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An Friedrich von Preen

Basel, Sonntag, 8. Dezember 1878

Ich bin schon ewig lang in Briefschuld und komme nur pater peccavi zu Ihnen sagen. Meine Hauptexküse möchte in Ihren Augen darin liegen, daß ich eine ganze Reihe von Sonntagen (also von meinen Hauptbriefschreibtagen) rite im schönen Alemannien von früh bis spät verbummelte.

 

9. Dezember

Als ich gestern so weit war, kam ein Besuch, jetzt aber will ichs durchsetzen und fertigschreiben. – In Italien fast sechs Wochen (Ende Juli bis Anfang September) hatte ich zwar sehr schöne und genußreiche Zeiten, aber die Luft war schon so dicht mit revolutionären Miasmen erfüllt, daß mans beinahe mit Händen greifen konnte, auch die Unsicherheit sehr im Wachsen. Mich hat auch deshalb nicht gewundert, was seither geschehen ist, und auch Weiteres wird mich nicht wundern. Die enorme Unwahrheit, welche darin liegt, daß Italien eine Großmacht und ein Militärstaat und ein zentralisierter Staat sein will, muß sich auf Weg und Steg rächen. Zu der höchsten weltgeschichtlichen Ironie, die je vorgekommen, gehört doch die jetzige Lage in Rom, wo einer als freiwilliger Gefangener im Vatikan sitzt und ein anderer im Quirinal als unfreiwilliger! und eine halbe Stunde weit über die Dächer der Stadt hinweg können sie einander sehen und sprechen: Von ferne sei herzlich gegrüßet! – Wie lange die Dynastie sich noch wird behaupten können, das hängt schon nur noch von einigen wenigen Umständen ab. Man wird eben nicht sicherer, wenn man seinesgleichen verjagt und die Länder erbt!

Bei uns zulande weht, wie Sie aus den Zeitungen werden ersehen haben, ein Lüftchen der Mäßigung; und schon dies wenige desorientiert und erzürnt unsere Radikalen auf das stärkste. Wir dürfen uns rühmen, daß diesmal die sogenannte ›Reaktion‹ bei uns, und zwar schon seit Mai, begonnen hat, und Basel, das eine kleine antiradikale Majorität in den Großen Rat wählte und den Herrn X. aus der Regierung tat, hat sogar in der Schweiz eine gewisse Priorität. Dann kam eines nach dem andern, und jetzt ist sogar ein Konservativer Präsident des Nationalrats geworden. In Bern ist unter den bisher sich für allein möglich haltenden radikalen Eidgenossen lautes Schimpfen und Heulen, wie behauptet wird. Wir wollen es abwarten, wie lange und wie weit die Besserung sich erstrecken wird. Ehe und bevor mit dem etc.-etc.-etc.-Kulturkampf gründlich gebrochen wird, traue ich nicht.

Mein Wintersemester habe ich mit drei Extraabenden coram publico eröffnet, und zwar predigte ich über Talleyrand, nicht ohne auch die heitere Tonart hin und wieder zu gebrauchen, was das Publikum sehr goutiert haben soll. Aber jetzt ists genug mit solchen öffentlichen Vorlesungen; ich gehe jetzt ins Einundsechzigste und finde, daß dieser Talleyrand ein ganz passender Schwanengesang für mein öffentliches Auftreten möchte gewesen sein. Die Unruhe und die Störung in allen übrigen Studien, die man als Lecturer empfindet, ist gar zu lästig.

In Sachen ›Schöner Wissenschaften‹ weiß ich wenig Neues zu berichten; des Stuttgarter Vischers Roman ›Auch Einer‹ kann auch für Sie interessant sein, da Sie ja viele Schwaben kennen müssen. Ich weiß freilich nicht, ob gewisse sehr zivilisierte und weltmännisch gewordene Schwaben dem Autor diese Verklärung gewisser Eigenarten der ›genialen‹ Individuen des Stammes sonderlich danken werden. Man hält es heutzutage nicht mehr für sonderlich beneidenswert, als eximierter Charakter zu gelten.

Über Moritz Busch denkt sich jeder sein Teil Er hatte 1878 das zweibändige Werk: Graf Bismarck und seine Leute während des Krieges mit Frankreich, veröffentlicht.. Hat der Dominus Einwilligung oder Antrieb zur Publikation gegeben, so läßt dies auf ein Meer von Mißachtung gegen andere und Mißmut in der eigenen Haut schließen. In diesem Falle ist es auch gar nicht möglich, die Sache von der leichten Seite zu nehmen. Es gibt in gewissen Gegenden überhaupt keine ›leichte Seite‹.

Von solchen gepfefferten Sachen wende ich mich, je älter ich werde, um so lieber zu allem Harmlosen und auch zum Altgewohnten. Gestern habe ich mit wahrer Kindeswonne im Theater ›Martha‹ vom ersten bis zum letzten Tone gehört. Es sind ja wohl auch oberflächliche Partien und ordinari Gut mit darin, aber daneben manches ergreifend Schöne. Allmählich habe ich eine ganze Bibliothek von Klavierauszügen (Opern, Oratorien, Lieder usw.) um mich herum aufgetürmt und bringe damit die einsamen Abende hin, wenn ich von acht Uhr an nicht mehr arbeiten mag. Es nimmt mich Wunder, ob nicht das Wohlfeilwerden so manches Schönen (zumal durch die Ausgaben Peters) dermaleinst, wenn einer die Geschichte des Geschmackes im neunzehnten Jahrhundert schreibt, als kenntlich und fühlbar in unseren letzten zwei Dezennien wird nachgewiesen werden.

 

10. Dezember

Ich meditiere noch einmal über Ihren werten Brief vom Juli. Seither hat nun die Repression angefangen, und ich begreife vollkommen die große Verlegenheit: ›Wo soll man ansetzen?‹ – nachdem ein Jahrzehnt und mehr mit dem absoluten laisser aller und laisser faire ins Land gegangen ist. Bei uns hat die betreffende Richtung darin einen Ausdruck gefunden, daß nach auffallender Zunahme scheußlicher Mordtaten usw. im Volk, notabene in der eigentlichen Masse, eine Agitation für Wiedereinführung der Todesstrafe aufgetaucht ist, und ohne allen Zweifel kann man es durchsetzen! Wer jetzt vor Überstürzung warnt, sind unter anderm konservative und mäßig liberale Blätter, welchen vor einer Bundesrevision graut – denn ohne eine solche ginge es nicht ab.

In einer Sache haben Sie mich außerordentlich erheitert und ergötzt: die beste Schule zum Optimismus ist, eine blühende Familie vor Augen zu haben; eine solche ist gleichsam ein lebendiger Protest zugunsten des Glücklichseinwollens, und das ist ja schon ungefähr halben Weges zum Glücklichsein. Wenn man nur Onkel respektive Großonkel ist, sieht sich die Sache zwar ähnlich, aber doch schon beträchtlich kühler an.

A propos: haben Sie bemerkt, daß Nietzsche in seinem Buch Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. 1878–1880. wieder eine halbe Wendung zum Optimismus vollzieht? Leider ist sein Befinden (gänzliche Augenschwäche und ewiger Kopfschmerz mit heftigen Krisen alle paar Tage) keineswegs die Veranlassung zu dieser Änderung. Er ist ein außerordentlidier Mensch; zu gar allem hat er einen eigentümlichen, selbsterworbenen Gesichtspunkt.

Mit Kaiser habe ich vorige Woche wieder einmal geplaudert und mancherlei erfahren. An Frische und Mutwillen ist er noch ganz der alte.


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