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Ein galizischer Herbstabend führte mich ins Korpsstabsquartier Marschall, wo ich zum Nachtmahl gebeten worden war, und in der bunten Reihe von Offizieren vielerlei Berufs und mancherlei Pflichten hörte ich die Geschichte, die ich hier wiedergebe. Wenn ich es unter genauer Angabe der Daten und Namen tue, so geschieht es, weil ich den wunderbaren und kaum glaubhaften Einzelheiten mit Überzeugung ihre ganze Wahrheit aufprägen möchte, und damit nicht ein Schatten von Zweifel entstehe, sie könnten erdacht oder ausgeschmückt sein. Die Herren, deren Namen ich nenne, werden es mir zugute halten um des lichten Wunders willen, das aus dieser einfachen Begebenheit strahlt, und dessen Glanz an das Licht alter Sagen oder biblischer Patriarchengeschichten erinnert. Es war niemand in jenem Kreis, der sich der Bitte nicht anschloß, ich möchte diese Begebenheit berichten. Es bleibt mir unvergeßlich, mit welcher Andacht diese Männer draußen im Krieg, deren Sinn und Tun doch, weiß Gott, Tag und Nacht auf andere Dinge gestellt sind als auf kleine Episoden, die Erzählung, die sie alle kannten, doch wieder mit einer andächtigen, beinahe feierlichen Hingabe anhörten. Vielleicht muß man die Not, zwischen Tod und Leben zu schweben, oder doch täglich vom Verderben und Elend umlauert zu sein, am eigenen Leibe durchkostet haben, um solchem Ereignis diese tiefe Bewegung aus Teilnahme und Hoffnung entgegenbringen zu können. Der junge westfälische Militärarzt Dr. Schäfers machte den Erzähler, und die Zuhörenden ergänzten seinen Bericht. So erfuhr ich die Einzelheiten, die ich wiedergebe:
In dem hartnäckigen und blutigen Stellungskrieg, nach der Eroberung des Zwinin, zur Zeit der erbitterten Kämpfe auf den Höhen von Myta, meldete abends eine preußische Patrouille, daß nahe bei einem verlassenen Dorf, in einer Kartoffelmiete auf freiem Feld, ein durch einen Oberschenkelschuß schwer verwundeter deutscher Soldat läge. Es war der Vizefeldwebel Fischer. Das leere Feld mit seinem notdürftigen Unterschlupf für den Verwundeten erstreckte sich zwischen den deutschen und russischen Stellungen, so daß schon am nächsten Morgen nicht mehr daran zu denken war, dem Bedrängten Hilfe irgendeiner Art bringen zu können. Er war aus russischer Gefangenschaft mühsam entkommen, jedoch nächtlicherweile auf halbem Wege, von Blutverlust, Hunger und Durst entkräftet, zusammengebrochen, und hatte sich, halb ohnmächtig, in dem niedrigen, kaum überdachten kleinen Feldbau verkrochen.
Die Nähe der feindlichen Truppen und seine zunehmende Ermattung versagten dem Verwundeten jede Möglichkeit, sich bemerkbar zu machen, auch war keine Hilfe von den Seinen zu erwarten, die auch inzwischen ihre Stellungen verändert hatten. So schloß er in der ersten Leidensnacht in seinem einsamen Versteck mit Leben und Heimat und irdischer Liebe für immer ab, und sah die Morgendämmerung ohne Hoffnung, in Gemeinschaft mit der Gestalt des Todes hereinbrechen. Aber mit dem heraufsteigenden Tageslicht erblickte er, dem Verhungern nahe, auf dem Feld in der Nähe ein weißes Huhn, das, ohne sich zu eilen, im gemächlichen Morgenwohlstand seiner gewohnten Lebensweise, auf den mit Kartoffelkraut und altem Stroh angefüllten Schlupfwinkel zuspazierte. Er machte es sich in einem Winkel sorglos bequem, verbrachte seine Hennenzeit in diesem Feldnest, und liest ein schimmerndes Ei zurück, als es seinen Weg in die Umgebung fortsetzte.
Sieben Tage und sieben Nächte hat der verwundete Mann, grausig gebettet zwischen Tod und Leben, in diesem Versteck zugebracht, und Morgen für Morgen ist das Huhn gekommen, um ihm sein Leben für den hereinbrechenden Tag zu bringen. Jeden Tag nahm er mit zitternder Hand und nach qualvollen Stunden der Erwartung, des Zweifels und der Todesangst das Ei, das ihm der unschuldige und unwissende Sendbote neben sein Schmerzenslager legte. Die strahlende Gestalt eines himmlischen Engels hätte seinen Qualen und seiner Hoffnung keine größere Linderung verheißen können, als das kleine Tier, das wie von der heimlichen Güte einer barmherzigen Allmacht gesandt, täglich das hohe Gut, sein Dasein erneuerte.
Als sich nach sieben Tagen die Möglichkeit ergab, nach dem Verlorenen Ausschau zu halten, und die Kameraden sich seiner erinnerten, um den Totgeglaubten zu bestatten, fand man ihn atmend, wenn auch in bedenklich trübem Zustand, aber sein Leben ist erhalten geblieben. Die letzte Äußerung in seiner schwindenden Besinnung war die Bitte, man möchte das Huhn mitnehmen.
Der Leidende wurde am Hauptverbandplatz in Pflege genommen und sein Zustand besserte sich von Tag zu Tag. Herr Rittmeister von Wutenow von den Halberstadter Kürassieren, der als erster das rührende Wunder dieser Lebensrettung hörte, befahl das Huhn in seinen Unterstand. Dort ist es von allen, die es kennengelernt haben, hoch in Ehren gehalten worden. Es hat den Vormarsch auf Stryj mitgemacht, und es ist verständlich, daß das kleine Tier von den Soldaten wie ein Heiligtum betrachtet und behütet wurde, wie ein lebendiges Zeichen dafür, daß selbst der höchsten und äußersten Not noch eine Rettung gegeben sein kann.
Angesichts des Todes, der Tag für Tag Einkehr hielt, Auge in Auge mit dem Schrecken der eigenen Schicksalsstunde, wurde das Gemüt von einer tiefgläubigen Dankbarkeit gegen alle erkennbaren Wahrzeichen eines barmherzigen Geschicks erfüllt. Das Huhn hat lange im Schützengraben gewohnt, sich ungeachtet der Rauheit aller Störungen den Tag über seine Nahrung in der Umgebung gesucht, und ist stets mit der Abenddämmerung zu seiner Kriegergemeinde zurückgekehrt. Die seltsame Zahmheit des Tieres erklärt sich aus der Art, wie die galizischen Bauern, deren Häuser gewöhnlich nur aus zwei kaum voneinander getrennten Räumen bestehen, mit ihren Tieren zusammenleben.
Bei einem Sturmangriff vor Stryj ist das Huhn verloren gegangen, aber es erschien mir so selbstverständlich wie der Glanz einer teuren Erinnerung, daß die Gedanken der Soldaten es begleiteten, als habe es sich aufs neue aufgemacht, um an anderem Ort seine wunderbare Bestimmung des Heils und der Gnade zu erfüllen.