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Als Fräulein Kläre Boßhart – das war der Name der Dame – sah, was sie durch ihre Unentschlossenheit angerichtet hatte, verlor sie vollends die Besinnung; das Kind im Arme blieb sie weinend stehen; ans Helfen dachte sie aber nicht.
Zum Glück kam ihre Freundin, Frau Professor Selma Denzel, aus dem Hause und befahl die Ertrunkene sogleich in ihr Zimmer zu schaffen. Sie half gern und half mit Umsicht; überhaupt war sie eine tüchtige und neben ihrer Gelehrsamkeit auch praktische Frau. Sie hatte gelesen, wie man Ertrunkene zum Leben erweckt, ihre Kenntnisse wollte sie verwerten; sie that das sogar nicht ungern; als aber Ulli nach zwei Stunden noch immer kein Lebenszeichen von sich gab, blieb ihr nur noch eine Hoffnung, ihr Neffe. Doktor Fritz Manhart befand sich, nachdem er sein medizinisches Staatsexamen gemacht hatte, auf einer Erholungsreise in die Alpen und hatte versprochen, sie zu besuchen. Sie erwartete ihn mit dem Sechsuhrzuge. Weil sie wußte, daß alles davon abhing, mit den Bemühungen nicht nachzulassen, erschöpfte sie mit der bäuerlichen Hausfrau und ihrer alten Köchin die Kräfte bis aufs äußerste. Endlich kam der Neffe; er verlor keine Zeit mit Fragen, warf den Hut in einen, seine Plaidtasche in einen andern Winkel; die Augen unverwandt auf Ulli gerichtet, begann er sogleich die Untersuchung. Dann drehte er sich zu seiner Tante um und sagte: »Gratuliere; du hast ihr das Leben gerettet, Frau Professor.«
Die gute Frau empfand bei diesen Worten etwas, das sie noch gar nicht gekannt – ein Gefühl, das aus dem Herzen emporquoll und die Augen mit Wasser füllte; sie fühlte sich nicht mehr erschöpft und blieb zu jeder Dienstleistung bereit. Von Zeit zu Zeit guckte Kläre mit einer Armesündermiene herein; als sie merkte, es ginge gut, lief sie hinaus, um das Buch zu suchen; das Kind war schon längst in den Armen der empörten Frau Schellhas. Sie fand den Schopenhauer mitten in einer Pfütze – von dem Wetter waren noch einige Pfützen zurückgeblieben; der Weg war einsam. Niemand hatte den Philosophen gerettet, so war er ganz durchtränkt von schmutzigem Wasser und unlesbar. »Wie mag er nur in die Pfütze gekommen sein?« dachte Fräulein Kläre, sie konnte aber den Zusammenhang nicht herausfinden und trug das Buch mit zweifelndem und verwirrtem Gemüt nach Hause.
Unterdes war Ullis Lebensfunke wieder geweckt worden, und als Fräulein Kläre hineinguckte, richtete sich die Totgeglaubte auf und machte eine Bewegung, als wolle sie aus dem Bett springen. Der Arzt hielt sie zurück; sie sträubte sich. »Das Kind,« murmelte sie erst leise; dann rief sie immer lauter: »Kascha! Kascha! Wo ist das Kind?« Auf einmal stieß sie einen markerschütternden Schrei aus, riß die Augen ganz weit auf und stieß den Arzt von sich. »Ich habe das Kind getötet,« brachte sie hervor. »Ich will sterben.«
»Schafft das Kind herbei,« rief der junge Arzt, »die Vorstellung kann sich sonst in dem Mädchen festsetzen.«
Der Kopf von Fräulein Kläre verschwand; sie fühlte, daß sie jetzt etwas gut machen könne; also raffte sie ihr leichtes Sommerkleid auf und lief – ja die elegante Dame lief wirklich – die schmutzige Dorfstraße hinunter bis zur Schneidemühle; sie that noch mehr; sie redete der Landessitte gemäß Frau Schellhas mit »gnädige Frau« an, obgleich sie ihr eine solche Anrede in Norddeutschland nicht gegönnt haben würde. Sofort brach die beleidigte Mutter in die heftigsten Anklagen aus. Fräulein Kläre hatte keine Zeit sie anzuhören. »Gnädige Frau,« erklärte Fräulein Kläre mit ihrem norddeutschen Dialekt sehr bestimmt, »wenn Sie daran schuld sind, daß das Kindermädchen seinen Verstand verliert, werden Sie sich vor dem Gericht zu verantworten haben.«
Frau Schellhas wußte, daß mit Gerichten nicht zu spaßen ist; sie hatte ihrer Dienstmädchen wegen schon öfter mit ihnen zu thun gehabt; sie lieferte Kascha deshalb aus.
Sobald Ulli das Kind erblickte, schrie sie wieder auf; diesmal vor Freude; sie preßte es an sich, küßte es und rief es mit den zärtlichsten Namen, als sei's ihres Herzens Liebling.
Nach diesem Freudenausbruche, den der Arzt kürzte, war Ulli aber vollständig ermattet und schlief ein. Sie schlief die ganze Nacht hindurch, und obgleich sie am andern Morgen behauptete, sie wäre gesund und dürfe aufstehen, hielt sie Dr. Manhart noch in Klausur und gab, als er am Nachmittag wieder abreiste, strenge Befehle; junge Ärzte sind immer die ärgsten Tyrannen. Ulli wurde auch auf Krankenkost gesetzt, und weil ihr das Reden verboten war, ließ sich nur die eine oder die andre Dame auf Augenblicke sehen. So hatte sie Zeit zum Nachdenken. Zuerst empfand sie des Kindes Rettung wie einen Glücksrausch; die furchtbaren Augenblicke, in denen sie glaubte, auf ihr Gewissen eine so schwere Schuld, wie den Tod des ihr anvertrauten Kindes, geladen zu haben, waren so entsetzlich gewesen, daß der Schmerz um Silvia, der Schreck, als sie den Onkel nicht lebend antraf – alles, alles was sie erlebt hatte, der Qual nicht nahe kamen, die sie dabei empfand, und ihre Dankbarkeit gegen Gott wurde zu einem Gebete, das ohne Worte aus tiefstem Herzen zum Himmel aufstieg.
Eine große Veränderung ging in ihrem ganzen Wesen vor; dem Tode schon verfallen, wurde sie dem Leben noch einmal zurückgegeben. Es war, als sei ein Schleier von ihren Augen weggezogen; die Welt kam ihr ganz anders vor. Es war nicht mehr die von Nebel umhüllte einsame Straße, die sie mut- und hoffnungslos dahinwanderte, alles schien ihr sonnig und hell; eine grenzenlose Lust zu leben und glücklich zu sein, war zugleich mit dem neuen Leben wiedergekehrt.
Aber mit großer Strenge saß Ulli über sich selbst zu Gericht; als Buße legte sie sich auf, ein Jahr bei Frau Schellhas auszuhalten und während dieser Zeit treu und zuverlässig ihre Pflichten gegen die Kinder auszuüben, auch jede aufgetragene Arbeit willig zu verrichten.
Am andern Morgen, als sie erwachte, fand Ulli ihre getrockneten Kleider am Bett und stand sogleich auf. Sie erkannte, daß sie sich bei feingebildeten Damen befinden müsse. Die Stube war nur eine niedrige, ganz einfach möblierte Bauernstube; aber da stand ein tragbares Büchergestell mit gut gebundenen Büchern und verschiedene Photographien in Rahmen von cuivre poli. Dazwischen Wiesenblumen in kleinen antiken Vasen; eine höchst elegante Schreibmappe, eine Feldstaffelei, einige Landschafts- und Blumenskizzen an die Wand geheftet, lauter Dinge, die auf die feine Bildung der Bewohnerinnen schließen ließen.
Schon die Sprache der Damen, so wenig Worte sie auch gewechselt hatten, berührte Ulli sympathisch. »Ach, könnte ich hier bleiben,« dachte sie. »Solche Damen zu bedienen, wäre nicht schwer; aber dieser Frau Schellhas zu gehorchen, das ist wirklich eine harte Buße.«
Ulli trat vor das Haus; unter einer breitästigen Linde hatten die Damen eben das Frühstück eingenommen. Steif wie eine Bohnenstange – wie immer wenn ihr etwas schwer fiel – ging Ulli auf die Frau Professor zu: »Erlauben Sie, daß ich Ihnen für alles, was Sie an mir gethan haben, danke.«
Die Damen tauschten einen Blick. »Setzen Sie sich, mein Kind,« sagte die Frau Professorin.
Ulli blieb stehen. »Wenn Sie nichts dawider haben, möchte ich in meinen Dienst zurückkehren.« Sie war bei diesen Worten brennend rot geworden; es kostete ihr große Überwindung, von ihrem ›Dienst‹ zu sprechen.
»Ich kann Ihnen leider nicht verschweigen, daß Frau Schellhas ein kleines Bündel Sachen herübergeschickt hat und abgereist ist.«
Ulli wurde vor Scham noch röter. »Sie will mir ihre Kinder wohl nicht mehr anvertrauen?«
»Sie können ihr das nicht gerade verdenken, mein Kind.«
»Ich würde mich aber gebessert haben; ich war ein sehr schlechtes Kindermädchen; aber ich hatte mir gelobt, mich zu bessern.«
Wieder warfen sich die Damen einen Blick zu. Das junge Mädchen redete und benahm sich nicht wie ein gewöhnliches Dienstmädchen. Fräulein Kläre hatte kein Auge von Ulli verwendet; jetzt sagte sie ganz ruhig, als führe sie in einer Unterhaltung fort: » Parlez-vous français?«
» Oui, Madame,« entgegnete Ulli, ohne sich zu besinnen; aber auch ohne die Augen aufzuschlagen.
» Do you speak English?« kam jetzt die zweite Frage, und ebenso prompt erfolgte Ullis Antwort: » Yes, but not very good.«
»Wenn Sie eine gute Erziehung genossen haben, wie kommen Sie dazu, Kindermädchen zu werden?« fragte jetzt die Frau Professor schärfer.
Anstatt zu antworten, stürzte Ulli vor ihr nieder und rief leidenschaftlich: »Stoßen Sie mich nicht fort. Ich will alles thun, was Sie verlangen. Ich will wie eine Magd arbeiten; aber stoßen Sie mich nicht von sich.«
Die Frau Professor war praktisch. »Stehen Sie auf, mein Kind,« sagte sie. »Eine solche Sache will überlegt sein; zuerst müssen Sie mich mit Ihren Schicksalen bekannt machen.«
Fräulein Kläre aber war romantisch; sie warf ihrer Freundin einen zornigen Blick zu: dann rief sie auf italienisch, in der Hoffnung, daß Ulli diese Sprache nicht verstünde: »Ich finde, wenn man die Frauenfrage diskutiert, wie du, darf man ein solches Mädchen nicht von der Schwelle weisen.« Sie packte ihre Näharbeit zusammen, besann sich dann aber, daß es interessanter wäre, sich nicht beleidigt zurückzuziehen, sondern der Unterhaltung beizuwohnen.
Die Frau Professor hatte sie mit einem, wie Kläre vorkam, ›malitiösen Lächeln‹ angeblickt. Sie wandte sich Ulli zu. »Geben Sie Ihren Bericht, mein Kind,« sagte sie und nahm jetzt auch ihre Strickerei zur Hand; mit andern Arbeiten gab sie sich nicht ab, weil sie größere Aufmerksamkeit erforderten, und Frau Professor fand, daß man diese auf würdigere Gegenstände, als auf Handarbeiten, verwenden müsse.
»Soll ich die ganze Geschichte erzählen – von Anfang an, oder nur seit meiner Ankunft in Wien?« fragte Ulli und sah die Dame mit ihren ehrlichen Augen offen an; die Frau Professor konnte nicht länger an ihrer Wahrhaftigkeit zweifeln.
»Wenn Ihre Lebensschicksale nicht den ganzen Vormittag beanspruchen, denke ich, daß es das beste ist, Sie berichten gleich von Anfang an.«
Ulli war bald mit ihrem Berichte zu Ende; denn sie gab nur Thatsachen, ohne jede Ausschmückung.
»Selma, laß uns dieses Mädchen bilden!« rief Fräulein Kläre auf italienisch. Frau Professor aber sagte trocken: »Warum haben Sie mir keinen Namen genannt?«
»Selma, wenn du das arme Kind quälst, nehme ich es an, gehe von dir fort und werde es allein bilden,« rief Fräulein Kläre erbittert, aber italienisch; dann wandte sie sich zu Ulli. »Ich verstehe, daß Sie uns Ihren Namen jetzt nicht nennen wollen; ich finde Ihr Schweigen sogar sehr zartfühlend – und ich würde Ihren Namen gar nicht anhören, wenn meine Freundin Sie zwingen würde...«
Hier wurde sie in ihren lebhaften Äußerungen von Frau Professor unterbrochen. »Mein liebes Kind, Sie haben mir doch von Ihrer Tante erzählt; hat Ihre Tante Sie hart und grausam behandelt?«
»O nein, niemals; sie war im Gegenteile sehr gütig; aber ich hatte doch das Gefühl, daß ich ihr eine rechte Last sei; freilich war sie auch krank.«
»Und diese gütige Tante wollen Sie ohne alle Nachricht lassen? Haben Sie sich auch überlegt, was das heißt?«
Ulli senkte den Kopf wieder und sagte kleinlaut: »Ich dachte, es würde sie kränken, wenn sie hörte, daß ich Kindermädchen geworden bin, aber –« und hier fielen aus Ullis Augen bittere Thränen, »es nützt ja gar nichts, wenn man eine Baroneß ist. Wenn man sein Brot verdienen will, kommt's doch nur darauf an, was man gelernt hat, und ich habe nichts gelernt.«
»Kränken Sie sich nicht über Ihre Unwissenheit, Baroneß,« rief Fräulein Kläre enthusiastisch. »Wir werden Sie bilden.«
Frau Professor aber kehrte sofort auf die Hauptsache zurück. »Ich kann mir denken, daß es Ihre Tante schmerzen wird, daß Sie, anstatt sich an sie zu wenden, sich ganz von ihr lossagen wollten. Ein Unrecht muß man gutzumachen suchen; man darf aber nicht darin beharren; ich wenigstens kann meine Hand in keinem Falle dazu bieten, und wenn Sie mir die Namen verweigerten, würde ich genötigt sein, mich an die Polizei zu wenden. Der Hehler ist so gut wie der Stehler; ich würde mich sogar zu Ihrer Mitschuldigen machen, wollte ich anders handeln.«
»Da hilft's freilich nichts,« sagte Ulli, »aber –« sie stockte.
»Reden Sie,« rief Fräulein Kläre eifrig. »Sie flößen mit das größte Interesse ein.«
Fräulein Kläre gab ihrer Freundin jetzt in Gedanken recht. Daß eine Baroneß aber als Kindermädchen aus dem Wasser gezogen wurde, und daß sie zugegen gewesen und geschrieen und das Kind gehalten hatte – das war so romantisch, daß sie sich entschloß, dieses Ereignis zu verwerten, doch schwankte sie noch, ob sie eine Ballade oder eine Novelle daraus machen sollte.
Ulli fand sich indes ermutigt, zu den gütigen Damen weiter zu reden. »Ich fürchte mich, in die Pension zurückgeschickt zu werden; die Jammerspechte würden mich verspotten.«
Hier wurde sie von Fräulein Kläre umschlungen. »Teures Kind,« sagte sie, »so grausam wird Selma nicht sein. – Nicht wahr, Selma, wir geben sie nicht her; wir werden es uns zur Lebensaufgabe machen, sie zu bilden?«
»Das wird doch von der Erlaubnis der Verwandten abhängen. Ich kann mir nicht anmaßen, über eine junge Dame eigenmächtig zu verfügen.«
»Verlassen Sie sich auf mich,« rief Fräulein Kläre. »Ich werde Himmel und Hölle, Österreich und Sachsen und Preußen in Bewegung setzen.«
Jetzt mußte Ulli selbst ein wenig lächeln; sie stand auf und kniete vor der Frau Professor nieder, zu ihr schien sie doch das meiste Vertrauen zu haben; dann sagte sie, ohne eine weitere Aufforderung abzuwarten: »Mein Vater war Baron de Watteville auf Schloß Wolfshagen, meine Tante die Frau des Bankiers von Holder in Dresden, und mein Großonkel, der Freiherr von Gültling....«
Hier unterbrach sie ein Ausruf Fräulein Kläres. »Der Freiherr v. Gültling auf Brandenstein war ja einer der reichsten Magnaten! Erinnerst du dich nicht, Selma; wir lasen in der Zeitung seinen Tod, und Frau von Kleber schrieb über ihn – ja wohl – sie schrieb, daß seine Nichte spurlos verschwunden sei.«
»Ich habe auch schon daran denken müssen,« versetzte die Professorin.
»Vielleicht sind Sie eine reiche Erbin, Baroneß?«
»Es würde mir am liebsten sein, wenn Sie mich nur Ulli nennen wollten; ich möchte gern wieder Ulli genannt werden, weil ich in den letzten Wochen ›Theres‹ hieß, und an die Zeit mag ich jetzt nicht gern denken.«
»Und wissen Sie weshalb?« fragte die Professorin ein wenig streng. »Nicht weil Sie Kindermädchen gewesen sind, sondern weil Sie ihre Pflichten als Kindermädchen nicht erfüllt haben.«
Ulli war sehr rot geworden; sie fühlte, daß die Professorin recht hatte, der alte Hochmut war nur wieder ein bißchen lebendig geworden, als sie bemerkte, welchen Eindruck der Name ihres Onkels hervorgebracht hatte. Kindlich legte sie ihre Arme um die Dame und blickte sie innig an. »Bitte, lassen Sie mich nur bei Ihnen bleiben; Sie sollen sehen, daß ich ein gutes Mädchen werde.«
»Und sehr gebildet,« ergänzte Fräulein Kläre.
Frau Professor aber küßte Ulli jetzt und sagte: »Ich schreibe noch heute und hoffe, es wird sich alles in Ordnung bringen lassen.«
Und es ließ sich in Ordnung bringen; Ulli durfte wirklich bei ihren gütigen Gönnerinnen bleiben; aber bis es zu dieser Entscheidung kam, hatten sich ihre Verhältnisse ganz verändert.
Sobald Eduard durch ein Telegramm erfahren hatte, daß Ulli aufgefunden sei, reiste er sofort nach Wien, und jetzt erst hörte Ulli, welches Unheil sie angerichtet hatte; sie war erstaunt, was für eine wichtige Person sie eigentlich sei. Telegramme waren zwischen Wien, Zürich und Dresden hin und her geflogen. Dann flog Eduard selbst auf den Flügeln des Dampfrosses nach Wien; das war schon vorher. Die Polizei wurde in Bewegung gesetzt, Detektives spürten mit scharfer Nase jeder Vermutung nach, aber keine andre Spur fand sich, als die Aussagen einer tauben alten Frau und ein Handköfferchen. Ulli war wie vom Erdboden verschwunden; eine furchtbarere Flut als die, die ihr in Sieding das Leben zu rauben drohte, schien sie verschlungen zu haben.
O, wie beschämt stand Ulli vor Eduard; vor diesem guten Eduard, dem sie, wie er versicherte, die Ruhe seiner Nächte geraubt hatte; nach Madeira wagte er das furchtbare Ereignis noch gar nicht zu melden, sondern war mit unglaublichen Ausflüchten allen Nachfragen entronnen.
Fräulein Juliane litt seit dem Briefe Ullis an einer häufig wiederkehrenden Migräne, und Fräulein Renate an Brustkrämpfen; über dem Pensionat lag es wie geheimnisvolles Dunkel; selbst die Jammerspechte brüteten über dem Rätsel von Ullis Verschwinden.
Und weiter zeigte sich, daß die Frau Professor richtig gehandelt hatte. Der Freiherr von Gültling hatte für seine Nichte gesorgt. Die Herrschaft Brandenstein und das Haus in Wien gehörten freilich zu dem Majorat; aber ein reizendes Schlößchen in der Umgebung Wiens, das Rokokoschlößchen genannt, nebst einem kleinen Vermögen, das der Freiherr von einer alten Tante ererbt hatte, wurden Ullis Eigentum. Ein freundlicher alter Herr, Hofrat von Benelli, stellte sich ihr als Verwalter ihres Besitzes und als Vormund vor. Johann Dinkel war als Kastellan des Schlößchens eingesetzt, wo er mit seiner Frau wohnte, und dort war es, wo Ulli ein zärtliches Wiedersehen mit ihrem Andreas feierte. Die Sorgen in Wolfshagen, der Tod der alten Susanne, vornämlich aber Ullis Verschwinden hatten ihn zum Greise gemacht. Tag und Nacht hatte er um sie Gram getragen und tiefer getrauert, als wenn sie vor ihm im Sarge gelegen hätte, denn alle GeWißheit, und wäre es die des grausamen Todes, ist leichter zu ertragen, als die aufreibenden Zweifel und das unerklärbare, höhnende Nichtwissen.
Sobald Ulli erfuhr, daß sie eine Erbin sei, hatte sie auch Wünsche; sie beriet mit ihrem im Geldausgeben etwas zähen Vormunde und trug den Sieg davon. Mit einem sehr reuevollen Briefe Ullis und der Bitte, daß sich die Fräulein Flodins in einem Bade erholen möchten, wurde ihnen eine Summe übermittelt. Ulli bestand auch darauf, der Greislersfrau ein Geschenk zu machen; diese Gelegenheit benutzte aber die Professorin, der guten Frau eine Predigt zu halten, und sie stellte ihr das Unrecht, aus Ulli eine Theres gemacht zu haben, so erschütternd vor, daß die arme Frau nun himmelhoch bat, ihrem gestrengen Eheherrn nichts zu verraten.
Das beste aber war doch, daß Ulli bei den beiden Damen bleiben durfte.
Frau Professor Denzel, die Witwe eines Professors der Wiener Universität, lebte mit ihrer Freundin, Fräulein Kläre Boßhart, zusammen. Beide waren Berlinerinnen und schwärmten gemeinschaftlich für das Deutsche Reich. Nur war Fräulein Kläre, sie konnte es nicht leugnen, ein bißchen romantisch angehaucht; die Frau Professor – von Ulli Tante Selma genannt –, war dafür ganz ein Kind der Neuzeit. Sie interessierte sich lebhaft für Politik und schrieb kleine Abhandlungen über Frauenrechte.
Darin waren beide Damen einig, daß sie die Menschen nach dem Grade ihrer Bildung in Rangordnung stellten; darum fing der wahre Mensch – sofern er männlich war – beim Privatdozenten an und erreichte seinen Höhepunkt im Professor ordinarius; auf Reichtum und Adel gaben sie nichts; Damen und Herren der haute volée wie der haute finance mußten sich erst als gebildet ausweisen, ehe sie sie ihres Verkehrs würdigten. So wurden sie der Mittelpunkt eines geistreichen ästhetischen Kreises, und da beide wohlhabend waren, führten sie ein sehr angenehmes Leben.
Gerold und Frick versorgten sie stets mit den neuesten Erscheinungen der Litteratur, kein bedeutender Name der Kunstwelt tauchte auf, ohne daß sie ihn im Theater oder Konzert kennen gelernt hätten. Sie bildeten ihren Geschmack nicht nur durch Kunststudien aus, sondern auch praktisch auf Reisen nach den Metropolen der Kunst, und obgleich sie selbst nicht gerade Künstlerinnen waren, so dilettierten sie doch in der Musik und Aquarellmalerei. Selbstverständlich waren sie in jedem Lande mit seiner Sprache vertraut, nicht bloß für den Hotelbedarf, sondern so gründlich, daß sie mit den bedeutendsten Männern über jeden Gegenstand plaudern konnten. Mit Künstlern, Schriftstellern und Gelehrten – natürlich nur den berühmten – bekannt zu werden, dazu hatten sie auch ein ganz besonderes Talent. So umgaben sie sich mit einer Bildungsatmosphäre, in die sich gewöhnliche Sterbliche gar nicht getrauten.
Zum Glück hatte sie der liebe Gott mit warmen Herzen ausgestattet, die neben der etwas zu gelehrten Bildung ihr Recht behaupteten. Bei einer Gelegenheit wie Ullis Rettung kam die wahre Menschenfreundlichkeit zum Vorschein. Sie waren beide sehr glücklich, in Ulli ein Wesen gefunden zu haben, auf das sie ungehindert ihre Bildung ausfließen lassen konnten; aber zugleich gewannen sie Ulli so lieb, als ob der Himmel ihnen in ihr eine liebe Tochter geschenkt hätte.