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An Friedrich Nietzsche

Basel, 25. Februar 1874

Verehrtester Herr Collega! Indem ich Ihnen für die Zusendung des neuen Stückes der ›Unzeitgemäßen Betrachtungen‹ meinen besten Dank sage, kann ich nach raschem Durchfliegen der gewaltig inhaltsreichen Schrift nur einstweilen zwei Worte erwidern. Ich hätte eigentlich hierzu das Recht noch nicht, da das Werk sehr reiflich und allmählich genossen sein will, allein die Sache geht unsereinem so nahe, daß man in die Versuchung kommt, sogleich etwas zu sagen.

Vor allem ist mein armer Kopf gar nie imstande gewesen, über die letzten Gründe, Ziele und Wünschbarkeiten der geschichtlichen Wissenschaft auch nur von ferne so gut zu reflektieren, wie Sie dieses vermögen. Als Lehrer und Dozent aber darf ich wohl sagen: ich habe die Geschichte nie um dessentwillen gelehrt, was man pathetisch unter Weltgeschichte versteht, sondern wesentlich als propädeutisches Fach: ich mußte den Leuten dasjenige Gerüste beibringen, das sie für ihre weiteren Studien jeder Art nicht entbehren können, wenn nicht alles in der Luft hängen soll. Ich habe das mir Mögliche getan, um sie zur eigenen Aneignung des Vergangenen – irgendeiner Art – anzuleiten und ihnen dieselbe wenigstens nicht zu verleiden; ich wünschte, daß sie aus eigener Kraft möchten die Früchte pflücken können; auch dachte ich gar nie daran, Gelehrte und Schüler im engeren Sinne großzuziehen, sondern wollte nur, daß jeder Zuhörer sich die Überzeugung und den Wunsch bilde: man könne und dürfe sich dasjenige Vergangene, welches jedem individuell zusagt, selbständig zu eigen machen, und es könne hierin etwas Beglückendes liegen. Ich weiß auch recht wohl, daß man ein solches Streben, als zum Dilettantismus führend, tadeln mag, und tröste mich hierüber. In meinen vorgerückten Jahren ist dem Himmel zu danken, wenn man nur für diejenige Anstalt, welcher man in concreto angehört, ungefähr eine Richtschnur des Unterrichts gefunden hat.

Dies soll nicht eine Rechtfertigung sein, welche Sie, hochverehrter Herr Collega, ja nicht von mir erwarten, sondern nur ein rasches Besinnen auf das, was man bisher gewollt und erstrebt hat. Ihr freundliches Zitat S. 29 macht mir einige Sorge; wie ich es lese, dämmert mir auf, das Bild sei am Ende nicht ganz von mir und Schnaase könnte einmal sich ähnlich ausgedrückt haben. Nun, ich hoffe, es rückt mirs niemand auf.

Diesmal werden Sie zahlreiche Leser ergreifen, indem Sie ein wahrhaft tragisches Mißverhältnis in harte Sehnähe gerückt haben: den Antagonismus zwischen dem historischen Wissen und dem Können, respektive Sein, und wiederum denjenigen zwischen der enormen Anhäufung des sammelnden Wissens überhaupt und den materiellen Antrieben der Zeit.

Mit nochmaligem bestem Dank verharrt hochachtungsvoll

Ihr ergebenster J. Burckhardt


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