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Zürich, 17. Oktober 1855
Ihr Brief hat mich in der Seele erfreut. – So flüchtig Ihr glückliches Alter in manchen Dingen sein mag, so glaube ich doch, daß Sie die einmal erkannte Bestimmung festhalten werden: irgendeinen Zweig der höchsten Bildungsinteressen mit vorzüglicher Beziehung auf das Schöne. Sie werden noch jahrelang hasten und zappeln, so wie ein anderer keucht und ächzt, aber im ganzen, hoffe ich, sind Sie geborgen. Was noch unreif ist, wird ausgären. Bleiben Sie aber kein bloßer Kontemplator, sondern halten Sie der schaffenden Poesie das Wort, das Sie ihr im stillen gegeben haben. Möge sie all Ihrem geistigen Streben eine hell-lodernde Fackel vorantragen.
Wie viele Dinge sind es denn am Ende, die dem Leben eines modernen Menschen einen höheren Wert verleihen können? Wie ist uns in tausend Beziehungen das äußere Handeln abgeschnitten, das in andern Zeiten und unter andern Menschen die Nerven stärkt und die Organe frisch hält? Wie übel ist uns unter den großen Maschinenrädern der jetzigen Welt zumute, wenn wir nicht unserm persönlichsten Dasein eine eigentümliche, edlere Weihe geben? – Doch diese Dinge sind Ihnen wohl so klar als mir. Gegen jenen Geist des Hohns und des Widerspruches, der bisweilen mit Ihnen sein Wesen treibt, gibt es vollends gar keine bessere Hilfe als die beständige, an keinen vergänglichen Herbst gebundene dionysische Traubenkur im Weinberge – ich will nicht weiter fortfahren. Die beständige Anschauung des Schönen und Großen soll unseren ganzen Geist liebevoll und glücklich machen. Auch unser Ehrgeiz soll sich dadurch vom Stadium der Eitelkeit zur Ruhmbegier erheben. Ob wir noch über jemand siegen, soll für uns keine Lebensfrage mehr sein, wohl aber, ob wir zu Ehren des Schönen über unsere eigenen Grillen gesiegt haben.
Was ich Ihnen gegeben haben mag, das kann Ihnen nun, da Sie vorbereitet sind, ein anderer besser und in einem höheren Sinne geben, und auch in Ihren Privatstudien müssen Sie sich nun den Weg durch das Dickicht brechen, da Sie – wahrhaftig geringstenteils durch mich – gehen gelernt haben und im ganzen die Richtung wissen.
Unsern poetischen Verkehr vermisse ich gerade so sehr wie Sie. Mit all den ausgezeichneten Leuten, deren Umgang sich hier für mich eröffnet, ist mir in diesem einen Punkt nicht geholfen – weil ihnen in der Regel durch Schicksale und Überanstrengungen die eigentliche Freude an diesen Dingen genommen ist und weil sie selber nicht produzieren (meines Wissens). Die poetischen Anregungen, die hier in der Luft liegen, sind groß und bedeutend; einstweilen aber habe ich noch zu wenig Boden unter den Füßen, um ruhig an die eigene Produktion denken zu können. Und dann ist ein wissenschaftlicher Quälgeist über mir, der vielleicht auf Jahre hinaus alle meine disponiblen Kräfte in Anspruch nehmen wird, der Keim einer größeren Forschung in der Geschichte des Schönen Die Kultur der Renaissance in Italien. Basel 1860.. Ich habe diesen ›Bresten‹ voriges Jahr aus Italien mitgebracht und glaube nun, ich könnte nicht ruhig sterben, wenn ich nicht in dieser Sache mein Schicksal erfüllt habe.
Ich fasse dies recht wichtig und ziere mich nicht mit falscher Demut. Überhaupt, wenn wir einmal die Zusammenhänge mit dem Großen und Unendlichen aufgeben, dann sind wir erst recht verloren und kommen zwischen die Räder der jetzigen Zeit. (Verzeihen Sie, daß ich wieder mit dem Bild von den Rädern komme, aber es ist einmal so; andere Jahrhunderte haben das Ansehen von Strömen, Stürmen, Feuerflammen; beim laufenden, das man das 19. nennt, fallen mir immer diese verwünschten Maschinen ein.) Aber von der Freiheit dieses 19. Jahrhunderts profitieren wir doch gerne und verdanken ihr unsere objektive Betrachtung aller Dinge von der Zeder bis zum Ysop – also gemach mit den Klagen. Sie haben auch in einer Sache auf mich gehört und mich erfreut: ich meine die leserliche Handschrift. Kann ich nun in gewissen größeren Dingen auch hoffen, daß Sie der praecepta magistri eingedenk seien? Sie wissen schon, daß ich auf die klassische Literatur hindeute. Es ist kein bloßer Aberglaube von mir. Nun Addio.