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Berlin, 19. Juni 1842
... Lieber Junge, Du bist Philosoph geworden und wirst mir gleichwohl folgendes müssen gelten lassen: – Ein Mensch wie ich, der durchaus der Spekulation unfähig und zum abstrakten Denken auch keine Minute im Jahr aufgelegt ist, tut am besten, wenn er die höheren Fragen seines Lebens und seines Studiums sich auf die Weise klarzumachen strebt, welche ihm am nächsten liegt. Mein Surrogat ist eine täglich mehr auf das Wesentliche gerichtete, täglich sich schärfende Anschauung. Ich klebe von Natur am Stoff, an der sichtbaren Natur und an der Geschichte. Aber es ist mir durch unablässiges Parallelisieren der Fakta (was in meiner Natur liegt) gelungen, mir manches Allgemeine zu abstrahieren. Über diesem mannigfaltigen Allgemeinen schwebt, ich weiß es, ein höheres Allgemeines, und auch diese Stufe werde ich vielleicht ersteigen können. Du kannst gar nicht glauben, wie durch dies vielleicht einseitige Streben nach und nach die Fakta der Geschichte, die Kunstwerke, die Monumente aller Zeiten als Zeugen eines vergangenen Entwicklungsstadiums des Geistes Bedeutung gewinnen. Glaube mir, es erregt mir oft einen ehrfurchtsvollen Schauer, wenn ich in der Vergangenheit die Gegenwart schon deutlich daliegen sehe. Die höchste Bestimmung der Geschichte der Menschheit: die Entwicklung des Geistes zur Freiheit, ist mir leitende Überzeugung geworden, und so kann mein Studium mir nicht untreu werden, kann mich nicht sinken lassen, muß mein guter Genius bleiben mein Leben lang. –
Die Spekulation eines andern würde mich, auch wenn ich mir sie aneignen könnte, nie trösten, noch weniger fördern. Ich werde von ihr berührt als von dem Geiste, der in der Luft des 19. Jahrhunderts herrscht, ja ich werde vielleicht unbewußt von einzelnen Fäden der neuern Philosophie geleitet. Laß mich auf diesem niedrigen Standpunkt, laß mich die Geschichte empfinden, fühlen, statt sie von ihren ersten Prinzipien aus zu erkennen. Es muß auch solche Käuze geben, wie ich bin. Der unendliche Reichtum, der mir durch diese niedrige Form des unmittelbaren Gefühls zuströmt, macht mich schon überglücklich und wird mich, wenn auch in unwissenschaftlicher Form, doch wohl einiges leisten lassen, was vielleicht selbst die Philosophen brauchen können.
Du wirst sagen: Die Spekulation gehöre zu diesem meinem Treiben als eine zweite, wichtigere Hälfte. – Vielleicht greift sie mir später einmal unter die Arme, wenn ich nicht mehr mit dem Bisherigen zufrieden bin und vom Himmel die schönsten Sterne begehre. Mit Dir will ich gerne immer von solchen Dingen sprechen, weil Du mich lieb hast und nicht gleich mit stolzem philosophischem Naserümpfen von dannen läufst, sobald einer sich nicht gut hegelisch auszudrücken weiß. Du siehst, daß ich die Spekulation als eine der höchsten Äußerungen des Geistes in jeder Epoche verehre; ich suche nur, statt sie selbst, ihre Korrelate in der Geschichte. Ich habe mir unlängst eine kurze Übersicht der Philosophie der Geschichte für die sechs letzten Jahrhunderte angelegt und werde das auch für die älteren Zeiten tun; dann erst (jedenfalls noch diesen Sommer) nehme ich Hegels Geschichtsphilosophie vor; ich will sehen, ob ich etwas davon verstehen kann und ob es paßt. Es ist nur schade, daß mein Geist bei aller Ungebundenheit nicht größer, freier angelegt ist. –
Die Geschichte ist und bleibt mir Poesie im größten Maßstabe; wohl verstanden, ich betrachte sie nicht etwa romantisch- phantastisch, was zu nichts taugen würde, sondern als einen wundersamen Prozeß von Verpuppungen und neuen, ewig neuen Enthüllungen des Geistes. An diesem Rande der Welt bleibe ich stehen und strecke meine Arme aus nach dem Urgrund aller Dinge, und darum ist mir die Geschichte lauter Poesie, die durch Anschauung bemeistert werden kann. Ihr Philosophen dagegen geht weiter, euer System dringt in die Tiefen der Weltgeheimnisse ein, und die Geschichte ist euch eine Erkenntnisquelle, eine Wissenschaft, weil ihr das primum agens seht oder zu sehen glaubt, wo für mich Geheimnis und Poesie ist. – Ich möchte es gern deutlicher sagen können; Du merkst vielleicht, was ich meine. – Du fragst mich in Deinem Briefe so liebevoll aus über einen wehmütigen Trübsinn, der in meinem Schreiben sichtbar sei. – Es war gewiß nichts Äußeres, was mich verstimmt hatte, denn dergleichen stört meine Laune nur selten. Aber betrachte mich als einen lernenden, strebenden Künstler – denn auch ich lebe ja von Bildern und Anschauungen –, und denke Dir die Melancholie, die bisweilen die Maler auf lange Zeit befällt, bloß weil sie dem, was in ihrem Innern erwacht, keine Gestalt geben können, – so wirst Du Dir erklären können, weshalb auch ich bisweilen traurig bin, so fröhlich sonst mein Gemüt ist...
Meine Hauptwünsche sind: Komm nach Berlin, nimm teil an meinem Geschichtsjubel, habe Geduld mit einem, der auf nicht philosophischen Bahnen wandelt, und laß uns fest zusammenhalten gegen alle frechen und feinen, äußern und innern Lügen. Ich habe eine frohe Ahnung, daß das beste Stück unsers Umganges noch bevorstehe.
Nun adieu, lieber Herzensjunge, behalte lieb Deinen getreuen
Burckhardt