebtester Gesellschaftslöwe.
»Was ist los, Max?«
»Sie haben den Diener niedergeschossen, Rudi. Ich dachte zuerst, er wäre erledigt, aber Gott sei Dank, er atmet noch!« Sandersons Eifer war ganz aufrichtig. »Schnell einen Arzt.«
»Und die Polizei«, fügte Rudolf Ferris hinzu. »Hier liegt doch Einbruch vor.«
»Sieht ganz danach aus. Anscheinend hat Gresham die Leute überrascht.«
»Heiliger Himmel –« Rudolf war in großer Erregung – »die Perlen! Ob sie mit den Perlen davon sind?«
»Sieht ganz danach aus!«
Ferris zuckte die Achseln.
»Bin schön froh, daß Gresham am Leben blieb – aber den Perlen traure ich nicht nach. Einem Kerl wie diesem Rittenhouse gönn' ich's. Hm – ich hätte dem Gresham nicht soviel Schneid zugetraut.«
»Ich auch nicht«, erwiderte Sanderson und dachte sich mehr dabei, als der andere ahnen konnte.
Ein zweiter Gast, halbtot vor Schreck, kam die Treppe herunter, voller Neugier, was los sei. Dicht hinter ihm schob sich schwerfällig Julius H. Rittenhouse heran, ein kleiner dicker Mann mit aufgeschwemmtem Gesicht und weingeröteten Augen.
Rittenhouse blieb einen Augenblick in der Bibliothek stehen und erfaßte sofort die Situation. Um den Diener kümmerte er sich überhaupt nicht. Purpurn vor Wut glotzte er aus seinem fetten Gesicht auf den Safe.
»Gestohlen!« brüllte er und wankte quer durch den Raum auf den Geldschrank zu. Ein Blick in das aufgebrochene leere Innenfach bestätigte seine schlimmsten Befürchtungen. Die Robertson-Perlen waren weg.
»Seid ihr alle Feiglinge?« schrie er Sanderson und Ferris an. »Seht ihr denn nicht, was passiert ist? Hier ist der Safe erbrochen, die Perlen gestohlen, und ihr steht hier herum, während die Kerls sich davonmachen?«
Rudolf Ferris wurde rot vor Zorn.
»Sanderson und ich kommen gerade erst herunter. Bis jetzt war keine Zeit, irgend etwas zu unternehmen. Zuerst muß man sich doch um diesen armen Teufel kümmern, der seine treue Sorge um Ihren Besitz beinah mit dem Leben bezahlt hätte. Aber das scheint Ihnen gleichgültig.«
Rittenhouse tobte: »Höchstwahrscheinlich steckte Gresham mit den Einbrechern unter einer Decke. Die Alarmvorrichtungen haben doch nicht funktioniert. Wie war das ohne Hilfe von innen möglich? Gresham hat die Kerls hereingelassen, und dann haben sie ihn umgebracht, um nicht mit ihm teilen zu müssen. So liegt die Sache. Recht geschieht ihm.«
Ferris' Miene drückte Verachtung aus.
»Das ist eine üble Verleumdung, Rittenhouse. Ich hab' Sie immer für einen Schmutzfink gehalten – hier ist der Beweis.«
»Wenn er ehrlich war, dann hat er sich wie ein Trottel benommen. Warum ist er allein auf die Halunken losgegangen, anstatt mich zuerst zu wecken?«
»Damit die Kerls sich inzwischen aus dem Staub machen könnten«, erwiderte Ferris. »Schöne Dankbarkeit das!«
Rittenhouse fuchtelte mit den Armen.
»Keine Streiterei jetzt«, schrie er. »Ruft denn noch immer niemand die Polizei an? Während wir hier herumstehen, kriegen die Kerls mit den Perlen immer mehr Vorsprung. Also los!«
Sanderson wollte sich unter den gegebenen Umständen seinen Gastgeber nicht zum Feind machen.
»Man muß was unternehmen, Ferris. Es ist doch klar, daß Rittenhouse sehr erregt ist und nicht weiß, was er sagt. Einer von uns sollte rasch telephonieren –«
»Unmöglich«, sagte ein anderer Gast, der unbemerkt durch die Bibliothek ans Telephon gegangen war und sich vergeblich um Anschluß bemühte. »Die Telephonleitung ist durchschnitten.«
»Da muß man zum nächsten Haus und von dort telephonieren«, meinte Sanderson. »Man kann die Diebe doch nicht einfach davonlaufen lassen. Ich springe schnell herauf und ziehe mich an.«
»Wenigstens einer, der ein bißchen Verstand bewahrt hat«, grunzte Rittenhouse.
Die drei Männer stürzten herauf. Andere Gäste standen im Treppenhaus herum und fragten flüsternd, was los wäre. Mrs. Kendrick war in Ohnmacht gefallen, als sie hörte, jemand sei ermordet. Allein in seinem Zimmer lachte Sanderson beim Ankleiden zynisch auf.
»Jetzt bin ich beides in einer Person, Verfolger und Verfolgter. So kompliziert war es noch nie. Nur gut, daß ich die Telephondrähte zerschnitt. So hat Clark reichlich Vorsprung. Er wird jede Minute brauchen – jede Minute. In einer Stunde werden alle Hauptstraßen abgesperrt sein.«
Sanderson war als erster unten, einen Augenblick später erschien Rittenhouse, der schnaufend und nervös mit seinem Kragenknopf kämpfte.
»Sie – Sie können chauffieren, Sanderson?« keuchte er. »Es dauert sonst mindestens eine Viertelstunde, bis ich einen Chauffeur auf die Beine gebracht hab'.«
»Selbstverständlich«, antwortete Sanderson, obgleich er diese Viertelstunde gern gewonnen hätte. »Aber wo ist Ferris? Er wollte mitkommen.«
»Kümmern Sie sich doch nicht um den Schlappschwanz«, schimpfte Rittenhouse. »Schöner Held! Warum hat er denn nichts unternommen? Sagen Sie schon – warum?
Sanderson versuchte ihn zu beruhigen. »Was sollte er denn tun? Ich war zuerst zur Stelle, nachdem der Schuß gefallen, nicht Ferris.«
»Ach so liegt die Sache«, brummte Rittenhouse, etwas besänftigt.
Auf dem Weg zur Garage stieß Ferris zu ihnen.
»Die Kerls müssen im Auto davon sein. Haben Sie nichts gehört, Sanderson?«
»Nicht das geringste, Ferris.« Seine Stimme brach plötzlich ab, und ein Gefühl angstvoller Unsicherheit überkam ihn. Genau in diesem Augenblick hatte Clark den verlorenen Schlüssel gefunden, fuhr los und steuerte das Auto vom Seitenweg zur Hauptstraße. Sanderson begriff nicht, wie Clark es angestellt, soviel kostbare Zeit zu verlieren. Der hätte doch schon acht oder zehn Kilometer Vorsprung haben können!
»Was ist das für ein Geräusch?« fragte Rittenhouse.
»Donnerwetter – da machen sich die Kerls aus dem Staub«, schrie Ferris. »Man hört den Wagen gerade vom Wald her. Sie werden natürlich auf die Hauptstraße nach New York einbiegen. Schnell, Sanderson, das ist das richtige Abenteuer für mich seit Kriegsende. Sie nehmen das Steuer, und ich mach' mich für alle Fälle schußbereit. Hier hab' ich Greshams Revolver und noch meinen eigenen Selbstlader dazu.«
Maxwell Sanderson tat begeistert. Im stillen fluchte er. Warum hatte Clark die Zeit vertrödelt? Der Wagen war wohl nicht angesprungen.
Rittenhouse hatte die Garage geöffnet.
»Nehmen Sie den Rolls Royce«, schlug er vor. »Der Wagen ist fünf Jahre alt, hat's aber in sich. Er macht spielend hundert Kilometer.«
Noch ein harter Schlag. Clark konnte höchstens ein Achtzigkilometertempo aus dem Roadster herausholen, vielleicht nicht mal das. Er kannte die Maschine nicht und war überhaupt kein geübter Fahrer.
Die drei Männer sprangen in den Wagen, Sanderson nahm das Steuer. Einen Augenblick später raste er schon in vollem Tempo über die Zufahrtsstraße. Er mußte besonderen Eifer bei der Verfolgung zeigen, um keinen Argwohn bei Rittenhouse aufkommen zu lassen. Im Flug ging es der Straßenkreuzung zu, wo man nach Süden abbiegen mußte, um die Hauptstraße nach New York zu erreichen.
Als der Geschwindigkeitsmesser siebzig anzeigte, trieb Rittenhouse zu schnellerem Tempo an. »Schneller, schneller – oder ich fahre selbst.« Sanderson trat auf den Akzelerator, und der Wagen schoß gehorsam vorwärts. Fünfundsiebzig – fünfundachtzig – fünfundneunzig – hundert –
»Gott sei Dank – die Straße ist frei«, schrie Ferris gegen den Wind an. »Wenn wir bei diesem Tempo einen Zusammenstoß hätten –«
Bei Vollgas bergab kletterte die Geschwindigkeit auf hundertzehn. Der Wagen fraß die Kilometer nur so. Hoffentlich merkte Clark, daß man ihm auf den Fersen war! Wenn der in einen Seitenweg einbog, konnte man vortäuschen, die Spur zu verlieren. Sandersons Hoffnung wurde schon nach der nächsten Anhöhe enttäuscht. Das rote Schlußlicht des Roadsters tauchte vor ihm auf.
»Schneller – verflucht noch mal«, befahl Rittenhouse. »Wir holen sie ein!«
Sanderson war höchst übel zumut. Das Schlußlicht wurde deutlicher erkennbar. Immer näher und näher kamen die Scheinwerfer an den flüchtenden Wagen heran. Schon sah man seine Umrisse.
Ferris richtete sich im Wagen auf, hielt sich an der Windschutzscheibe fest und gab zwei Schüsse auf den Wagen vor ihm ab. Es war höchst unwahrscheinlich, daß die Schüsse bei der rasenden Geschwindigkeit und dem Vibrieren des Wagens treffen konnten; trotzdem fuhr Sanderson zusammen.
»Verschwenden Sie Ihre Munition nicht unnütz«, schimpfte Rittenhouse vom Rücksitz her. »Sparen Sie Ihr Pulver. Werden's bald brauchen. Gleich haben wir sie überholt.«
Sanderson wagte nicht, die Geschwindigkeit herabzumindern, und so wurde der Abstand zwischen den beiden Wagen schnell geringer.
»Clark wird gleich erledigt sein. Verflucht blöder Kerl! Hätte sich doch zu Fuß davonmachen sollen, wie er merkte, daß er überholt wird.« Trotz des Verbots von Rittenhouse feuerte Ferris wieder. Sanderson war sich nicht klar darüber, ob er sich's nur einbildete – oder war der Roadster vor ihm wirklich einen Moment ins Schlingern geraten? Jetzt verschwand der fliehende Wagen für einen Augenblick in einer Straßensenkung. Wenn er wieder auftauchte, würde er wahrscheinlich in Ferris' sicherem Schußbereich liegen.
Sanderson faßte das Steuer fester. Alle Muskeln spannten sich. Ein verzweifelter Entschluß – blitzschnell wußte er, was er zu tun hatte.
»Ich muß ihn herausreißen. Ich kann einen Kameraden nicht im Stich lassen. Das ist der Ausweg – der einzige – ich muß es wagen.«
Der starke Wagen sauste mit unverminderter Geschwindigkeit weiter. Die großen vernickelten Scheinwerfer warfen einen breiten weißen Lichtschein, der die Augen blendete.
»Kurve«, schrie Ferris und faßte seinen Arm. »Um Gottes willen, Mensch, langsamer in die Kurve!«
Plötzlich wildes Geschrei – die Bremsen und Rittenhouse kreischten gleichzeitig. Die Geschwindigkeit war für die scharfe Kurve viel zu groß gewesen. Die Räder sprangen vom Asphalt herunter und gruben sich tief in die weiche Erde. Der Wagen sauste in den Graben. Metall klirrte, Holz krachte, Glas splitterte. Ferris wurde im Bogen herausgefeuert und landete auf einer sumpfigen Stelle neben der Straße. Rittenhouse war mit dem Kopf gegen die Vordersitze geschlagen und lag als schwere fette Masse unten im Wagen.
Sandersons Hände wurden vom Steuer weggerissen; der Anprall schleuderte ihn gegen die zersplitterte Windschutzscheibe.
Ich konnte ihn doch nicht einfach im Stich lassen, und es gab keine andere Möglichkeit, ging es ihm durch den Kopf. Er wollte sich aus den Trümmern herausarbeiten, aber ein heftiger Schmerz lähmte ihn. Bevor er das Bewußtsein verlor, sah er noch das rote Schlußlicht des Roadsters auf der übernächsten Höhe auftauchen und als kleines rotes Pünktchen langsam verschwinden.