Charitas Bischoff
Amalie Dietrich
Charitas Bischoff

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Charitas

Die Arbeit an den Sammlungen war erledigt, damit hatte Amalie nichts mehr zu tun. Nachdem sie sie geordnet hatte, waren sie an ihren Bestimmungsort abgeholt worden. Nun fand sie es an der Zeit, endlich zu Lehrer Walter zu gehen, um ihm in aller Form die Moossammlung zu schenken.

»Wie mich das Ihretwegen freut,« rief der, »aber sagte ich es Ihnen nicht? Sie sind nicht die Erste, der Doktor Meyers helfen! Na? war die Adresse nicht mehr als sechs Taler wert. Und nun wollen Sie nach Australien? Da werden Sie auch Moose finden!«

»Das denke ich auch,« sagte Amalie lachend, »aber die gehören nicht mir!«

»Ich bin zufrieden mit dem, was ich habe, aber Sie müssen mir versprechen, daß Sie mir von Ihren Erlebnissen erzählen, wenn Sie wiederkommen.«

»Ja, wenn ich wiederkomme!« sagte Amalie ernst.


Die Empfindungen fluteten in Amaliens Seele während dieser Zeit auf und ab. Bei weitem vorherrschend war doch das Gefühl des Glücks. Ihr war zumute, als berührten ihre Füße nicht mehr den Erdboden, als wären ihr Flügel gewachsen, die sie hinüber trügen in eine andere Welt. Wie war es nur möglich, daß die gelehrten Herren sie so hoch einschätzten? In der Heimat, wo man sie doch von Kindheit an kannte, war sie seit Jahren verhöhnt und verspottet worden, hatte ein jeder sich die Freiheit genommen, sie zu schelten; ja selbst Leute, wie Madame Hänel hatten stets gemeint, sie nach ihrem Sinn ummodeln zu können. Ach, wie war sie im Kampf gewesen! Nun kam ein so sieghaftes Glücksgefühl über sie, das durchglühte und erwärmte ihr ganzes Dasein. O, jauchzen hätte sie mögen! Einer großen Aufgabe wurde sie gewürdigt! Aber grade bei diesem Punkte setzte auch ihre Sorge ein. Wenn die Stimmen des Tages verrauscht waren, wenn die Stille der Nacht sie umgab, dann kam aus der Tiefe ihres Herzens die beängstigende Unruhe, ob die gute Meinung, die man von ihr hatte, ob ihr Glaube an sich selbst, nicht doch auf Täuschung beruhe.

»Wir können nichts Halbes brauchen!« so hatte Godeffroy bei der Abfassung des Kontraktes gesagt.

»Nichts Halbes!« Nein, nein! sie wollte ja auch ihr ganzes Herz der neuen Aufgabe widmen! Um das zu können, durfte nichts Vergangenes sie mehr fesseln oder beunruhigen. Und da war wieder ein Etwas, das seine mahnende Stimme erhob, das den Schlaf von ihrem Lager scheuchte. Und das war Charitas, ihr Kind. –

Als sie mit dem unterschriebenen Kontrakt an die Alster ging, merkten Doktors bald dieses Zwiespältige in ihrem Wesen; sie wußten ihr nur nicht recht beizukommen.

»So glücklich sind Sie –« sagte Frau Doktor, »aber da ist noch irgend etwas nicht ganz nach Ihrem Wunsch. Können wir Ihnen helfen? Ist irgend etwas im Kontrakt übersehen, oder überkommt Sie nun doch die Furcht vor dem unbekannten Erdteil? Sagen Sie es nur, wir denken darum nicht schlechter von Ihnen. Sie sind doch eine Frau; und es wird Mannesmut von Ihnen erwartet!«

»Daß mir trotz des Glückes das Herz schwer ist, das haben Sie richtig erraten, aber es ist nicht die Furcht vor Australien. Mich beunruhigt die Zukunft meines Kindes. Was soll aus meiner Charitas werden, wenn ich auf Jahre hinaus so weit fortgehe?«

»Das ist allerdings sehr schlimm,« sagte Frau Doktor bestürzt, »wie konnten Sie denn unterschreiben, ehe Sie Ihr Kind gut versorgt wußten!? Haben Sie denn nur die eine, und ist es die, welche die Namen unter die Pflanzen geschrieben hat?«

»Ja, die ist es, Charitas,« sagte Amalie seufzend.

Es folgte eine lange Pause, dann sagte Frau Doktor: »Wie können Sie nur Ihr einziges Kind ganz allein zurücklassen? Wo haben Sie sie denn jetzt? – Ist sie gut untergebracht? Was ist es denn für ein Kind? Wie sieht sie aus? Wozu hat sie Lust? Wie alt ist sie? Hat sie eine gute Erziehung genossen? Ist sie gut geartet? Erzählen Sie uns einmal von ihr!«

Amalie ließ Frau Doktor ruhig ausreden, dann sagte sie bekümmert: »Erzählen kann ich nicht weiter von ihr. Sie ist vierzehn Jahre alt, und sie ist vor kurzem konfirmiert. Sie ist, was ihre Erziehung und ihren Unterricht anbetrifft, weit im Rückstand; jedes Kind der Großstadt wird ihr weit überlegen sein, aber in ihren Empfindungen ist sie sehr gereift. Unser beider Leben war ein beständiges Losreißen und kurzes Beisammensein, das hat ihr tiefen Ernst gegeben. Nun, da ich eine bestimmte Einnahme habe, möchte ich so gern Versäumtes nachholen. Ich könnte nicht frei und glücklich meine neue Aufgabe erfüllen, wenn ich nicht vorher überzeugt wäre, daß auch für sie ein besseres Leben anfinge. Die Schwierigkeit für mich ist aber, daß ich mir in dieser Sache nicht zu helfen weiß. Ich kann nur die Mittel zu ihrer Ausbildung zur Verfügung stellen. Erzählen will ich sonst nichts von ihr; ich bin als Mutter parteiisch und würde sie in zu günstigem Lichte darstellen. Wenn Sie mir auch hierin raten könnten und wollten, dann wäre es schon das beste, ich ließe sie baldmöglichst kommen, und Sie sähen sie selbst. Soll ich sie nicht mal kommen lassen?«

»Aus dem erzgebirgischen Dorf wollten Sie sie kommen lassen? Wird sie sich denn hierher finden? Scheuen Sie denn nicht das teure Reisegeld? Und wenn sie nun kommt, und wir finden, sie paßt doch nur aufs Dorf, dann müßte sie die weite Reise wieder zurückmachen. Wer weiß, ob sie das Lernen glücklicher macht? Ist es nicht leichter, sie bleibt zwischen den Menschen, mit denen sie aufgewachsen ist?«

»O nein! Ich könnte nicht ruhig fortgehen! Nun es mir besser geht, soll sie es auch gut haben. Ich meine allerdings, ich gebe ihr das Beste, wenn ich ihr Gelegenheit zum Lernen gebe. Ich weiß das an mir. Was hätte ich darum gegeben, wenn man mir die Möglichkeit geboten hätte.«

»Sie haben doch durch Ihre Verheiratung Gelegenheit zur Weiterbildung gehabt.«

»Freilich, aber wie mühsam habe ich das wenige erworben. Mein Kind soll es leichter haben. Wenn ich nur wüßte, wie das anzufangen ist.«

»Nun,« sagte Frau Doktor, »wollen Sie sie wirklich auf Ihr Risiko kommen lassen, so bringen Sie sie einmal mit her, damit wir sie sehen, nicht wahr Adolf?«

Der Doktor nickte, und seine Frau fuhr fort: »Damit wir sie in ihrer Unbefangenheit kennen lernen, müssen Sie ihr vorher gar nichts, weder von uns noch von Godeffroy sagen. Diese Mitteilungen würden sie erregen und befangen machen. Je nachdem wie wir sie finden, entwickelt sich dann das übrige. Natürlich soll sie bald aufgeklärt werden. Sollte der erste Eindruck etwa so sein, daß wir finden, sie paßt nur aufs Dorf, dann würden Sie sie ja gleich wieder mitnehmen. Und in dem Falle ist es ratsamer, daß sie von unseren Beratungen nichts erfährt.«

Dem stimmte Amalie zu; und schon am nächsten Tage schrieb sie Charitas einen Brief, legte sechs Taler Reisegeld dazu und schickte beides an einen Siebenlehner Bekannten, den sie bat, Charitas beim Fortgehen behilflich zu sein. Von nun an wartete sie täglich mit großer Spannung auf die Ankunft ihres Kindes.

In der Zwischenzeit hatte sie am »Alten Wandrahm« zu tun. Die Ausrüstung mußte überlegt und beschafft werden. Sie hatte auch für ihre künftigen Pflichten noch allerlei zu lernen. Man zeigte ihr, wie sie mit Waffen umzugehen habe. Aber auch in bezug auf das Konservieren verschiedener Tiergattungen mußte sie sich noch mancherlei Belehrung einholen, sie lernte das Abbalgen von Vögeln, das Ausnehmen und das Einpökeln der Säugetiere und Fische.


Eines Tages, – es war noch früh am Morgen, Amalie wollte gerade wieder an den »Alten Wandrahm« gehen – da hörte sie, wie unten an der Treppe Madame Piepenbrink lebhaft ihren Namen rief, und als sie herzukam, sah sie, wie unten Madame Piepenbrink mit Charitas stand. Amalie wußte kaum, wie sie die paar dunklen Stufen herunterkam. Charitas warf jauchzend ihr Bündel von sich und fiel der Mutter halb lachend, halb weinend in die Arme.

»Du Kind!« rief Amalie in heftiger Erregung, »was wählst du dir für eine Zeit zum Ankommen!? Man kommt doch abends an! Wie oft, seit ich dich erwarte, bin ich an den Berliner Bahnhof gegangen, immer aber mußte ich getäuscht den Rückweg allein antreten. Wo kommst du denn heute früh schon her? Beinah hättest du mich nicht zu Hause getroffen!«

»In Wittenberge ging gestern der Zug nicht weiter, da habe ich in einer Fuhrmannskneipe übernachtet. Ach Mutter, wie froh bin ich, daß ich dich endlich wieder habe! Nicht wahr, nun bleibe ich aber immer bei dir? Ich kann dir bei allem schon helfen.«

»Komm,« sagte Amalie ablenkend, »du mußt mir ja von der Reise erzählen; und wie ich aus Siebenlehn höre, ist es dir in Voigtsberg so schlecht gegangen? Ich habe bei Rüdiger Heinrich nach dir gefragt, und was sie mir über dich schrieben, hat mir so weh getan.«

»Ach Mutter,« sagte Charitas, indem sie sich leidenschaftlich an Amalie klammerte, »nur nicht wieder weg von dir! Es war so schwer, daß ich mir oft wünschte zu sterben. Jeden Tag mußte ich den schweren Wagen mit Waren von Voigtsberg nach Siebenlehn ziehen. Oft bekam ich ihn kaum den Berg hinauf, so schlecht waren die Wege. Ich hab' dann immer laut mit dir gesprochen, oder die schönen Gedichte über Joseph in Ägypten auswendig gelernt. Wenn es schneite und stürmte, dann rief ich weinend:

O Morgenland, o Palmenland,
Wie grünt und blühet doch dein Strand!
Der Norden hat mir wehgetan,
Nicht kann sein Licht mich mehr erwärmen,
Er schaut mit kaltem Blick mich an,
Zur Ferne die Gedanken schwärmen
Und suchen eine Ruhestatt,
Mein Aug' ist trüb, mein Geist ist matt,
Du Land des Lichtes, nimm mich auf! –

Wenn ich das so traurig und sehnsüchtig über die weiten Felder hinausrief, dann war's mir immer, als müßtest du mich hören; denn siehst du: wie ich meinte, ich könnte nun gar nicht mehr, weil mir immer mehr Arbeit aufgepackt wurde, da kam der Rüdiger-Heinrich mit dem Brief und dem vielen Gelde.«

»Na, da freutest du dich aber,« sagte Amalie und setzte sich mit Charitas auf das kaputte Roßhaarsofa der Madame Piepenbrink.

»Denk' dir, Mutter,« erzählte Charitas, »in der Scheune, wo ich gerade Holz holen sollte, hat er mir alles gegeben. Wir saßen jeder auf einem Strohbündel, als er mir die sechs Taler in den Schoß zählte. O, so viel Geld! Und damit sollte ich ganz allein fertig werden! Ich hatte ordentlich Angst!«

»Viel hast du mir wohl nicht zurückgebracht,« sagte Amalie lachend.

»Ach nein, hier ist es!« und Charitas schüttete einige Kupfermünzen aus ihrem Portemonnaie vor der Mutter Platz.

Ab und zu setzte Madame Piepenbrink sich an die andere Seite von Charitas, küßte sie herzhaft ab und strich ihr das dunkle Haar aus der Stirn. Madame Piepenbrinks Plattdeutsch verstand Charitas nicht, dafür desto besser die handgreiflichen Liebkosungen, die sie aus der Fülle ihres liebebedürftigen Herzens erwiderte.

Amalie drängte zu einem frühen Essen, sie hatte heute noch allerlei vor, und vielleicht hatte sie nur heute noch unumschränkte Macht über ihr Kind. Ein bißchen eifersüchtig war sie auch, sie hatte ihr Kind so lange entbehrt; und da sie nun sah, daß Madame Piepenbrink allerlei äußere Mittel zu Gebote standen, um ihr Liebeswerben bei Charitas zu unterstützen, da wollte sie sich ihr Eigentumsrecht wahren. Ihr Kind war es! Was dachte denn Madame Piepenbrink? Heute, ach die Paar armseligen Stunden wollte sie ihr Kind mit niemandem teilen, nein, nein, mit niemandem! Darum fort aus dem engen Stübchen, hinaus in die laut bewegte Stadt, wo kein Mensch einen Blick für ihr Kind hatte. Charitas dachte ganz anders, sie war müde von der Reise, ihr war es hier behaglich, kein Platz der Welt konnte ihr mehr Glück gewähren; hier endlich hatte sie die lang und schmerzlich entbehrte Mutter. Sie, die während der letzten Monate lieblos herum gejagt, gepufft und gescholten war, sie war wie durch einen Zauber plötzlich zum Mittelpunkt der beiden liebebedürftigen Frauen geworden, nichts konnte süßer sein, als von den beiden sich verhätscheln zu lassen.

»Komm,« sagte Amalie, als das Essen vorüber war, »komm, wir wollen ausgehen, ich will dir das schöne, wunderbare Hamburg zeigen.«

»Wat!« rief Madame Piepenbrink empört: »De Lütt schall utgahn? – Nix da! – De bliwt bi mi! – Se hett de lange Reis' vun Sachsen hierher makt, da is se doch mäud! – So'n dumm Tüg, hüt dat lütt Gör durch Hamborg to slepen! Bliw du man bi mi, min söte Deern. Ik hew schäune Kauken to'n Kaffee! Kumm, sett di dal, ik bün so alleen!«

Charitas sah fragend von einer zur anderen, aber die Mutter blieb fest, und Charitas wußte aus Erfahrung: Müdigkeit vorschützen nützte bei der energischen Mutter gar nichts. Amalie war gegen sich selbst bis zum Äußersten hart und streng, da war es ganz natürlich, daß sie es gelegentlich auch zu ihrem Kinde war.

Zunächst an den Hafen! – Ja, da riß das Kind aus dem sächsischen Bergwerksdorf die Augen auf. Wie weit dehnte sich hier die Welt vor den verwunderten Blicken! Diese Kolosse von Dampfern und Segelschiffen! Dieses Gewirr von Masten und Tauen! Und in und vor diesem Chaos kribbelte und krabbelte es von rührigen Menschen; es war, hier vom Stintfang ausgesehen, ein Bild, das sich unvergeßlich dem Gedächtnis einprägen mußte. Und da! – – Wirklich und wahrhaftig ein Schwarzer! – Wie das aussah, als der mit seiner rot- und weißgestreiften Hose mit affenartiger Behendigkeit an dem hohen Mast emporkletterte. Und hier unten, dicht vor den beiden, schwebte langsam und würdevoll ein riesiger Eisenarm in der Luft, er holte schwere Säcke aus dem geräumigen Bauch des großen Schiffes. Charitas hatte nicht Augen genug, um all den fremdartigen Vorgängen und Erscheinungen genügend folgen zu können, denn von den großen Schiffen wanderte ihr staunender Blick zu den vielen kleineren Dampfern, die, – es ist gerade als ängstete sich einer vor dem andern, – mit markdurchdringenden Pfiffen geräuschvoll aneinander vorüber stampfen. Dann wandert der Blick weit hinaus, wo draußen im Westen der herrliche Elbstrom in ruhiger Majestät dem Meere entgegen wallt. Dort sinkt gerade die rote Sonnenscheibe in die bewegte Flut und hinterläßt auf der breiten Wasserfläche einen blutig roten Streifen. Neben ihr tönt die Stimme der Mutter, die alles zeigt und erklärt. Aber es ist etwas fieberhaft Aufgeregtes und Unruhiges im Wesen der Mutter.

»Mutter, nach Hause!« bettelte Charitas.

Ach, wie konnte man so schlafmützig sein! Es gab ja noch so viel zu sehen und zu erleben! Im Vorbeigehen wollte Amalie noch ein paar bekannte Apothekerfamilien aufsuchen, sie möchte doch wissen, mit was für Augen »gebildete« Hamburger so ein sächsisches Dorfmädchen ansehen. Sie mußte sich dadurch ja Mut holen für ihren wichtigen Gang an die Alster. Also vorwärts! – Weiter! –

Der Schein der angezündeten Gaslaternen, verbunden mit dem dichten Nebel hüllte die Stadt in einen rötlichen Dunstkreis und erhöhte den Zustand des Traumhaften, in welchem Charitas sich durch ihre Müdigkeit und den beständigen Wechsel der Eindrücke schon vorher befand. Nach den Besuchen ging's an die Alster.

»Jetzt paß mal auf!« ermahnte die Mutter, »hast du dir je etwas ähnlich Schönes auch nur vorstellen können?« und Charitas schaute hinunter in die sanft bewegte Flut, wo sich die Gasflammen bis in unendliche Tiefen als zitternde Feuersäulen spiegelten.

Und weiter wanderten sie, bis sie plötzlich in dem ruhigen, mit Marmorstatuen geschmückten Windfang landeten. Johann öffnete die große Glastür.

Ach, wie Amalie das Herz klopfte!

Nun ein kurzes Warten in der halbdunklen Bibliothek. Verwundert, staunend sieht Charitas die Pracht um sich. Bis an die hohe, reich verzierte Decke stehen dunkle Glasschränke, angefüllt mit Büchern. In der Mitte steht ein großer, mit grünem Tuch beschlagener Tisch, an der Fensterwand sieht man einen Riesenglobus und ein großes Fernrohr. Dicht über den beiden schaut ein kluges, schönes Männergesicht aus breitem, reichem Goldrahmen auf die Beschauenden nieder. Das Gesicht ist so lebendig, die großen braunen Augen sehen fragend, aber freundlich auf das fremde Kind.

Das alles sieht Charitas, und gerade will sie fragen, wer der Herr ist, da hört sie draußen heiteres Lachen und lebhaftes Sprechen. Erschreckt flüchtet sie sich hinter die Mutter.

Da wird von demselben feingekleideten Herrn mit den glänzenden schwarzen Löckchen und den roten Backen, der vorhin die Glastür öffnete, eine hohe Schiebetür zur Seite gerollt, das Gas hochgeschraubt und ein paar Stühle an den großen Tisch gerückt, dann verschwindet er, und durch die geöffnete Tür tritt ein junges, bildschönes Paar.

Das offene, gütige Gesicht des Herrn ist von einem dunklen Vollbart umrahmt, aber unwillkürlich bleibt des Kindes Blick an der anmutigen Gestalt an seiner Seite hängen. Auf der schlichten schwarzen Sammettaille funkeln zahllose dunkle Perlen, die im Glanz des Lichtes den Eindruck von unzähligen Tautropfen machen.

»Ach, Sie sind hier, liebe Frau Dietrich!« sagt die Dame mit großer Herzlichkeit und streckt Amalie freundlich die Hand entgegen.

»Haben Sie denn noch keine Nachricht von Ihrer Tochter?«

»Hier ist sie,« sagt Amalie mit vor Aufregung bebender Stimme, und zu Charitas gewandt, die sich gern verstecken möchte, flüstert sie leise: »Sei nicht so albern! Gleich nimm dich zusammen!« und laut fährt sie fort: »Komm, sag' Herrn und Frau Doktor guten Abend!«

»Sie ist heute früh angekommen,« sagt sie zu Frau Doktor gewandt.

»Heute früh?« fragt Frau Doktor erstaunt, »bist du denn die Nacht gereist?« und sie reicht Charitas, die jetzt verlegen und unbeholfen vorwärts stolpert, freundlich die Hand. –

Charitas ist jetzt von der Gasflamme hell beleuchtet. Das runde Kindergesicht ist von einem rotwollenen Kopftuch eingerahmt. Dieses Kopftuch ist das Erbe der verstorbenen Lehmann-Christel aus Voigtsberg, die sie nie anders als im Tode gesehen hat. Das kurze, graue Mäntelchen, – ihr ganzer Stolz – die Mutter hat es ihr mit aus Holland gebracht, – ist mit schottischem Wollstoff eingefaßt. Das Konfirmationskleid ist auf ferne Zukunft eingerichtet, es ist so lang, daß sie stolpert, vorsichtshalber ist aber noch ein handbreiter Aufsäumer darin, sie kann noch viel wachsen, und sie hat es nötig, denn sie ist noch recht klein und schmächtig für ihr Alter. – Die Schuhe, die sie anhat, sind plump und mit Nägeln beschlagen; da suchen die Füße vergeblich nach einem Fleckchen, das nicht mit dem dicken, schön geblümten Teppich belegt ist. – Ach, – und nun steht sie so in der erbarmungslosen Helligkeit; sie kann ihre verlegene Gestalt nicht verbergen, und da schauen nun sowohl lebendige wie gemalte Augen auf das arme Kind herab. –

Einige Fragen werden an Charitas gerichtet, und dann wird sie in ein Nebenzimmer geschickt, die große Tür schließt sich hinter ihr, und sie sieht sich mutterseelenallein in einem ebenso vornehmen Raume. So weltentrückt kommt sich das Kind vor. Die Stimmen, die sie soeben vernommen, klingen fremd und traumhaft in ihrer Seele nach. Die Bilder an den Wänden stellen Dinge dar, für die sie keine Anknüpfung hat, selbst die Luft, die sie hier atmet, hat etwas vornehm Fremdes an sich, alles, alles kommt ihr durchaus unwirklich vor. Ja, auch sogar die Menschen haben für ihre Vorstellung etwas Traumhaftes, sie bewegen sich in prächtigen Festgewändern so unhörbar, sie bedienen sich einer so ungewöhnlich schönen Sprache, sie sprechen viel schöner als die Könige und Edelfräulein auf dem Siebenlehner Theater, das seinerzeit doch so unauslöschlichen Eindruck auf Charitas gemacht hatte. Jawohl, so etwa kam es ihr vor, wie im Theater. Man sah sich das Stück staunend an, aber man war nur Zuschauer, denn wenn es zu Ende war, ging man wieder hinaus in die rauhe Wirklichkeit und träumte von all der Pracht. Ach den warmen, weichen, feuchten Duft, der aus dem geöffneten »Wintergarten« ins Zimmer strömte, den möchte man mitnehmen, den möchte man festhalten. O, was würde die Lehmanne Gustel in Voigtsberg oder die Nendel-Ernestine in Siebenlehn wohl sagen, wenn sie ihnen von den heutigen Erlebnissen erzählen würde? Sie hörte sie: »Ach du!« würden die sagen, »jetzt denkst du dir aber wieder mal was aus, so was gibt's doch gar nicht!«

So versunken war sie in ihre Träumereien, daß sie heftig zusammenschrak, als sich plötzlich hinter ihr die Tür öffnete und Herr und Frau Doktor hereintraten. – Ja, es waren nur die beiden, die Mutter kam nicht mit. Da wollte Charitas natürlich zu ihr in die Bibliothek, aber sie wußte mit der Tür nicht Bescheid, und die Dame schien ihre Bemühung nicht zu verstehen, sie sagte: »Wie? du stehst noch immer? Aber so setz' dich doch, komm hierher an den Tisch.«

O weh! Sie sollte noch mehr in die Helligkeit, näher den prüfenden Blicken! Und wieder wurde gefragt, und sie antwortete wie im Traum.

Ja, wo war die Mutter? Die ging unterdessen einsam, tiefbewegt durch die Straßen in ihr kleines, ärmliches Stübchen zu Madame Piepenbrink. Sorgen und Zweifel, wie Charitas die plötzliche, unaufgeklärte Trennung ertragen würde, verscheuchten den Schlaf aus ihren Augen.


Am nächsten Tage konnte Amalie den Abend nicht erst abwarten, schon am Nachmittag mußte sie heute an die Alster und ihr Kind aufklären.

Als Johann ihr die Tür öffnete, sagte er ihr, Charitas sei mit Frau Doktor ausgefahren, oben im Turmzimmer könne sie sie erwarten, und er zeigte ihr den Weg dahin.

Und bald danach stürmte Charitas die Treppe herauf und lag im nächsten Augenblick in den Armen der Mutter.

»Aber Kind!« rief die Mutter erregt, und die dicken Tränen liefen ihr die Backen herunter, »wie siehst du denn aus? Das ist ja gar nicht mehr meine Charitas! Wer hat dich denn so herausgeputzt? Wie eine kleine Dame siehst du ja aus! Auf der Straße wäre ich sicher an dir vorbeigegangen, so fremd erscheinst du mir!«

»Das sind alles Frau Doktors schöne Sachen, Hut, Mantel, Stiefel, alles ist zu groß für mich, aber ich durfte ja mit ausfahren, und dafür hat sie mir das alles geborgt, ich trage es wieder in die Stube, wo der große Spiegel ist. Aber Mutter! Fortgegangen bist du gestern und hast mir nichts gesagt, und hier wagte ich niemanden zu fragen. Nun erzähl' mir aber, was das alles bedeutet. Heute gehe ich doch mit dir?«

»Ich habe dir freilich viel zu erzählen, komm, setz' dich ganz nahe zu mir,« und Amalie rückte auf dem kleinen Rohrsofa zur Seite, um Charitas Platz zu machen. Und nun erzählte sie ihr alles.

»Was aus dir wird,« schloß sie, »das weiß ich demnach augenblicklich selbst noch nicht, das kommt auf dich an; gewiß ist aber, daß ich auf Jahre hinaus nach Australien gehe, und daß es mir dadurch möglich wird, etwas für deine Erziehung zu tun. Staunst du nicht? Unsere Not war so groß, und nun sieh mal, wie Gott durch Menschen geholfen hat: Weg hat er allerwegen, an Mitteln fehlt's ihm nicht! – Wenn es nun so geht, wie ich mit dir hoffe und wünsche, so kannst du endlich dazu kommen, viel zu lernen. Hast du dir das nicht immer gewünscht, und bist du nun nicht sehr glücklich, wenn es dir geboten wird?«

»Ach,« sagte Charitas schluchzend, »freilich habe ich es mir gewünscht, und ihr habt es mir früher auch immer versprochen, aber ich bin so dumm geworden, ich bin nun wohl zu alt, und ich möchte auch doch lieber bei dir bleiben. Ich bin ja noch so wenig bei dir gewesen. Frag' doch lieber den Herrn, der dich so weit wegschickt, ob ich nicht mit darf. Sag' ihm, ich hätte dir in Sachsen auch geholfen. Nimm mich mit! Bitte, bitte, nimm mich doch mit!«

»Das geht nicht,« sagte Amalie streng, »du bist töricht und kurzsichtig! Was sollte denn da aus dir werden? Hab' doch Vertrauen zu mir! Ich will ja doch nur dein Bestes. Ich möchte dir heute soviel sagen, denn mir ist's, als müßte ich fürs Leben Abschied von dir nehmen und dir noch einmal alles ans Herz legen. Sieh mal, du mußt nicht so viel an deine Sehnsucht denken. Setz' dir ein Ziel, das du erreichen willst. Denk', daß du Lehrerin werden willst. Diesem Ziel jage ernstlich nach. Dazu gehört vor allen Dingen, daß du dich selbst erziehen läßt. Du wirst sehr viel nachzuholen haben, denn es ist vieles versäumt, und da wird es dir wahrscheinlich nicht leicht werden. Wenn andere keine Geduld haben, so verlier du selbst sie nicht mit dir. Schenkt man dir aber Vertrauen, so sei das ein besonderer Sporn; suche es zu rechtfertigen. Vertrauen legt doppelt Verpflichtungen auf, das fühle ich jetzt. Ich würde mich zu Tode schämen, wenn ich die Erwartungen, die man auf mich setzt, nicht erfüllen könnte. Ich wünsche, daß du auch so empfindest. Kommen schwere Stunden, so denke, daß sie deinem Herzen ebenso notwendig sind, wie der Regen dem Erdreich. Achte auf die Winke Gottes in deinem Leben!«

Schluchzend versprach Charitas alles, was die Mutter verlangte.

Nach einigen Tagen sagte Frau Doktor zu Amalie: »Charitas ist noch so unentwickelt, sie ist wirklich noch ein ganzes Kind, da halte ich es für das beste, ihre Konfirmation vorläufig ganz zu ignorieren. Ich meine damit, wir ziehen ihr wieder kurze Kleider an, geben ihr einen Schulranzen und schicken sie hier erst mal ein Jahr in eine höhere Töchterschule. Für manche Fächer, wie z. B. für Sprachen, müßte sie Privatstunden bekommen. Das ist so fürs erste meine Ansicht, was dann weiter wird, muß abgewartet werden. Reisen Sie denn schon bald?

»Ich gehe nächste Woche erst noch einmal nach Sachsen.«

»O wirklich! Das ist ja gut. Inzwischen bleibt Charitas bei uns, wir lernen sie besser kennen und können uns bis zu Ihrer Rückkehr schon eine Meinung über sie bilden.«

Das sah Amalie ein.


An einem der darauf folgenden Tage holte Amalie Charitas ab, um mit ihr an den »Alten Wandrahm« zu gehen. Sie traten in das kleine Privatzimmer von Godeffroy.

»Da ist sie!« sagte Amalie.

Godeffroy sah belustigt auf und sagte: »So, so! – Das ist sie? – Wie ich höre, willst du hier tüchtig lernen? – Tu das! – Hier in Hamburg wirst du Gelegenheit genug finden. – Ja, mach' deiner Mutter Freude; und wenn erst die schönen Sachen aus Australien kommen, dann sehe ich dich wohl öfter, du wirst dir doch alles ansehen wollen? – Ja, sei brav und fleißig! – Frau Dietrich, hier ist ein Verzeichnis von den Sachen, die wir bis jetzt für Sie besorgt haben, es wäre ganz gut, wenn Sie auf dem Speicher einmal nachsehen möchten, ob das, was auf dem Papier steht, auch wirklich da ist; fragen Sie Hermann, wo er Ihre Sachen hingelegt hat.«

Godeffroy schüttelte beiden die Hand, und Amalie nahm Charitas mit über den geräumigen Hofraum hinten nach dem Speicher. Auf dem Boden lagen überall Waren aufgespeichert, durch eine Luke fiel das nötige Licht herein. Vor der Luke hing ein ungewöhnlich, dickes Tau, an dem ein starker eiserner Haken befestigt war. Es machte einen unvergeßlichen Eindruck auf Charitas, als sie zu der Luke heraussah. Die unendlich hohe Hauswand endete unten direkt im Wasser. Also diese laute Stadt, in der Charitas vor wenigen Tagen am Hafen ein so sinnverwirrendes Rufen, Läuten, Pfeifen und Stampfen gehört hatte, diese selbe Stadt barg auch Stätten in sich, wo es ganz still war, wo man träumen konnte? Wie der Blick gehalten wurde von der trüben, träge dahinfließenden Flut! Schwerbeladene Fahrzeuge wurden von hünenhaften Gestalten langsam vorwärts bewegt, stehend lenkten sie sie mit langen Stangen, die sie tief ins Wasser senkten. Und das alles ging schweigend vor sich, kaum einen Laut hörte man von dieser Luke aus. Während Charitas ganz versunken in den Anblick des Fleetes war, ging die Mutter suchend auf dem Boden umher, dann rief sie Charitas zu sich und sagte: »Sieh dir mal an, was hier liegt. Das kennst du nicht. Das sind zerschlagene Kokosnüsse, man nennt das ›Kobra‹. Diese Kobra ist der Haupthandelsartikel, den die Firma Godeffroy von der Südsee importiert. Von hier kommt die Ware in die Fabriken und wird zu Öl verarbeitet. Ganze Schiffsladungen Kobra kommen hierher. Sieh, hier liegen nun Waren, die mit hinübergenommen werden: bunte Kattune, große Perlen, Spiegel und dergl. mehr, die werden drüben zum Tausch verwandt.

So, und hier sind wohl meine Sachen. Nimm du mal das Verzeichnis und lies vor, ich sehe nach, ob alles da ist.«

Und Charitas las:

Rebau, Naturgeschichte.
Müller, Pflanzenstaat.
Leunis, Pflanzenkunde, 4 Bände.
Wildenow, Kräuterkunde.
Willkomm, Pflanzenatlas.
David Dietrich, Pflanzenlexikon.
Williams, englisches Diktionär.
3 englische Lehrbücher.
1 Lupe.
1 Mikroskop.
25 Stück Blasen.
6 Insektenkästen.
10 Ries Papier.
Lumpen zum Verpacken.
6 Blechdosen mit Spiritus.
20 Pfund Gips.
20 Pfund Heede.
1 Schachtel Insektennadeln.
3 Buch Seidenpapier.
5 Buch Packpapier.
4 Beutel Hagel.
10 Pfund Pulver
1 Schachtel Zündhütchen.
2 Kisten Gift.
4 Kisten für lebendige Schlangen und Eidechsen.
3 Fässer Salz.
100 Gläser mit großen Stöpseln.

»Es stimmt,« sagte Amalie, und die beiden traten den Heimweg an.


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