Charitas Bischoff
Amalie Dietrich
Charitas Bischoff

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32.

Heimkehr

Am Morgen des 4. März 1873 wanderte Charitas in großer Aufregung am Hamburger Hafen auf und ab.

Hier an dieser Brücke, so hatte Godeffroy geschrieben, sollte gegen neun Uhr das Schiff anlegen, mit dem die Mutter nach zehnjähriger Abwesenheit zurückkam. Ungeduldig zog sie oft die Uhr, zuweilen hemmte sie ihre Schritte und ließ suchend den Blick über die Elbe gleiten; aber das spähende Auge vermochte nicht den dichten Nebel zu durchdringen, der über dem Strom lag. Zögernd trat sie an den Brückenwärter heran und fragte: »Ist es hier recht, legen hier die australischen Schiffe an? Ich erwarte die ›Susanne Godeffroy‹.«

»Jetzt kommt kein Überseer; die kommen erst mit der Flut herein.«

Da ertönte ein schriller Pfiff, und sowohl der Mann wie Charitas drehten sich um. Durch den Nebel arbeitete sich ein Dampfer. Der Mann erfaßte das ihm zugeworfene Tau, befestigte es und hörte, wie Charitas enttäuscht sagte: »Stade.«

»Jawohl, das ist der Stader Dampfer,« bestätigte der Mann, »aber es ist ja möglich, daß die Passagiere von dem Überseer auf dies Schiff gegangen sind. Das ist sogar wahrscheinlich.«

Unentschlossen blieb Charitas stehen und sah die an Land Kommenden an sich vorübereilen. Nein, die Erwartete war nicht dabei. Da kamen allerlei Leute: Frauen mit Körben, – Männer, – wieder Frauen, – Burschen, – Mädchen mit Bündeln, mit Reisetaschen, – und dann kam niemand mehr. –

Charitas blickte auf das Schiff, sie blickte den Davongehenden nach.

Was sollte sie tun? Da sagte der Mann neben ihr: »Gehen Sie doch mal aufs Schiff. Vielleicht ist noch jemand da.«

Zögernd ging sie auf Deck. Ein Mann trat auf sie zu und fragte: »Suchen Sie jemand?«

»Ja, ich suche Frau Dietrich, man hat mir gesagt – –«

»O,« unterbrach sie der Mann lebhaft, »ich vermute. Sie sind die Tochter?! Kommen Sie, Ihre Mutter sitzt unten in der Kajüte! Ich habe Ihre Mutter so gut kennen gelernt, wir haben die lange Reise von der Südsee zusammen gemacht. Ich bin der Kapitän der ›Susanne Godeffroy‹. So, – bitte, – hier hinunter. Ich passe auf, daß Sie nicht gestört werden.« Der Kapitän öffnete die Tür.

Da saß am andern Ende der kleinen Kajüte eine alte Frau mit gekrümmtem Rücken. Ihr pergamentartiges, verwittertes Gesicht war von tausend Falten und Fältchen durchfurcht und wurde von dünnen, weißen Scheiteln umrahmt. Ein dürftiges Röckchen und eine dunkle Kattunjacke umschlossen die alternde Gestalt. An den Füßen trug sie alte, graue Segeltuchschuhe, die vielfach Löcher zeigten.

Zögernd, mit klopfendem Herzen blieb Charitas einen Moment stehen und erfaßte mit einem schnellen Blick die fremdartige Erscheinung. Sah die, nach der sie sich zehn lange Jahre in Sehnsucht verzehrt hatte, sah die so aus? – ! War das die Mutter? »Eine Heldin« hatten Doktors und Godeffroys sie genannt. Konnte so eine Heldin aussehen?

Amalie sah das Zögern, sie hatte sich erhoben und stützte sich mit der einen Hand schwer auf den Tisch, während sie mit der andern das weinende Gesicht bedeckte, dann sagte sie langsam mit fremder, tiefer Stimme: »Cha – ri – tas! –? Bist – denn du – Charitas? –! So still und so fremd? – Ich hatte dich anders in der Erinnerung! Wie stürmisch und liebevoll sprangst du mir sonst entgegen. Wie leidenschaftlich drücktest und küßtest du mich! Was warst du doch für ein liebes, zärtliches Kind!«

»Mutter!« sagte Charitas und nahm die Weinende zaghaft in die Arme. Jede forschte ängstlich in den Zügen der andern. – Zwei Fremde standen einander gegenüber.

Vorsichtig, fast schüchtern streichelten die mageren Finger der Mutter die Wangen der Tochter, während sie ihren Kopf an Charitas' Schulter lehnte. Nach langer Pause sagte Amalie tief aufseufzend: »Endlich keine Trennung mehr, so lange ich lebe! Mit welcher Sehnsucht haben wir auf diesen Tag gewartet! Nun brauchst du nicht mehr zu bitten und zu betteln, daß ich bei Dir bleiben soll!«

»Mutter,« sagte Charitas befangen, »hast du meinen letzten Brief nicht bekommen? Ich habe dir geschrieben, daß ich verlobt bin!«

Die Mutter trat von der Tochter zurück und fragte mit stockender Stimme: »Du – – ver – lobt? Ach Gott! Nein, davon weiß ich nichts! Mit wem bist du denn verlobt? –!«

»Mit einem jungen Pastor, dessen Pfarre oben dicht an der dänischen Grenze liegt. In der Gemeinde spricht man nur Dänisch. Ich habe ihn in Doktors Hause kennen gelernt; er war der Hauslehrer von Hans.«

Die Mutter schluchzte: »Also kein Zusammenleben mit dir! Das trifft mich schwer!«

»Aber Mutter, Du kannst doch – –«

»Zu Euch ziehen?« sagte sie, »ach nein, ich würde wohl nicht in ein Pfarrhaus passen, es wäre mir wohl – mit einem Blick auf die Tochter – zu sein bei euch, ihr würdet zu viel an mir auszusetzen finden, und ich? ich bin nun zu alt, um mich noch erziehen zu lassen. Kommst du denn jetzt aus Kiel?«

»Nein, Mutter, ich komme von Kappeln, wo ich im Pastorat den Hausstand lerne.«

Amalie wurde ruhiger, sann nach und sagte: »Du lernst den Hausstand vor der Hochzeit. Das mag wohl richtig sein; ich lernte ihn nachher. – – Aber jetzt komm! Wir wollen nun zu Godeffroy!«

Die Tochter ließ einen Blick über die Gestalt der Mutter gleiten, dann sagte sie: »Möchtest du dich nicht vorher ein wenig zurecht machen?«

»O bewahre! Du meinst die Löcher in meinen Segeltuchschuhen? Die habe ich mir mit Fleiß hineingeschnitten. Den armen Füßen ist im Leben viel zugemutet worden, da habe ich ihnen Platz und Luft geschafft, wo eine Reibung oder ein Knöchel war. Damit beleidige ich ja keinen Menschen. Und jetzt komm, mich verlangt danach, Godeffroy zu sehen!«

»Ja, ja, warte nur einen Augenblick, ich besorge sofort eine Droschke.«

»Eine Droschke? Aber wozu denn?«

»Du hast doch wohl Gepäck bei dir?«

»Nichts habe ich bei mir als meine zwei Adler, die stehen auf Deck.«

»Adler? –!«

»Jawohl, zwei Prachtexemplare! Sie sind ganz zahm. O, sie kennen mich! Freilich der Schlingel Punch hat des Steuermanns Nock mit seinem scharfen Schnabel in lauter Streifen zerfetzt. Der Steuermann hatte ihn in der Nähe der Käfige zum Bürsten hingehängt.«

»Und dein Gepäck?«

»Ist alles noch auf der ›Susanne Godeffroy‹.«

»Und was willst du mit den Adlern?«

»Hast du mir nicht vor neun Jahren geschrieben, ich würde unserm guten Doktor eine Freude machen, wenn ich etwas für den zoologischen Garten mitbrächte?«

»Daran hast du jetzt noch gedacht?«

»Selbstverständlich!«

Draußen bei den Käfigen stand der Kustos vom Museum Godeffroy, und während er Amalie begrüßte, holte Charitas eine Droschke.

Für die Adler versprach der Kustos zu sorgen.


In demselben kleinen, teppichbelegten Zimmer, wo vor zehn Jahren der Kontrakt unterzeichnet war, stand jetzt der ehrwürdige, alte Herr und begrüßte mit tiefer Bewegung die Heimgekehrte.

»Meine gute Frau Dietrich!« sagte er, »Sie haben so treu für uns gearbeitet, ich werde Sie, solange ich lebe, nie verlassen.« Er hing ihr eine Kette mit einer Uhr um den Hals und sagte lächelnd: »Sie sind nun wieder in Europa, da werden Sie sich nach europäischer Zeit richten müssen. Na, und dann werden Sie so bald wie möglich Ihre alte Heimat wiedersehen wollen, nicht wahr?«

»Ach ja,« rief Amalie lebhaft, »nach Siebenlehn möchte ich! Und dabei darf ich vielleicht eine Bitte aussprechen?«

»Gewiß, liebe Frau Dietrich!«

»Dürfte ich für die Siebenlehner Schule einige Dubletten als Geschenk mitbringen?«

»Suchen Sie sich nur aus, was Sie haben möchten, und wenn Sie sonst noch jemand zu beschenken wünschen, tun Sie es unsretwegen herzlich gern.«

»Dann möchte ich für Doktor Meyer eine Sammlung australischer Farne und für Lehrer Walter eine Moossammlung haben.«

»Alles ist Ihnen gern gewährt. Bis Sie nach Sachsen reisen, wohnen Sie auf meine Rechnung in Höfers Hotel. Und wenn Sie zurückkommen, steht hier in meinem Hause eine Wohnung für Sie bereit. Sie werden wünschen, in der Nähe Ihrer Sammlungen zu bleiben und können daran arbeiten, wann es Ihnen gefällt.«

Sie dankte unter Tränen.


Vierzehn Tage später reiste Amalie in ihre Heimat. Sie besuchte die alten Bekannten in der Niederstadt und auf dem Forsthof und ging ganz allein durch den Zellwald.

Im Anzeiger für Stadt und Umgegend von Nossen und Siebenlehn stand viel Rühmendes über ihre Reisen. Ihre Sammlungen wurden auf dem Rathause ausgestellt. Als sie kam, um nachzusehen, ob alles gut angekommen sei, kam ihr der alte Stadtrichter entgegen, hieß sie in der Heimat willkommen und sagte: »Hier an dieser Stelle zeigte ich Ihnen einst auf der Landkarte den Weg nach Bukarest. Was für ein Lebensweg seitdem!«

Sie neigte den Kopf und sagte leise: »Rund um die ganze Welt. Es war weit und schwer!«


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