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Wie war die Cordel zu ihrem weißen Haar gekommen? – Ach, das war eine traurige Geschichte.
Im Lauf der Jahre waren den Nellens vier Jungen geboren. Nun war die Wohnstube, die zugleich als Küche, Werkstatt und Laden benutzt wurde, nicht grade klein, aber als die vier Jungen heranwuchsen, wurde der Platz knapp, und zumal im Winter riß der Cordel oft die Geduld und seufzend entfuhr ihr der Ausruf:
»Warum muß denn grade ich nur solche wilde Spitzbuben haben! Nicht bändigen kann man die Schlingel! Andere haben kleine, sanfte Mädchen, die still sitzen oder der Mutter freundlich zur Hand gehen, aber grade ich muß solche wilde Bande haben!«
Und recht hatte sie: wo ein toller Streich auszuführen war, da waren gewiß die Nelleschen Jungen dabei. Als einen Hauptspaß hatten sie es angesehen, einem Bauer in Breitenbach den Wagen ins nächste Dorf zu fahren, mochte der Eigentümer sehen, wie er ihn wieder bekam. Im Herbst schnitten sie in ausgehöhlte Kürbisse schreckliche Fratzen, steckten sie auf eine Heugabel und ließen sie abends, nachdem sie ein Lichtstümpfchen hineingestellt hatten, in die Oberstuben sehen. Wenn die erschreckten Bewohner aufschrien, jauchzten die Jungen vor Vergnügen. Und wenn Klagen einliefen, jammerte Cordel: »Was ich an euch wohl noch alles erlebe! Nichts Gutes, das ist sicher!«
Eine Ausnahme machte der Jüngste, das Fritzchen.
»Da hat sich die Natur geirrt,« sagte Cordel, »der hätte ein Mädchen werden sollen.«
Fritzchen war ein zutrauliches, anschmiegendes Kind, das sich durch sein fröhliches Geplauder aller Herzen eroberte. Mit besonderer Liebe hing er an der Mutter. Er war immer bei ihr, trieb mit ihr die Gänse an den Bach, holte in seinem kleinen Tragkorb Streu und Futter für die Ziege und hatte für die Neckereien der großen Brüder nur einen traurigen, fragenden Blick aus seinen großen blauen Augen.
Als Fritzchen fünf Jahr alt war, sollte Nossener Markt sein. Nelle holte die große Marktkiste herbei, und geschäftig half das Kind dem Vater.
Mit welcher Freude schleppte er alles herbei, hatte ihm doch der Vater versprochen, er dürfe diesmal mit zum Jahrmarkt. Was kam da alles in die große Kiste! Zuerst die schweren Sachen: Lederhosen, Geldkatzen, schön gesteppte Taschen, die die Frauen an der Seite trugen, ferner Hosenträger und Handschuhe, und ganz oben hin kam das Lustige, Bunte: all die vielen, vielen Lederbälle. Nein, wie die hübsch waren, aus soviel bunten Lederläppchen waren sie zusammengenäht, und Fritzchen kannte sie einzeln, er hatte ja mit geholfen, hatte mit seinen kleinen Händen die Sägespäne hingereicht, die die Mutter hineinstopfte.
»Immer mehr her!« hatte die Mutter gesagt, »solch ein Ball kann gar viel in seinem runden, bunten Bäuchlein haben, ehe er satt ist!«
Und die Mutter mußte von den vielen, vielen Kindern erzählen, die durch ganz Sachsenland Vater Nelles schöne Lederbälle kauften, denn Vater Nelle war berühmt grade wegen der Bälle.
Am nächsten Morgen wurde die Kiste auf den Schiebbock gehoben, und klopfenden Herzens trottete Fritzchen neben dem Vater her. Der Weg war doch weit für den kleinen Jungen. Da war der große Berg von der Niederstadt in die Oberstadt, und wie lang dehnte sich nun die Pappelallee bis zum nächsten Städtchen. Aber nun waren sie da, und Fritzchen sah mit klugen Augen, wie der Vater eine schwarze Rolle entfaltete und sie vor die Bude hing. Er sah nachdenklich auf die weißen Buchstaben und fragte: »Was ist das, Vater?«
»Das ist das Schild,« sagte der Vater, und er las ihm vor: »Gottlieb Nelle. Beutler aus Siebenlehn.« Und das Kind freute sich und fühlte sich wichtig, daß alle die vielen Leute jetzt lesen könnten, wer sie wären. Nachdem die Bude eingeräumt war, wollte Fritzchen zum Schachtelmann, der hatte so schöne Flöten und in den vielen Schachteln die schönsten Häuser und Tiere. Aber noch ehe er den Schachtelmann erreicht hatte, war er müde und übersättigt. Ein plötzliches Heimweh befiel ihn, er fürchtete sich vor den vielen fremden Gesichtern und verlangte stürmisch heim zur Mutter. Nelle übergab seine Bude dem Nachbar und brachte das Kind in den nahen Gasthof. Die Wirtin hatte es eilig, schloß aber eine Stube auf und gab Nelle den Rat, das Kind aufs Bett zu legen.
»Komm, Fritzchen, du bist müde,« sagte der Vater, »leg' dich hin und schlaf, komm, ich bleib' bei dir.«
Und der Vater setzte sich ans Bett und wartete, bis Fritzchen eingeschlafen war. Nun ging Nelle in seine Bude. Nach einer Stunde kam er, um nach dem Kinde zu sehen, – aber – das Bett war leer! Niemand im Hause hatte das Kind gesehen.
»Der ist nun ausgeruht und sieht sich die Buden an,« sagte die Wirtin.
Hastig durcheilte der Vater den Markt, er fragte alle Bekannten, vergebens, niemand hatte das Kind gesehen.
»Bei den Bänkelsängern oder bei den Seiltänzern wird er sein,« so sagte man tröstend, aber auch da war Fritzchen nicht, auch nicht bei den Pfefferkuchen und nicht bei den wilden Tieren. Ach, dann war er wohl nach Hause gelaufen. Eilig warf Gottlieb seine Ware in die Kiste, stellte sie samt dem Schiebbock in den Gasthof und eilte heim. Keuchend trat er in die Stube.
»Wo ist Fritzchen?« fragte er erregt.
»Wo soll er denn sein? Du hast ihn doch mitgenommen?« sagte Cordel erbleichend. Ach Gottlieb! Wo hast du ihn? Er ist doch wohl nicht in die Mulde gegangen?«
»Bewahre!« sagte der Vater, dazu ist er zu groß. Er weiß, daß er nicht ins Wasser darf. Er muß sich verlaufen haben, aber wo soll ich suchen?«
Und Gottlieb suchte. Als der Abend kam, stellte sich Gottlieb ein, aber ohne das Kind. Ach, die lange, bange Nacht! – Mit Tagesgrauen ging der Vater wieder an seine trostlose Aufgabe. Natürlich wieder nach Nossen. Konnte das Kind die Neugasse entlang gegangen sein? Gottlieb verfolgte die Straße weiter, – weiter, bis er nach Marbach kam. Auch hier fragte er, ob man nicht einen kleinen verirrten Knaben gesehen hätte. Im Gasthofe war ein Kind, das sich verlaufen hatte. Zitternd, weinend hastete Gottlieb ins Wirtshaus. Und da war Fritzchen. – Aber sonderbar, er zeigte keine Freude beim Anblick des Vaters, auch nicht als dieser ihn zärtlich an sich drückte. Schlaff ließ er das Köpfchen auf des Vaters Schulter fallen, und als die weiche Wange des Vaters Gesicht berührte, da fühlte der, daß des Kindes Stirn und Bäckchen fieberheiß waren, er hörte, wie die kleine Brust arbeitete und wie der Atem pfiff. Auf alle zärtlichen Fragen sagte das Kind nur: »Heem! Heem!«
Gottlieb hörte wie im Traum, daß die Wirtsleute erzählten, es sei wohl nicht bei sich, es habe nichts genossen und sei doch seit gestern bei ihnen; ganz verstört habe es nur immer das eine Wort gerufen: »Heem! Heem!« Schwere Tropfen liefen dem armen Vater über die Wangen, während er sein krankes Kind nach Hause trug. Nur wenige Tage noch lebte Fritzchen. Der Doktor aus der Oberstadt sagte, der Kleine sei an Gehirnentzündung gestorben.
Von da an war Cordels Haar gebleicht. –
Es sollte noch schlimmer kommen. In der Niederstadt wütete die Halsbräune, auch bei Nellens zog sie ein und raffte in einer Woche den Paul und den Franz hinweg.
Wie war die Stube nun so groß, still und leer!
Auf dem Gottesacker drei Gräber!
Nun war nur der Älteste, Karl, noch da, der, als er herangewachsen war, das Handwerk des Vaters lernte.
Cordel aber, die ein zartes Gewissen hatte, nahm sich den Tod ihrer drei Jungen schwer zu Herzen; da sie manchmal gescholten hatte, fühlte sie ihr Schicksal als Strafe und quälte sich beständig mit Selbstvorwürfen, trieb einen übermäßigen Kultus mit den Gräbern, und die Nachbarn sagten mit bedauerndem Kopfschütteln: »Die arme Cordel! Ach Gott, die wird wunderlich!« – Dann aber überwand sie doch ihr Leid, das war, als ihr nach sechs Jahren wieder ein Kind geschenkt wurde. Und diesmal war es sogar ein Mädchen. In der Taufe erhielt die Kleine den Namen Concordia Amalie. Cordels Augen wurden wieder hell, die Stimme fröhlich und der Gang fest. Das Herz wurde wieder weit; es fühlte die Not und das Glück der anderen noch viel tiefer als ehedem. Wenn sie aber das lachende gesunde Kind ansah, da faltete sie ganz im stillen die Hände und ihre Lippen flüsterten: »Der dir alle deine Sünden vergibt und heilet alle deine Gebrechen.«