Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Als die ersten wärmeren Strahlen der Februarsonne in Anneliesens Dachkammer fielen und draußen die Sperlinge im Tauschnee schrien, öffnete das junge Mädchen das Fenster, nahm die kleine Zauberin an ihre Lippen und blies eine Melodie darauf, just wie sie ihr eben in den Sinn kam. Weder diese Melodie noch die kleine Mundharmonika waren etwas Außerordentliches, solch ein Instrument erhält man überall für ein paar Groschen, und gebildete Leute hätten wahrscheinlich für die Melodie auch nicht viel mehr gegeben. Das muß hier gesagt sein, damit niemand glaubt, es handele sich um etwas Besonderes.
Es muß alles zusammen gekommen sein, daß von diesen paar Tönen eine Wirkung ausging, die Lippen des Mädchens, ihr goldenes Haar, die Augen darunter, blauer als der Himmel über den Dächern und die Stimmen der Sperlinge, die irgend etwas vom Frühling in ihrem Ton hatten, etwas von offenen Fenstern und warmen Luftzügen. Sicher ist, daß alles um vieles hoffnungsvoller und feierlicher erschien, niemand empfand dies deutlicher als Anneliesens Freund, der im Zimmer saß und ihrem Spiel zuhörte und ihre feine Gestalt betrachtete, wie der Morgensonnenschein einen Lichtrand um ihr Haar und um ihre Schultern legte.
Das ist eine Sache, solch eine Mundharmonika, dachte er, nahm das Instrument und schob es in die Tasche, als das Mädchen mit ihrem Spiel aufhörte. Sicher glaubte er, damit alles mitzunehmen, was er soeben erblickt hatte.
»Willst du sie haben?« fragte ihn Anneliese, und als er nickte, freute sie sich darüber, ihrem Freund ein Geschenk gemacht zu haben, sie hatte schon lange die Empfindung, noch niemals etwas Rechtes gegeben zu haben, wie es Leuten vorkommen kann, die in der Unschuld ihres Reichtums nicht ahnen, daß sie auch ohne Geschenke das ganze Glück eines anderen ausmachen.
Der junge Mann mußte am gleichen Tag die Stadt verlassen und bestieg in der Abenddämmerung einen Zug, der an die Grenze fuhr und voller Soldaten war, die ins Feld hinaus sollten. Er hatte über vielerlei Beschäftigungen des Tages die kleine Mundharmonika vergessen, aber als er nun, da der Zug sich in Bewegung setzte, nach seinem Feuerzeug suchte, um seine Pfeife anzuzünden, fühlte er einen harten Gegenstand in seiner Tasche und zog ihn hervor. Das trübe Licht des Eisenbahnwagens spiegelte sich in dem billigen Blech, die Lackfarbe der Holzleisten war schon brüchig. Mein Gott, dachte er, was soll ich mit dem Ding? Solch eine Mundharmonika muß im Besitz eines Menschen sein, der darauf spielen kann. Hierin hatte er recht, denn er war unmusikalisch und zudem mit Angelegenheiten beschäftigt, die erheblich über eine Mundharmonika hinausgingen.
So wandte er sich an einen bärtigen Landsturmmann, der ihm gegenüber in einer Ecke lehnte und hielt ihm das Instrument hin.
»Vielleicht können Sie es draußen brauchen, oder irgend jemand …« fragte er, nicht ohne Befangenheit und etwas schüchtern, wie man es zuweilen findet, ohne daß man deshalb allzu rasch auf Bescheidenheit schließen darf. Aber der Landsturmmann sah nur die Mundharmonika, er griff ohne viel Umstände zu, lächelte herablassend und sagte:
»Gib nur her.« Wer nähme nicht gern eine Tasche voll Musik.
Er setzte sie gleich an seine Lippen, so daß sein struppiger Bart sie fast ganz verdeckte wie Seegras eine Strandmuschel. Aber die Töne, die unter seiner Hand hervordrangen, waren alles andere als rauh, es waren ein wenig wehmütige, aber feine und süße Klänge eines Volksliedes, und unter ihnen füllte sich der unwirtliche Raum mit seinen kahlen Wänden mit einer seltsamen Feierlichkeit. Niemand sprach mehr laut, sogar ein alter Herr, der eigentlich in der zweiten Klasse hatte fahren wollen, ließ seine Zeitung sinken und schaute über seine Brille auf den Kanonier, der Mundharmonika blies. Draußen zog in gelinder Eile das schlummernde Land in der Dämmerung vorüber, und es war nicht mehr, wie eben noch, Acker, Wiesen und Wälder, sondern es war das Vaterland. Besonders die Soldaten dachten es, als die kleine Zauberin ihre Stimme erschallen ließ. Seltsam, sogar der eintönige Takt der Räder auf den Schienen schien sich der Melodie anpassen zu wollen. Alle sahen einander freundlicher an, und die Gedanken der Menschen, die in den Krieg hinaus mußten, wanderten ihrem Ziel in einer ganz neuen Erhobenheit entgegen. Ihr Geschick erschien ihnen gut und ihr Los voller Ehren.
Nun hielt der Zug und der Landsturmmann nahm das Instrument vom Mund. Es war, als würden bunte Bilder ringsumher ausgelöscht, und man merkte, wie trüb die Lampen in dem engen Wagen brannten, draußen zog nun auch schon die Nacht herauf. Der Herr, der sich im letzten Augenblick doch für die dritte Klasse entschlossen hatte, räusperte sich und packte ein Butterbrot aus.
Der alte Soldat wischte sein Instrument am Rock ab, wie Kinder es mit einem angebissenen Apfel machen, der in den Straßenstaub gefallen ist, und schob es in seinen Rucksack. »Besten Dank«, sagte er zu dem Geber, der es nicht deutlich hörte, weil seine Gedanken bei dem offenen Fenster einer Dachkammer weilten, bei den schreienden Sperlingen und beim Glanz der Morgensonne. Nun ja, jetzt hatte er sie fortgegeben, die Harmonika. »Bitte«, sagte er nachträglich, denn ihm war, als habe er vorhin etwas wie ein Dankeswort gehört.
Aber die Mundharmonika blieb nicht lange im Besitz des alten Soldaten, er schenkte sie eines Tages draußen im Feld einem blutjungen Infanteristen, der von der Schule fort in den Krieg gestürmt war, als hinge das Heil des ganzen Reiches von den Taten seiner jungen Seele ab. Ich muß erwähnen, daß bereits einer der tiefen Töne des Instrumentes völlig versagte, weil der alte Kanonier, besonders wenn er einen Marsch blies, viel zu entschieden vorgegangen war. Es sind nun einmal Barbaren, diese Deutschen.
Aber das Zauberreich des kleinen Instruments nahm von diesem Tage ab an Macht zu, es schien, als verbände sich sein Weg in den Krieg mit der Absicht einer heimlichen Güte, dies muß gesagt werden, denn eigentlich handelt es sich hier nur um die Schicksale einer Mundharmonika. Es war wunderbar, wie ihre singende Seele nun in den Gemütern der Männer im Schützengraben und hinter den Festungswällen Gestalten und Bilder hervorzauberte, die ihren Wert und die unscheinbare Schönheit ihres Klanges weit übertrafen. In jedem Gemüt war es ein anderes Bild, die Soldaten sahen alles, was sie liebten und zurückgelassen hatten, Wälder und Städte tauchten auf, laute Straßen und heimliche Stuben, sonnige Wege am Fluß und stille Dörfer in den Bergen. Auch waren es blonde, stürmische Kinderköpfe, oder die verweinten Angesichter mütterlicher Frauen, und die Soldaten begriffen, daß die Trauer in diesen Zügen ihr ganzes Glück war. Einmal blieb sogar ein Offizier stehen und lauschte. »Es ist etwas Eigenes um die Musik«, meinte er, und das will viel heißen, wenn ein Offizier es sagt.
Jedoch das Geschick fügte es, daß der neue Besitzer der Mundharmonika bei einem Sturmangriff gegen die verschanzten Stellungen des Feindes fiel. Er wurde am Morgen an einem Waldhang gefunden, die Hände um das Gewehr und die Stirn im Moos. Das ist das Los der Tapferen, die für ihr Vaterland kämpfen, und sie hätten ihn ruhig zu den gestorbenen Brüdern seiner Ehre gebettet, wenn nicht ein Kamerad gerufen hätte:
»Das ist ja Michael, der Harmonika gespielt hat …«
Und über der Erinnerung an das kleine Instrument zögerten die Kameraden, die ihn aufhoben, einen Augenblick, und sie schienen auf eigene Weise zu begreifen, daß diese verblichenen Lippen sich niemals mehr öffnen sollten. Einer von ihnen dachte: Wer hofft in der Heimat wohl, daß dieser Mund ihm wieder entgegenlacht, wem wird es das Herz brechen, daß er verstummt ist?
»Wo hat er denn die Harmonika?« fragte einer, aber ein anderer meinte, die müsse man ihm lassen. So ließ man sie ihm, und sie kam mit dem Toten unter den Rasen. Schließlich versagte ja ohnehin ein Ton, wenn es auch einer von den tiefen war, die man bei den alltäglichen Melodien für gewöhnlich nicht braucht.