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Die Kugel, die sein irdisches Geschick besiegelte, kam in Windeseile auf den dunklen Flügeln der Nacht. Blitzschnell, lautlos, und ohne Schmerzen zu verursachen, durchschlug sie die Brust des laufenden Menschen, dicht über dem Herzen, und grub sich in den Stamm einer Föhre, mit einem kurzen, klatschenden Anschlag, der in den gräßlichen Geräuschen des nächtlichen Kampfes verloren ging.
Der Getroffene merkte seine Verwundung erst, als er sich nach einem Sprung aufrichtete und sein tiefer Atemzug in ein erstickendes Röcheln überging und sein Wund sich mit Blut füllte. Er stand einen Augenblick unbeweglich, mit furchtbarer Anstrengung prüfte sein Geist das unfaßbare Wesen dieses Ereignisses, mit schmerzhafter Hellsichtigkeit und so klar, als überwältigte ihn das große, das einzige Schicksal seiner Befreiung von den irdischen Fesseln des Leibes. Dieses Schicksal, das ihn ahnungsvoll bald fern, bald nah, nun schon länger als ein Jahr ohne Aufhör beschäftigte, nun kalt und unfaßbar, ein Grauen vor der Finsternis, in die die Kameraden stumm hinabsanken, nun wie ein heiliger Leidensgruß unvergänglichen Ruhms, zugleich traurig und erhaben.
Der junge Mensch suchte mit der linken Hand Halt in der dunklen Luft, seine rechte wurde ihm durch die Waffe niedergezogen, dann ließ er sich sinken, es sah kaum aus, als fiele er, sondern es hatte den Anschein, als wisse er, daß es jetzt keinen anderen Halt mehr für ihn gab als den Boden der Erde. Ihm vertraute er sich an. Ich werde niemals wieder aufrecht stehen, niemals mehr umhergehen, dachte er und lächelte hilflos, aber ohne Groll oder Traurigkeit. Es erschien, als sei es ihm unaussprechlich peinlich, plötzlich arm und hilflos geworden und seiner Pflicht entzogen zu sein. Er blieb liegen, wie er gesunken war, den Kopf gegen einen Erdhügel des Waldbodens gestützt, ein wenig erhoben.
Die ungeheuren blauen Schwerter der Scheinwerfer durchschnitten den trüben Himmel, suchten drüben die Hänge ab, glitten hin und her und zauberten wunderbare Bilder der Landschaft in den dunklen Mantel der Nacht. Leuchtkugeln erhoben sich stürmisch am Horizont wie stumme, leidenschaftliche Rufe, die hoch am Ziel wehmütig ermüdeten, niedersanken und im Bereich der Erde erloschen wie in einem schwarzen Meer. Nun erstarrte ein zorniger, kalter Lichtkegel an einem Abhang, und das böse Hämmern der Maschinengewehre erfüllte die Luft, als pochten grimmige Riesen, rasend vor Zorn, an den Pforten der Hölle. Dieses Knattern war ihm von Beginn aller Kämpfe ab, an denen er teilgenommen hatte, der schrecklichste Kriegseindruck gewesen, es erschütterte die warme Menschenbrust mit seinem eisernen, mechanischen Willen zu töten wie kein anderer Laut. Selbst das Dröhnen der schweren Geschütze erschien nachsichtiger und nahbarer als dies eifrige Todeshämmern. Oft war es unfaßbar nahe von einer Felswand widergeklungen, als schwebte es gebannt in der Luft, dann wieder trug der Wind es aus der Ferne her, wie das arglose Schnarren einer Kinderknarre. Aber stets weckte diese hastige Stimme in ihm die Vorstellung eines unerhörten Triumphs des Todes, und ihm war oft, als sähe er ihn dabei von Gestalt, wie er hochbeinig und rasch über die verwüstete Landschaft schritt.
Es wurde ruhiger in der unmittelbaren Nähe des Sterbenden. Hatte nicht eben ein Kamerad ihn angerufen, der an ihm vorbeigeeilt war? Ein wenig rauh, mit einem atemlosen, heiseren: »He, Kamerad, was ist … bleibst du liegen?« Ja, ich bleibe liegen, dachte er als Antwort, die er nicht mehr sprach, und der dünne Blutbach lief ihm eilig aus dem Wundwinkel. Wie teilnahmsvoll diese Stimme bei ihrer Rauheit geklungen hatte, die Brüderlichkeit dieser Tage drang durch jeden Laut, durch jedes Schelten und Poltern, so wie auch der Frühling sich an den kältesten Tagen nicht verleugnen kann. Überall sind ein gemeinsames Erleiden und eine gemeinsame Hoffnung in der Luft, er kann auch in stürmischen Stunden sein Wesen einer neuen Lebensoffenbarung nicht verbergen. Bliebe es doch immer so, dachte der Sterbende, und dieser Gedanke verband sich ihm seltsam, wie in einer hellseherischen Hoffnung, mit dem heimlichen Grund seines Leidens.
War es denn der Frühling, an den er jetzt dachte? Wie hatte diese mächtige und zugleich grausame Erneuerung seiner Sinne begonnen, die ihn bis hierher geführt hatte, bis unter die Bäume des nächtlichen Waldbodens, auf dem er verblutete? Tag für Tag hatten eine schmerzhafte Ungeduld der Erwartung ihn bewegt und ein Bewußtsein edlen Ehrgeizes. Sie waren oft unter Ungemach, Sorgen und der Not des Leibes verschüttet worden, aber nun herrschten sie ohne Hemmung. Und doch war es nicht dies allein gewesen. Was hat mich geführt und so tief erschüttert, grübelte er mit schwindelnden Sinnen, was hat mich auf inbrünstigere Art erhoben, als ich jemals Erhobenheit empfunden habe?
Die barmherzige Nacht zog zu ihm ein und in der Stille, die in ihm herrschte, trank der Boden sein Blut. Wie in einer Traumerinnerung erstand ihm jählings noch einmal das feurige, düstere Nachtbild seines Sterbens. So war dies das Angesicht, das ihm die Erde beim Abschied zeigte, die Erde, die er grün und heiter erblickt hatte, arglos und in jener Kindschaft der Sinne, die der Krieg fortfegt wie ein Sturm Blüten.
Nach kurzer Frist, nahe bevor die Helligkeit des Tages anbrach, kam der Sterbende noch einmal zu vollem Bewußtsein. Es ergeht dem menschlichen Geist im Tode bisweilen wie der Sonne nach einem grauen Tag. Nahe am Horizont, dicht vor ihrem Untergang, bricht sie noch einmal in ihrer ganzen Klarheit hervor und erscheint siegesgewisser und machtvoller, als nach manchem unbewölkten Tag. In einem Gefühl seltsamer Lebensleichtigkeit öffnete er seine Augen und sah den bestirnten Himmel zwischen den Zweigen der Bäume, in seiner geheimnisvollen Herrlichkeit. Der Wind seufzte und in seiner Nähe erklang ein rufendes Stöhnen, immer in kleineren Abständen, wie der Atem kam und ging. Die Töne vermischten sich in der Dunkelheit, als wären es jene geheimnisvollen Laute der Auferstehung und des Dahinsinkens, wie sie die Natur im hereinbrechenden Frühling erfüllen.
Ich sterbe im Grunde nicht für die Güter, die ihr preist, dachte er, wie in einem Traum, nicht für die Interessen der Parteien, nicht für die Wohlfahrt der Lebenden, für kein vergängliches Gut, sondern ich sterbe, weil in meiner Brust der Wunsch lebendig war, mich restlos und ohne Schranken für etwas Großes dahinzugeben. Ich sterbe, weil ich den tatlosen Alltag im Grunde meines Herzens verachtet habe und die Niedrigkeit eines gleichmütigen Dahinlebens, ohne Adel, ohne Hoheit. Ich und alle, die mir in das Grab ihrer Jugend vorangegangen sind, wir haben als Söhne dieses oder jenes Landes gelebt oder gewirkt, aber sterben kann ein jeder nur als Mensch. Nennt Ihr Lebenden euch mit Stolz und Leidenschaft die Söhne eurer Völker oder eurer Nationen, uns Vollendete ehrt nur der Name Brüder. Wir fragen nicht danach, wer Sieger geblieben ist, denn wir haben gesiegt.
Mit der hereinbrechenden Morgendämmerung fanden die Kameraden den Toten am Waldrand. Als sie ihn aufhoben, stand wie im Licht der heraufbrechenden Sonne ein Glanz in dem wächsernen Gesicht, wie die Gewißheit einer tiefen Beruhigung. Sie schauten sich ohne zu sprechen an, in ihrer einfachen, leidgewohnten Trauer, als begriffen sie dieses Licht, dessen himmlischer Widerschein über dem Grauen aller Totenfelder liegt. Er ruht dort wie die Ahnung einer verborgenen Rechtfertigung der furchtbaren Willkür des Krieges, an dem niemand Schuld trägt, als das Wesen des Menschen.