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Als der große deutsche Krieg ausgebrochen und unabwendbare Tatsache geworden war, kündigte meine Tante ihre Wohnung, um eine andere, sehr entlegene zu beziehen, die weit vom Bahnhof entfernt lag, denn sie vermutete täglich die Ankunft des Feindes. Ich versuchte vergebens ihr klar zu machen, daß sie im Herzen Thüringens so gut wie sicher sei, und daß überhaupt der Bahnhof keine Rolle spielen würde.
»Es ist auch eine Wirtschaft hier unten im Haus«, antwortete sie mir und betrachtete mich aufmerksam, ob ich es jetzt noch wagen würde, etwas gegen sie anzuführen. »Die Feinde werden die Wirtschaft aufsuchen, um sich zu betrinken.«
Ich habe einen Einwand versucht.
»Kennst du die Russen, kennst du etwa die Russen?« Meine Tante hielt beim Einpacken inne und ihre Reisetasche sah aus wie eine riesige grüne Kröte, die das Maul aufriß. Sie war außen über und über mit kleinen Glasperlen bestickt und trug die Inschrift: »Gute Reise!« Auf der anderen Seite stand: »Auf Wiedersehen!«
Ich kannte natürlich die Russen nicht so, wie sie es zur Vorbedingung ihres Vertrauens zu mir machte, und sie schaute fort, als habe sie vor, niemals im Leben wieder auf etwas einzugehen, was ich sagte.
»Steh nicht im Wege,« rief sie, »du stehst im Wege! Weshalb bist du nicht bei den Soldaten?«
»Man hat mich vorläufig noch nicht gewollt, Tante.«
»Siehst du! Siehst du es jetzt! Du bist zu dürr, mager bist du … Hast du nicht vorgebracht, daß du Verwandte hättest, für deren Schutz du einstehen müßtest? Ich rede nicht von mir … hast du es gesagt?«
»Nein, Tante, so etwas ist beim Militär ausgeschlossen.«
Sie richtete sich auf und wurde so groß, wie ich es vorher nicht beobachtet habe, dabei stand sie merkwürdig still, und die Tasche unten am Boden schnappte zu. Es war jetzt eine entscheidende Aussage zu erwarten, aber bisweilen unterlassen die Menschen sie dann doch, wahrscheinlich, weil ihnen die Aussicht zu überzeugen zu gering erscheint. So sagte auch meine Tante nur:
»Heutzutage, natürlich!« Sie wurde wieder etwas kleiner und fuhr fort: »Dazumal, als mein Vater noch lebte, war es ganz anders in Preußen, mein Bursche, da hatte unsereiner ein Wort mitzureden, und man sorgte beizeiten dafür, daß die Feinde sich nicht derartig ansammelten. Die Japaner sind sicher schon in See gestochen, und wenn sie bis Celle vordringen, wo Toni wohnt, so werde ich es nicht überleben. Gib mir meine Brille … auf der Fensterbank, du findest nie etwas. Es ist ein wahres Glück, daß man sich wenigstens auf die deutsche Einigkeit verlassen kann, bei meiner letzten Reise nach Berchtesgaden haben die Bayern den besten Eindruck auf mich gemacht. Aber die Russen, mein Gott, war denn das nötig? So sieh im Nähkorb nach! Meinst du, ich könnte weiterpacken, wenn ich nichts sehe? Du irrst, wenn du das glaubst! Bei solchem Ungeschick sollte man sich nicht zu den Soldaten drängen. Da werden entschlossene Leute gebraucht, Männer!«
»Gewiß, Tante, gewiß …« sagte ich. Ich kann nun einmal nicht leiden, wenn man mich mit Bursche anredet.
»Was heißt das, gewiß?« antwortete sie. »Wenn du widersprechen willst, so tu es offen, freimütig. Wäre mehr Offenheit in der Welt, so würde der Krieg überhaupt vermieden. Dieser abscheuliche Krieg! Wozu erinnerst du mich bei jeder Gelegenheit daran?«
Wir mußten jetzt erst den Schlüssel der Reisetasche suchen, denn sie war ins Schloß gefallen, was bei älteren Taschen dieser Art bisweilen vorkommt, besonders wenn der Mechanismus bereits etwas abgenutzt ist. Er fand sich nirgends, worunter die Gesinnung der russischen Diplomaten auf das empfindlichste zu leiden hatte. Endlich sagte meine Tante zu mir:
»Er liegt drin, jetzt weiß ich es, in der Tasche!«
Und nun kamen die Franzosen dran! Mein Gott, ich sage niemand gern etwas Böses nach, aber meine Tante ging zu weit. Auch die Franzosen sind Menschen, man sollte es sich hin und wieder ins Gedächtnis rufen, besonders solange man nicht einberufen ist. Wenn ihr wenigstens die Engländer in den Sinn gekommen wären, bei unserer Auswahl an Feinden wäre es gut möglich gewesen, aber sie sprach nicht gern von England, weil sie vor vielen Jahren vor Rügen einmal seekrank geworden war.
Wie erregt meine Tante war! Es würde auch einem feineren Beobachter, als ich einer bin, sehr schwer gefallen sein, mit Sicherheit zu ergründen, wie weit der verlorene Schlüssel oder der verlorene Landesfriede Anlaß zu ihrer Verstimmung gaben. Sie ließ sich endlich auf einem Sessel nieder und faltete ihre alten Hände, die zart und schwach und in einer rührenden Schönheit der Lebensmüdigkeit aus den feinen Spitzenkrausen hervorschauten. Wehmütig schüttelte sie ihr liebes weißes Haupt über das junge Deutschland.
»Ich habe es immer vorausgesagt«, erklärte sie mir in jener resignierten Überlegenheit, die das Alter so leicht haben kann, das das Gewicht und den Ernst seiner Jahre und zugleich seine ganze Machtlosigkeit empfindet: »Früher war alles anders. Wie kann den Nachbarn so etwas gefallen, wie ihr jetzt seid? Nicht mit den Ellenbogen, mit den Herzen gewinnt man die Welt. Ich will nicht von den Büchern reden, die du hin und wieder draußen auf dem Flurspiegel liegen läßt. Als ich kürzlich bei Bernheimer Rüschen umtauschen wollte, sagte mir der neue junge Mann, jetzt seien sie abgeschnitten, und ich müßte sie behalten. Da habe ich gefühlt, dieser Geist nimmt kein gutes Ende, es wird geradezu zu Katastrophen kommen …«
»Aber bedenke, Tante, war die Zeit Friedrichs des Großen die einer besonderen Rücksichtnahme? Oder erinnere dich an 1813.«
Ich merkte sogleich, daß ich einen Fehler begangen hatte.
»Ich – an 1813? Was willst du damit sagen?«
Ich hatte nichts damit sagen wollen.
»Nun, siehst du,« sagte meine Tante herablassend, »damit wirst du meine Besorgnisse nicht widerlegen. Wer wird sich gegen eine ganze Welt auflehnen? Ich kann mich nicht damit abfinden, daß das alles aufs Spiel gesetzt werden soll, um das wir so viele Jahre gesorgt und gearbeitet haben.«
Und während das alte Fräulein, die über ihrem Herzeleid und der Verwirrung ihrer argen Erfahrungen die Sorge ihres Umzugs für eine Weile vergessen hatte, mich in Ermahnungen und allerlei Urteilen an ihrem Kummer teilnehmen ließ, wanderte mein Auge durch den verblichenen Glanz ihres altmodischen Zimmers. Auf dem Mahagonischrank tanzten die Porzellanfigürchen ihr Menuett, das verblaßte Gold der Bücherrücken blinzelte schläfrig hinter den Scheiben der Schränke, und die alte Sonne schien in diesen Zieraten und Schnörkeln so heimisch zu sein, wie die winzige Haarlocke im ovalen Rahmen einer zierlichen Profilsilhouette, die die Erinnerung an einen Toten bewahrte.
Und plötzlich begriff ich das heilige Recht dieses Widerspruchs, das bange und doch so eigenwillige Verharren im Machtbereich des Vergangenen. In seinen Kräften sah ich den Ursprung und die alte Heimat der unseren, und mir war zumute, als könnte unser Dank niemals groß genug sein gegen die Beständigkeit, die edle Beschränkung und den Willen zum Recht, die uns alles bewahrt haben, was heute unser Feuer mächtig macht.
Da scholl von der Straße her Singen herauf, Soldaten zogen vorüber. Meine Tante richtete sich auf, schob ihr Häubchen zurecht und trat ans offene Fenster. Die Oktobersonne fiel in ihr weißes, dünnes Schläfenhaar und vergoldete es, als wollte sie ihm den Glanz der längst versunkenen Jugend zurückgeben, und in der Neigung ihrer müden, zarten Schultern lag etwas unbeschreiblich Ergreifendes. Draußen sangen die Soldaten, aus tiefster Brust brauste das kecke, mächtige Lied empor, und die Straße dröhnte unter den schweren Stiefeln, die den Boden stampften, wie die Fäuste die Kolben der Gewehre hielten. Wie ein Sturm von Kraft und Jugend scholl es zu uns herauf. Mir war, als ginge eine Erschütterung durch den gebrechlichen Körper des alten Fräuleins, das im Rahmen des Fensters lehnte, als erzitterte ein welkes Blatt des alten Jahres im Frühlingssturm des neuen.
Als der Gesang draußen verklungen war, wandte meine Tante sich um und trocknete sich die Augen, aber sie konnte ihrer Bewegung nicht gebieten und brach in ein heißes, stilles Schluchzen aus, wobei sie mir unwillig zuwinkte, als sei ich überflüssig, als verstünde ich sie nicht und störte sie. Aber während es mir mit einer gebogenen Stricknadel gelang den Koffer zu öffnen, dachte ich mir mein Teil, aber ich hütete mich wohl, es zu äußern. Du machst sie in deinem Kopf nicht mehr mit, die neue Zeit, mit ihrer Kraft, ihren Schrecken, ihrer Wucht und ihrem zornigen Willen, dachte ich, aber wie ist es mit deinem Herzen? Es geht immer noch wie einst unsern Weg und unsere Hoffnung …
»Der Koffer ist auf, Tante«, sagte ich zu ihr.
Sie hob den Kopf, trippelte herzu und schob rasch ein kleines Kissen vom Lehnstuhl in sein verrostetes Maul, damit das Unglück sich nicht wiederholen möchte. Auf dem Kissen stand: »Ruhe sanft!«
»So seid ihr,« sagte sie unwillig, »daran denkst du nun, während ich an Deutschland gedacht habe und an die Soldaten. Ach, ich kenne es schon so lange … hoffentlich passiert nichts, ich begreife nicht, wie die Leute sich auf einen solchen Krieg einlassen konnten. Nun, verlier nur nicht gleich den Mut, mein Bursche, es wird schon gehen.«
Das war in einem sehr wohlwollenden Ton gesagt, wahrscheinlich wegen des Koffers, aber wozu immer dieses »Bursche«, ich weiß nicht …