Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Das war einmal eine Nacht! Eigentlich war es den ganzen Tag nicht recht hell geworden, aber die volle Trostlosigkeit des trüben Regentags legte sich mir doch erst auf die Seele, als ich gegen Abend das dämmrige Coupé bestieg, in dem ich die Nacht zuzubringen hatte. Es war ein niedriger Kasten und ohne Licht, harte Bänke und unsichere Scheiben und seltsame Gäste.
Langsam rollte der Zug aus der Halle des Bahnhofes; da es darüber noch einmal für eine Weile heller wurde, konnte ich meine Mitreisenden betrachten, und ich tat es zwei Stunden lang, bis alles schwarz war. Der Wagen war in vier Abteilungen eingeteilt, der Gang war in der Mitte. Mir gegenüber schlief ein bosnischer Soldat, und die Abteilung neben uns bewohnte eine uralte Frau, die ihre Zeit mit Essen zubrachte, ohne hierbei die geringste Unterbrechung zu dulden. Da sie im Laufe ihres Daseins ihre Zähne eingebüßt hatte, erhob sie beim Kauen ihr Kinn bis zur Nase, diese Bewegung verkleinerte und vergrößerte ihr Profil ununterbrochen um die Hälfte, es hing in der Scheibe des trüben Abends und war prächtig zu beobachten. Das nebenanliegende Abteil, das nur durch die niedrigen Lehnen der Holzbänke von uns getrennt war, wurde von einem kleinen, buckligen Mann bewirtschaftet, der von allen vier Plätzen Besitz ergriffen hatte und keinen Augenblick Ruhe gab. Offenbar reiste er zum erstenmal im Leben und suchte diese Beschäftigung gründlich zu erlernen.
Er nannte eine seltsame Einrichtung sein Eigentum, die man mit Wohlwollen etwa für eine Reisetasche hätte erklären können, es war ein eigenartiges Gemisch von einem Rucksack und einer Geldbörse, aber größer als er. Bisweilen stieg er auf den Rand des Abgrundes, tauchte, kam wieder empor und hielt nicht ohne Triumph einen Gegenstand in die Luft. Einmal war es eine Rübe, einmal ein Pfeifenkopf, endlich eine Arzneiflasche und ein Kalender. Bucklige haben für gewöhnlich solch eigentümliche Dinge im Besitz.
Der Regen trommelte ununterbrochen auf das Wagendach, und der Zug hielt, wo irgend es sich einrichten ließ. Dann schritt ich wohl zuweilen die endlose Wagenreihe entlang. Alles war dunkel. Aus den letzten Wagen hatten zu Anfang noch Soldatengesänge geklungen, in mancherlei Sprachen, nun war es finster und still. So schlaft ihr, dachte ich, möchten Lichtgestalten des Friedens unter euern geschlossenen Lidern zu euch kommen und mit euch reden! Gestalten der Heimat, helle, liebliche Gruppen.
Auf den Stationen standen ungehobelte Brettersärge, zwischen Trümmern und Ruinen brannte eine grelle Stichflamme über feuchten Papieren, das war das Bureau des Bahnvorstandes. Am Brunnen, trüb beschienen, las man in drei Sprachen die Aufschrift: »Nicht trinken!« Dann ging es wieder in die Nacht hinaus, durch das nasse Land voller Gräber.
Ich tastete mich auf meinen Platz. Vom Buckligen war nicht viel zu sehen, er suchte etwas in seiner Tasche. Ein merkwürdiger Reigen, den er aufführte, unterrichtete mich, daß er gefunden haben mußte, was ihm im Sinn lag. Er entzündete ein Streichholz, und ich erblickte eine ungeheuer dicke Kerze in seiner Hand, die aber nur drei Zoll hoch war und mit Stanniol umgeben. Er entzündete sie ernst und umständlich, mit priesterlicher Anmut, denn ihr Licht sollte uns allen zugute kommen. Es flackerte auf der schrägen Holzleiste des Gepäckhalters im Zugwind, und seine schaukelnde Flamme machte alles unwahrscheinlich und gespenstig. Es mochte nun gegen Mitternacht sein. Die alte Frau hatte sich in eine Decke gehüllt und schlief, der Soldat rauchte und starrte wortlos vor sich hin, und ich ließ die graue Nachtzeit an mir vorüberstreichen und lauschte auf den Regen. Nach einer Weile sah ich wieder den Buckligen wandern. Er durcheilte allen erreichbaren Raum in großen, stillen Schritten, die Hände in den Taschen und die Rockschöße auf den Fersen. Wie ein kranker Rabe sah er aus in diesem gemäßigten Veitstanz seiner Langeweile. Endlich begann er zu singen, das war fürchterlich.
Der Zug hielt nun schon etwa eine Stunde auf einer finsteren Station. Irgendwo in der Ferne blitzte ein Lichtschimmer im nassen Land. Gott, dachte ich, der alle Dinge weiß, weiß auch, weshalb der Zug hier so lange hält. Eine Wachtel rief draußen im dunklen Kornfeld.
Als wieder eine Stunde vergangen war, erschien der Schaffner und erklärte, der Zug führe überhaupt nicht weiter, er bliebe hier stehen. Man könne in den Wagen übernachten, oder auch im Dorf Unterkunft suchen. Ich zog letzteres vor und begann einen Vorstoß in die nasse Finsternis. In den Resten des zerschossenen Stationsgebäudes bemerkte ich einzelne Räumlichkeiten, die mir bewohnt zu sein schienen, und ich entzündete eine Taschenlampe und drang ein. In einem leeren Raum saß ein polnischer Sergeant an einem Tisch, er war eingeschlafen und hatte mit der Stirn die Kerze ausgedrückt, die jetzt seinen Kopf stützte. Er erschrak heftig über den blendenden Kegel meiner Lampe, und ich merkte ihm an, daß er in seiner Schlaftrunkenheit Schlüsse zu ziehen suchte, wer sich hinter diesem Licht verbergen möchte.
»Nehmen Sie doch das Licht weg,« sagte er in gebrochenem Deutsch, »bei Licht sieht man nichts.«
Als ich mein Anliegen umständlich vorgetragen hatte, und er wußte, wer ich war, entfernte er das Stearin von seiner Stirn und betrachtete mich grimmig.
»Sie müssen sich an den deutschen Nachrichtenoffizier wenden«, sagte er.
Ich war bereit und fragte, wo er zu finden sei.
»In Teschen«, sagte dieser Sergeant. Teschen liegt bei Krakau an der schlesischen Grenze, und wir befinden uns zwischen Lemberg und den Karpathen.
»Das ist für heute nacht zu weit«, sagte ich herzlich, aber mein Gegenüber meinte nur um so mißmutiger:
»Ich habe die Entfernung nicht ausgesonnen.«
Ich überlegte eifrig, ob ich nicht irgend etwas vorzuweisen oder anzugeben hätte, das Eindruck auf diesen Gegner meiner Nachtruhe machen würde. Endlich kam ich auf etwas, ich redete ihn auf polnisch an.
Der Sergeant sah auf, und seine Augen vergrößerten sich, dann bog er den Kopf vor und hielt ihn schräg, offenbar, um mich auch von der Seite betrachten zu können.
»Sie wollten irgendwo schlafen?« fragte er vorsichtig. »Es ist auch vielleicht besser für Sie. Kommen Sie also.«
Wir durchwateten eine Straße hinter der Ruine, er ging voran, und ich leuchtete. Vor einer großen Stalltür machte er halt und erklärte, daß das Stroh sauber sei, weil deutsche Soldaten darauf schliefen. Platz sei genug, Rauchen sei verboten.
Ich suchte nach einem Platz für meine Zigarre, er sah es und nahm sie mir voller Entgegenkommen ab.
»Sie brennt noch«, sagte ich besorgt, als er sie in die Tasche steckte.
»Sie geht schon aus«, gab er zurück. »Was soll sie denn sonst tun? Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten.«
An der Decke des niedrigen Raumes hing eine Stallaterne in einem Drahtgestell und goß ein nebliges Licht auf den Strohboden, auf dem dunkle Menschengestalten lagen wie Tote. Die Luft war warm und schwer. Ich scheuchte eine Henne auf, die mit Geschrei entfloh, sich aber später wieder beruhigte. In einem Verschlag für Pferde lag nur ein Soldat, dort fand ich Platz und breitete meine Decke aus. Welch eine Wohltat war dieses Stroh im Vergleich zu der harten, schmutzigen Bank im Coupé, wo der Bucklige hauste.
Ich legte mich zurecht, aber mein Nachbar war wach geworden und richtete sich auf.
»Was ist mit dir?« fragte er.
Ich erzählte es ihm, und er betrachtete mich mitleidig.
»So so, was du siehst, schreibst du auf, nun also –«
Aber dann besann er sich plötzlich und richtete sich voll auf, zog mich etwas ins Licht und fragte eindringlich:
»Druckt man etwa in den Zeitungen, was du schreibst?«
Ich bejahte es.
»In der Tat? Wahrhaftig?«
Ich erneuerte meine Versicherung. »Es ist schon so,« sagte ich, »auch Zeitungen begehen Fehler.«
Er schien nun ganz wach geworden zu sein und schaute nachdenklich vor sich hin. Es war ein junger Mensch von vielleicht fünfundzwanzig Jahren, seines Zeichens Gefreiter in einem Grenadierregiment, wie mir schien, aus einfachem Stand. Und wenn ich nun wiedergebe, was er mir erzählte, so kann ich es nicht völlig mit seinen Worten, denn er setzte, wie Leute, die keinen Wert darauf legen durch das Wort zu wirken, die meisten Umstände voraus, unter denen sein Erlebnis stattgefunden hatte, und ließ vieles fort, da er nicht bedachte, daß es mir unbekannt sein mußte. Aber Einzelheiten entstanden meinem Geist unter seiner Darstellung in so deutlicher Bildhaftigkeit, daß mir noch lange nachher zumut war, als hätte ich an jenen Augenblicken teilgehabt, die das Ereignis seines Lebens darstellen. Er bat mich, ich möchte niederschreiben, was er sagte, und so tue ich es.
»Wir haben einen Gefangenentransport hinter uns,« sagte er, »und liegen hier jetzt zur Nacht aus dem gleichen Grunde wie du. Jetzt ist es in Galizien ruhiger geworden, aber damals … Nun, in großen Zügen wißt ihr ja, was in Ungarn begann, über die Karpathen bis zur Slota Lipa und darüber hinaus. Wir waren damals in unserem Korps Preußen und Ungarn unter bayrischer Führung, eine ganz taugliche Mischung, mein Lieber! Dann noch ein paar gemischte Bataillone, Tschechen usw., was weiß ich.
Des Morgens, wir wußten schon, was kommen sollte, lagen die Hügel in der Sonne, schön, im goldenen Schein. Wir werden sie stürmen, sagte man. Glaube nur nicht, mit den Russen ist zu scherzen. Was man da nicht alles redet. Am Mittag sind wir oben oder tot, denk ich. Unser Leutnant kommt zu uns, er sprach nicht viel, war auch nicht nötig. Was kommt er zu uns, denken wir, das war so seine Freundlichkeit. Ich weiß nicht, ob wir ihn gerade geliebt haben, er faßte uns hart an. Nun, wie das schon ist, nicht jeder war ihm wohlgesinnt, solange wir noch nicht eigentlich wußten, was der Krieg bedeutet. Später dann, ach, ich sage dir, mein Lieber, wie man allen Groll vergißt. Da jauchzt dir das Herz, wenn du in deiner Bedrängnis plötzlich deinen Hauptmann oder deinen Leutnant siehst, es geht einem, wie bei einem Gottesdienst, durchs Herz. Dort ist er, er lebt, er geht vor! So werden auch wir leben und vorgehen. Ja, dann liebt man ihn, man hängt an ihm wie ein Kind, sein Helm, sein Mantel, ach, was geht oft für ein Trost von ihnen aus.«
»Halts Maul,« sagte eine tiefe Stimme aus dem Dunkel, »was schreist du in der Nacht?«
Es wurde ein Weilchen still. Mein Nachbar starrte ins Dunkel, und seine Blicke verirrten sich in Erinnerungen. Als es ringsumher wieder schnarchte, fuhr er fort:
»Alles nach der Uhr, du verstehst? Es war eben hell geworden, da tobte die Artillerie los. Ihr habt alle eine falsche Vorstellung von solchem Manöver, bis ihr es erlebt habt. Weiter, viel weiter müssen die Augen gehen, wie denkt ihr euch denn das? Wenn die großen Granaten mit ihrem heulenden Gesang ins Ungewisse reisen, und man denkt, ihr Zug saugte den Erdboden und alle Leute mit sich fort, dann sieht kein Mensch, wohin es geht, ob es wirkt oder trifft. Erst wenn über den Batterien, noch suchend und weit von uns entfernt, die ersten Schrapnells der Russen platzen, weiß man, daß nicht ins Blaue hineingeschossen wird, sondern daß dort hinten in weiter Ferne feindliches Leben herrscht, feurige Antworten herausgefordert sind, Blut fließt, Tote liegen.
Erst viel später stürmten wir vor, denkt man sich doch, dort lebt nichts mehr, dort drüben, aber da irrt man sich, mein Lieber. Die Trümmer und Ruinen der Gräben, jeder Trichter, jeder Erdwall, alles speit Eisen, und sprungweise von Deckung zu Deckung geht vor, was nicht liegen bleibt. Da plötzlich, gut geschützt, nimmt mein Leutnant sein Glas, schaut auf den Knien nach rechts, weit hin auf die Hügel, die uns die Flanke decken, und sagt langsam und böse:
›Die Bewegung dort drüben gefällt mir nicht.‹
Er kriecht zurück zum Graben, um am Draht zu hören, was es gibt, und mir wird kalt hinter der Stirn, als ich nach einer Weile verstehe: ›Rückwärtige Verbindung nicht herzustellen‹.
Nun also, die Bewegung drüben, die war übel, soviel last dir gesagt sein. ›Die Tschechen‹, sagt einer und knirscht. Da wußten wir genug. Unsere Leitung und die unserer Verbündeten trifft kein Makel, aber sicher ist, daß wir plötzlich ein mörderisches Flankenfeuer bekommen. Was blieb uns übrig, als die Front in weiter Linie gegen den unerwarteten Gegner umzubiegen, der an unserer Seite ausgezogen war, aber dünn wurde sie wie ein zerschlissenes Hemd. Und gar nicht lange dauerte es, da stürmten die Russen mit dem Bajonett unsere Stellung, kaum daß wir Zeit gehabt hatten, uns notdürftig einzuschanzen.
Sie kamen heran, die braunen Teufel, zehn fallen, zwanzig, hundert, aber der Rest und neue Massen wälzen sich vor, wie ein heulendes Erdmeer, wie schmutzige Säcke stürmten sie vor, und die slawischen Fratzen grinsten teuflisch und dreckig und blutig aus dem Gebrüll heraus. Da halte einmal stand, mein Lieber, schieße dabei ruhig ab, lade, ziele, schieße wieder, ruhig, ganz ruhig, sonst ist alles hin, und die braunen Todeswogen überfluten dich, statt zurückzuebben.
Aber es waren zu viele, und wir zu wenig. Da pflanzten wir auf, was war zu machen? Ergeben? Ich sehe zum Leutnant hinüber. Gibt's nicht, denke ich da. Was da heranstürmte, sah auch nicht nach Schonung aus. Du mußt wissen, es gibt im Kampf Zustände, da ist der Gedanke an Ergeben so lächerlich wie ein Walzer beim Versaufen. Dabei funkten die Russen hinter den Bergen her sinnlos herüber, entweder zu kurz, was möglich ist, oder ohne Rücksicht auf die eigenen Reihen. Es kommt ihnen nicht auf zehn Mann der Ihren an, wenn nur ein Deutscher draufgeht. Das Letzte, was ich sehe, ist, wie sich mein Leutnant ganz allein mit dem Säbel gegen zehn oder mehr Bajonette verteidigt, lang wie Spieße. Ich brülle vor Wut, komme aber nicht durch das Knäuel und krieg' gleich darauf mein Teil mit dem Kolben.«
Er richtete sich auf und kam ganz nah:
»Diesen Augenblick vergeß ich nie, solang' ich atme. Wie er da stand, der große, aufrechte Mann, im Gesicht ein Zorn wie Feuer, daß einem das Blut erstarrte, und dann sank er zwischen diese braunen plumpen Säcke, erst nach rechts, dann nach links …«
Es wurde still in unserem nächtlichen Stall. Mein Nachbar atmete schwer, erleichtert und doch tief erregt. »Ja, mein Lieber,« sagte er einfach, »es hat für uns Deutsche Arbeit gegeben, bis hier reiner Tisch gemacht war in Galizien. Zwinin und Zurawno, Stryj und die Mala Stripa, das sind Namen, die haben nur die Toten vergessen.«
Nach einer Weile stellte ich eine Frage, aber ich bekam keine Antwort darauf, denn mein Nachbar schlief. Es ist im Felde draußen vom Angesicht des Todes bis in einen tiefen ruhigen Schlaf nur ein Schritt.