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Ulli findet eine Freundin.

Mein liebes Kind,« sagte am andern Morgen Fräulein Juliane, »ich würde schon heute mit dir zu dem Schuldirektor, Herrn Dr. Paskal, gehen; aber er ist verhindert, dich zu examinieren. So gewinnst du zwei Tage Ferien, ich werde dir aber einige Bücher geben, wenn du noch etwas repetieren willst; auch bin ich gern bereit mit dir zu repetieren, wenn dir das lieber ist.«

»Ich danke,« sagte Ulli, »aber ich glaube das Repetieren wird nichts nützen. Nicht wahr, repetieren heißt wiederholen?«

Fräulein Juliane sah Ulli etwas erstaunt an. »Ja das heißt so. – Bist du denn so gut vorbereitet, daß du nichts mehr zu wiederholen brauchst?«

»Nein,« meinte Ulli errötend, »ich meine nur, da ist nichts zu repetieren, weil ich nichts gelernt habe.«

»Aber, mein Kind, so ganz unwissend kann doch eine Baronesse de Watteville nicht sein!«

»Der Name macht nicht gescheit,« meinte Ulli altklug. »Es wird noch mehr dumme Baronessen geben.«

»Deine Tante schrieb, du wärest nach den Prinzipien ...«

»Jean Jacques Rousseaus erzogen,« fiel Ulli ein. »Ich weiß nicht, was das heißen soll; die Tante sagt's allen Leuten; ich bin gar nicht erzogen, das ist eben das Unglück.«

»Wenn du aber gar nichts gelernt hast, ist es unmöglich, daß du schon nach einem Jahre die Pension verläßt.«

»Länger kann ich nicht bleiben,« erklärte Ulli bestimmt. »In einem Jahre muß ich gescheit werden. Das ist der längste Termin. Ich möchte lieber schon in einem halben Jahre gescheit werden.«

»Du hast gar keine Vorstellung, was zum Gescheitwerden gehört, liebes Kind. Ich kann dir in deinen Schädel kein Loch machen, einen Trichter einsetzen und Kenntnisse einfüllen.«

»Ja, wenn das ginge, wär's freilich gut. – Wieviel Stunden muß man jeden Tag lernen, um in einem Jahre alles zu wissen?«

»Ich bitte dich! Schon deine Fragen zeigen, daß du gar keine Vorstellung von Bildung hast!«

Ulli ließ sich nicht stören; der Wunsch, zu dem Onkel zu kommen, wurde um so heißer, je schwerer die Erfüllung schien. »Miß Kirk sagt, ich begreife sehr gut,« fuhr sie fort. »Ich brauche ein Gedicht nur zweimal zu lesen, dann kann ich's auswendig. Wenn ich will, kann ich in einem Tage schrecklich viel lernen – und ich will lernen.«

Es trat eine Pause ein. Fräulein Juliane betrachtete das sonderbare Mädchen; fast unwillkürlich entfuhr ihr: »So etwas ist mir noch nicht vorgekommen!«

»Ja,« sagte Ulli treuherzig, »das geht allen Leuten so; aber meine Schuld ist's wirklich nicht.«

»Nun wir müssen eben sehen, wie dieser Unwissenheit abzuhelfen ist. Das sehe ich schon, in die Schule kannst du nicht gehen, du müßtest unter die kleinsten Mädchen gesetzt werden. Ich werde an deinen Onkel schreiben; wenn er zustimmt, werde ich dir Privatstunden erteilen lassen. Noch eins. Manche junge Mädchen kommen mit einer größern Summe Taschengeld an – hast du Geld?«

Ulli wurde dunkelrot. »Ja,« sagte sie.

»Da du nicht allein ausgehen darfst, mein Kind, und für jedes deiner Bedürfnisse von uns gesorgt wird, hast du dein Geld nicht nötig und es ist besser, du giebst es mir zur Aufbewahrung. Ich kann nicht dafür stehen, daß die Dienstmädchen alle ganz ehrlich sind. Wieviel Geld besitzest du?«

»Hundert Frank.« Vor Verlegenheit traten Ulli fast die Thränen in die Augen. Sie dachte nur immer: »Was werden die Jammerspechte sagen; nun wird's keine Pasteten mehr geben,« aber sie lieferte gehorsam das grüne Beutelchen mit ihrem ganzen Reichtume aus.

Als Ulli nach dieser Unterredung wieder unter die Pensionärinnen trat, war sie sehr befangen. Ihre ungewöhnliche Unwissenheit drückte ebensosehr auf ihre Seele, wie die außergewöhnliche Freundlichkeit der vier Jammerspechte. Ulli hatte ihnen gegenüber ein böses Gewissen; sie fürchtete ihren Zorn, wenn sie erst erführen, daß Ulli nicht länger eine reiche Erbin wäre.

Am Fenster stand ein kleines Mädchen, das Ulli schon tags zuvor aufgefallen war; es war viel kostbarer als die andern Kinder gekleidet, und schien ein überaus zartes Geschöpf; ihre Gliederchen waren so fein, als könnten sie bei einer harten Berührung zerbrechen; ihre wachsbleiche Haut und der matte Glanz ihrer großen Augen deuteten auf eine schwache Gesundheit.

Jede Bewegung dieses Kindes war anmutsvoll und der Ausdruck der lieblichen Züge vergeistigt – fast überirdisch. Sie glich einer Elfe, die aus ihrem luftigen Reiche verbannt und unter irdischen Geschöpfen zu weilen genötigt wurde, aber mit ihren traurigen Augen sehnsüchtig nach der verlorenen Heimat schaut.

Obgleich sich Silvia Cortes, so wurde das seltsame Kind genannt, gegen alle Liebkosungen und Aufmerksamkeiten teilnahmlos zeigte, schienen die Pensionärinnen von ihr bezaubert und sie herrschte wie eine kleine Prinzessin über alle. Fräulein Renate aber ließ das Kind gar nicht aus den Augen und war ordentlich eifersüchtig auf den Platz neben ihrem Liebling.

Ulli konnte den Blick gar nicht von Silvia wenden; aber sie war zu schüchtern, um sie anzusprechen. Sie hörte, daß ihre Eltern auf der Insel Sumatra lebten, und daß sie für einige Jahre in die Schweiz geschickt worden wäre, weil sie das heimische Klima nicht vertrüge.

Am Abend brach der Sturm über Ulli richtig los.

Nina von Ganzoni war an diesem Abend Präsidentin; denn um einige Abwechslung zu haben, wurde das Präsidium sehr oft gewechselt.

Nina, eine kleine Savoyardin, mit rotem Haar, breitem Mund und muntern Augen, brachte es nicht zustande, so feierlich wie Jenny Wiß auszusehen. Sie sprach schnell und stolperte im Reden, denn die deutsche Sprache war ihr nicht geläufig.

»Ulrike,« sagte die kleine Präsidentin, »wir stellen dir frei, ob du uns zwanzig oder gleich hundert Frank in die Kasse geben willst.«

Ulli bekam Herzklopfen; sehr kleinlaut gestand sie: »Fräulein Juliane verlangte mein Geld, und da habe ich es ihr gegeben.«

Nur die Furcht vor Entdeckung hielt die Jammerspechte ab, in lauten Jammer auszubrechen.

»Wir haben dich schon für dumm gehalten,« erklärte Ida, »aber diese Dummheit übersteigt alle Grenzen!«

»Du zeigst einen ganz schlechten Charakter!« meinte Jenny.

»Nun sind wir keine Stunde mehr sicher,« klagte Bertha.

»Ulrike de Watteville ist aus dem Geheimbund der Jammerspechte ausgeschlossen. Ich erkläre sie in die Acht,« sprach Nina, mit so viel Feierlichkeit als ihr möglich war.

Ulli zog sich schweigend und tiefbeschämt in ihr Bett zurück. Die Feindschaft der Jammerspechte, der Kummer, nie mehr so liebliche Pastetchen verspeisen zu dürfen, lagen schwer auf ihrer Seele. Es war auch sehr niederdrückend, ein in die Acht erklärter Jammerspecht zu sein. Und doch fühlte sie, daß sie nicht anders hätte handeln können, ja, daß sie, trotz ihres Schmerzes, sobald es Fräulein Juliane verlangte, das Geld ihr doch wieder ausgeliefert haben würde; denn lügen konnte sie nicht, und Heimlichkeiten verachtete sie.

Die geärgerten und enttäuschten Jammerspechte aber zischelten und wisperten noch ein Weilchen wie eine Schar aufgeschreckter Hühnchen; denn es war kein Zweifel, Ulli – eine reiche Erbin mit 400 Frank Taschengeld – war für ihren Geheimbund unwiederbringlich verloren.

Fräulein Juliane regierte das Haus mehr durch Strenge als durch Liebe; sie hatte das Prinzip, daß Nachsicht und Milde den jungen Mädchen weniger zuträglich wären, als eine feste Hand und ein unnachsichtiges Auge, durch die sie zu Bildung und Wohlanständigkeit geleitet würden. Diese Strenge lag mehr in der Überzeugung und dem äußern Wesen von Fräulein Juliane, als in ihrem Herzen; aber sie wurde empfunden und verscheuchte jede Vertraulichkeit.

Wer ein Leid hatte, klagte es Fräulein Renate, obwohl diese nur zu bedauern, nicht zu helfen verstand. Das aber war es eben, was diese jungen Geschöpfe verlangten; denn bei Fräulein Juliane hätten sie wohl Rat und Hilfe gefunden, und das ist die beste Teilnahme, die jemand bezeigen kann; aber weil Fräulein Juliane die Weinenden nicht zu beklagen verstand, blieb sie einsam auf ihrer stolzen Höhe.

Mehrere Tage hatte sie Ulli beobachtet, und als sie merkte, daß sie sich an ihre vier Schlafkameradinnen gar nicht anschloß, ja daß zwischen diesen und Ulli eher eine Art Abneigung bestand, schloß sie, daß die Baronesse de Watteville nicht nur trotzig und mürrisch wäre – wie ihr Gesicht aussah, sondern auch adelsstolz.

Fräulein Juliane war eine strenge Republikanerin; nichts war ihr verhaßter, als Standesvorurteile. Im Grund aber hatte sie eine ebenso aristokratische Gesinnung und war nicht wenig stolz, daß sie aus einer Familie stammte, die schon dreihundert Jahre auf demselben Gütchen gesessen hatte.

Fräulein Renate hatte wieder andre Ursachen, Ulli nicht zu lieben; das ungewöhnlich große und starke Mädchen war ihr gleich nicht sympathisch gewesen und sie erwartete, daß Ullis Appetit ein ungewöhnlicher sein würde; ihre Befürchtungen rechtfertigten sich, und alle Erfahrungen, die sie bis dahin gemacht hatte, wurden noch übertroffen. Fräulein Renate aber stand der Wirtschaft vor; sie war nicht geizig, aber ein ungewöhnlicher Appetit machte ihr doch kein Vergnügen.

Und sie fand auch Ursache eifersüchtig zu sein. Wenn Ulli über ihren Büchern saß, dann setzte sich Silvia Cortes schweigend neben sie und betrachtete sie mit ihren ernsten Augen. Machte Ulli eine Pause, so spann sich zwischen dem großen Mädchen und dem zarten Kinde eine Unterhaltung an. Dieses Kind aber, das Fräulein Renates Pflege besonders anvertraut war, liebte sie mit einer leidenschaftlichen Liebe; für Silvia wäre sie selbst im stande gewesen, eine heroische That auszuführen.

So war Ulli in einen Kreis von Kindern und gleichalterigen Mädchen eingetreten und stand dennoch ganz vereinsamt da. Daß sie Privatunterricht erhielt, hatte dazu wesentlich beigetragen; der gemeinsame Schulbesuch hätte sie den Gefährtinnen näher gebracht. Silvia ging ebenfalls nicht in die Schule; ihrer zarten Gesundheit wegen wurde sie überhaupt nicht mit Lernen angestrengt.

Ullis ganzes Dichten und Trachten ging nun dahin, viel zu lernen, um bald gescheit zu werden und in das Haus ihres Onkels zu kommen. Die Lehrer waren über ihre Unwissenheit erstaunt, wie über ihre außerordentlichen Fortschritte erfreut. Das Lernen fiel ihr leicht und machte ihr auch Vergnügen; aber es war doch nur das Mittel zum Zweck. Je weniger sie mit den Pensionärinnen verkehrte, um so mehr weilten ihre Gedanken bei dem Onkel. Die ganze Liebe ihres starken großen Herzens vereinte sich in der Gestalt dieses alten Mannes, den sie nur einmal in ihrem Leben gesehen hatte, dem aber ihr zukünftiges Leben geweiht sein sollte. Einigemal schrieb sie ihm ein Briefchen, um ihn über ihre Fortschritte zu unterrichten; einmal antwortete er eigenhändig, und dieser Brief machte ihr kostbarstes Besitztum aus.

Auch an Andreas schrieb sie und teilte ihm mit, daß der Onkel für ihn und Susanne sorgen wolle. Die Antwort des alten Dieners klang sehr niedergeschlagen, Susanne war bettlägerig und an einen Umzug nach Wien oder auf die Güter des Freiherrn vorderhand nicht zu denken.

Von ihrer Tante erhielt Ulli vor deren Abreise nach Madeira noch einen Brief mit guten Lehren und der Mahnung, daß, wenn ihr etwas zustoße, oder sie ihr eine Mitteilung zu machen habe, solle sie sich an Eduard wenden; sie gab ihr zugleich dessen Dresdener Adresse an.

Allmählich erwuchs dem Freiherrn von Gültling in der kleinen Silvia eine Nebenbuhlerin; denn Ullis Herz fing an, sich diesem lieblichen Kinde zuzuwenden.

Die Pensionärinnen befanden sich alle im Garten; der Himmel war blau, und die ersten Märzveilchen blühten. Ulli stand auf einem Hügelchen der Mauer, von wo aus man den See, überflutet von goldnen und rötlichen Lichtern, erblickte, seine Ufer strahlend im ersten Frühlingsgrün, bedeckt mit Villen und stattlichen Dörfern. Sie liebte diesen Platz; aber wochenlang hatte ihr ein nebliger Himmel die Aussicht auf die Alpen verwehrt; heute zum erstenmal sah sie, über niedrigern Höhenzügen sich auftürmend, die schneebedeckten Berge, deren Riesenhäupter in den Himmel zu ragen schienen und wie flüssiges Erz im Abendschein glühten.

Ullis Herz erschauerte vor Entzücken bei dieser ungeahnten Schönheit und Erhabenheit der Natur. Obgleich sie nur in der Ebene gelebt hatte, war sie für diesen großartigen Genuß vielleicht besser vorbereitet als andre. Nicht jedes Menschen Seele ist für Naturschönheiten gleich empfänglich; aber selbst, wenn das der Fall wäre, so muß doch der Sinn, um erhabene ungewöhnliche Eindrücke zu erfassen, erst geübt werden. Ulli hatte den größten Teil ihres jungen Lebens im Freien zugebracht; ohne sich dessen bewußt zu werden, hatte sie die mannigfaltigen Reize ihrer westfälischen Heimat im Wechsel der Tages- und Jahreszeiten beobachtet und ein inniges Verständnis für Naturbilder war in ihrer Seele gereift. So war sie im stande, das überwältigende Schauspiel ganz zu erfassen und mit dürstender Seele gleichsam die Schönheit der Natur zu trinken.

Sie bemerkte nicht, daß Silvia neben ihr stand und ihr einige Veilchen hinhielt, die sie eben erst gepflückt hatte. Das Kind zupfte sie, als es keine Beachtung fand. »Ach, du bist's,« sagte Ulli in ihrer teilnahmlosen Art für alle in ihrer Umgebung.

»Die Veilchen sind für dich, Ulli. Soll ich mehr Veilchen suchen?«

»Nein, danke.« – Dann stand sie wieder eine Weile im Anschauen verloren; auf einmal hob sie das Kind auf, setzte es auf die Mauer und rief: »Sieh doch, wie schön die Welt ist!«

Silvia starrte das Wunder an und begriff es nicht; aber Ullis verklärtes Gesicht gefiel ihr; sie schlang ihre kleinen Arme um Ullis Hals, küßte sie und sagte: »Ich habe dich lieb, Ulli.«

Sie waren zum erstenmal allein, die andern Kinder spielten Katz und Maus und die Gouvernanten promenierten.

Ulli antwortete nichts; sie klopfte das Kind nur herzlich auf die Wange; dem kleinen Mädchen gegenüber kam sie sich so ungeheuer alt und weise vor.

»Ulli,« fing Silvia wieder an, »weißt du was? Ich erzähle dir meine Lebensgeschichte, und du erzählst mir deine Lebensgeschichte; und dann schließen wir Freundschaft.«

»Da ist nicht viel zu erzählen,« meinte Ulli.

»Ich habe eine Mama,« begann Silvia aber sogleich. »Ich liebe meine Mama sehr; aber ich durfte nicht bei ihr bleiben, weil ich in Sumatra immer krank gewesen bin; ist das nicht traurig?«

»Ja; aber meine Mama ist gestorben, ehe ich sie kannte, und das ist noch viel trauriger.«

Silvia schwieg eine Weile und dachte nach.

»Ich habe auch einen Papa,« fing sie wieder an, »mein Papa liebt mich sehr, und doch hat er mich fortgeschickt. Ach wie habe ich geweint und wollte ihn nicht lassen, aber er ging weg, und ich mußte allein auf dem Schiffe bleiben. Hast du auch einen Papa?«

»Nein, mein Papa ist gestorben; ich trage seinetwegen noch das Trauerkleid.«

Silvia fühlte instinktiv, daß Ulli sehr vereinsamt wäre und daß ihr Liebe fehlen müsse, darum hatte sie versucht, sie mit ihrer eigenen traurigen Geschichte zu trösten. Jetzt sah sie verlegen aus; sie streichelte Ullis Hand und sagte ganz leise: »Das thut mir leid, liebe Ulli.« Dann fing sie abermals an: »Meine Brüder nützen mir gar nichts. Ich kann nicht mehr mit ihnen spielen; sie durften bei Papa und Mama bleiben. – Du hast geWiß auch einen Bruder?«

»Nein.«

Jetzt kam's schon stockend heraus: »Aber eine Schwester?«

»Nein.«

»Aber, wer hat dich denn da lieb?«

»Mich hat niemand lieb, nicht einmal meine Tante und meine Cousinen; doch einer – Andreas hat mich lieb.«

Silvia fiel ein Stein vom Herzen. »Ich hab's mir wohl gedacht, jemand muß dich ja lieb haben.«

»Und wenn ich erst gescheit bin,« sagte Ulli und ihre Augen nahmen einen sonderbaren Glanz an, »dann wird mich mein Onkel lieb haben. Dann darf ich bei ihm bleiben, immer, immer, solange ich lebe, und dann werde ich glücklich sein.« Sie atmete tief.

»Aber ich werde weinen, wenn du fortgehst, Ulli. Ich habe dich auch lieb, ich will nicht, daß du fortgehst.«

Dabei schlang Silvia wieder ihre Ärmchen um Ullis Nacken und schmiegte sich zärtlich an ihre Wange. Für Ulli war es etwas Wunderbares, etwas ganz Neues, daß jemand es gut mit ihr meinte und zärtlich mit ihr war. Sie wurde aus einmal vergnügt und schämte sich, daß sie immer mit einer verdrossenen Miene herumgelaufen war.

So wurde diese Freundschaft geschlossen, und der Onkel bekam in Ullis Herzen eine Nebenbuhlerin. Es war eine Freundschaft bis ans Grab, und doch hat sie nur kurze Zeit gedauert.

Ulli und Silvia waren jetzt unzertrennliche Gefährtinnen. Vergeblich versuchte Fräulein Renate mit Leckerbissen und kleinen Geschenken Silvias Gunst wieder für sich allein zu gewinnen; sie litt wirklich Schmerz über den Verlust ihres Lieblings und fing Ulli zu hassen an, die sie für die Ursache davon ansah. Zuletzt fiel sie auf ein unerlaubtes Mittel, diese Freundschaft zu zerstören. Als sie wieder einmal mit Silvia das Abendgebet gesprochen hatte, warnte sie Silvia vor Ulli. »Sie ist kein gutes Mädchen,« sagte sie, »sonst würde sie ihre Schlafkameradinnen auch lieb haben. Ida Zachmann hat mir heute gesagt, daß sie Ulli nicht leiden können. Siehst du, mein Liebling, so denken die Mädchen, die in Ullis Alter sind; denen zeigt sie sich, wie sie ist, hochmütig und trotzig.«

»O du gute, alte Tante,« rief das kleine Mädchen lachend, »ich liebe meine Ulli doch. Sie erzählt mir Märchen und Geschichten, so schöne kannst du nicht erzählen, und die in meinen Büchern stehen, sind auch lange nicht so schön. Ich liebe meine Ulli doch, wenn sie auch die dummen großen Mädchen nicht leiden können.«

Da wußte Fräulein Renate nichts mehr zu sagen, sie schlich ganz gebeugt in ihre Stube und weinte die bittersten Thränen.

Weder Ulli noch Silvia nahmen teil an den gemeinschaftlichen Spielen der Kinder im Garten. Silvia konnte das Laufen und Schreien nicht vertragen; Ulli wurde erst gar nicht dazu aufgefordert.

Die beiden so Ausgeschlossenen setzten sich dann auf ein schattiges Plätzchen und unterhielten sich.

Ulli, die Schweigsame, Verdrossene wurde auf einmal beredt und lebendig. Die Phantasien, die sie in ihrem einsamen Walde gehabt, wurden jetzt zu Märchen und Geschichten umgedichtet, denen Silvia mit Entzücken lauschte. Denn während Ullis schöpferischer Geist Gestalten schaffen konnte, war Silvia mehr angelegt, das Gehörte verständnisvoll aufzunehmen und durch ihr Interesse die Erzählerin anzuregen.

Nur manchmal, wenn Ulli voll Eifer mit glänzenden Augen dasaß und erzählte, wurde sie unerwartet von Silvia unterbrochen: »Nicht wahr, Ulli, du wirst die schöne Geschichte bis morgen nicht vergessen haben? Ich bin heute sehr müde.«

Ulli hörte dann mitten im Satze auf und blickte Silvia besorgt an; die Liebe hatte ihr Auge geschärft, und mit einer ihr selbst fast unerklärlichen Angst – denn der Gedanke, Silvia zu verlieren, war ihr noch nie gekommen – gewahrte sie die tiefen schwarzen Ringe unter des Kindes matten Augen. Je heißer der Sommer wurde, je leichter ermüdete auch Silvia.

»Fühlst du dich krank, meine liebe, liebe Silvi?« rief Ulli, kniete vor ihr nieder, erfaßte ihre welken Händchen und blickte sie mit grenzenloser Sorge an.

»O, du dumme, alte Ulli,« erwiderte das Kind lächelnd, aber mit ganz matter Stimme. »Warum soll ich denn krank sein? Ich kann die Hitze nicht vertragen und deshalb haben sie mich von meiner lieben Mama getrennt. Das weißt du doch, dumme, alte Ulli – weißt du es denn nicht?«

»Silvia ist ein Götze, den Ulli anbetet,« rief Jenny Wiß, die gerade mit den Jammerspechten vorüberging; und dann lachten alle laut und machten ihre Witze über die Freundschaft der beiden Kinder; aber im Grunde ärgerten sie sich, daß Silvia, die gegen alle Pensionärinnen so zurückhaltend schien, sich gerade an die einfältige und trotzige Ulli angeschlossen hatte.

Die Hitze stieg indes immer höher und Silvia wurde immer schwächer; schon längst durfte sie nicht mehr an den gemeinschaftlichen Spaziergängen teilnehmen, und es war Ullis beneidetes Vorrecht, mit ihr zu Hause zu bleiben und ihr Gesellschaft leisten zu dürfen. Allmählich aber gesellte sich zu der Schwäche des Kindes ein fiebriger Zustand, und endlich erklärte der Arzt, daß es das Bett nicht mehr verlassen dürfe.

Als sie ihren Liebling in Gefahr sah, verlor Fräulein Renate ganz den Kopf und griff alles verkehrt an. Anstatt eines Glases voll Limonade war sie im stande die Butterbüchse an das Bett des Kindes zu bringen; was sie in die Hand nahm, ließ sie oft wieder fallen, und wenn sie hinausging, etwas zu besorgen, blieb sie, sich die Stirn reibend, auf der Thürschwelle verlegen stehen, weil sie vergessen hatte, was sie eigentlich wollte.

Selbst das kranke Kind lachte sie manchmal über ihr Ungeschick und ihre Vergeßlichkeit aus; Fräulein Juliane aber hatte erst recht ihre Not mit der Schwester.

Der Anstellung einer Pflegerin setzte sich Fräulein Renate jedoch mit Energie – das einzige Mal, wo sie solche überhaupt bewiesen hatte – entgegen und versprach sich zu bessern. Wirklich nahm sie sich nach einer ernstlichen Strafpredigt ihrer Schwester mehr zusammen, ja, sie duldete selbst Ulli in der Krankenstube, da das Kind dringend nach dieser verlangt hatte.

Es war ein besonders schwüler Sommerabend. Der Uetliberg schien so nahe, als könnte man jeden Baum und Strauch an seinen Abhängen unterscheiden, und über dem See ballten sich schon Wolken zusammen. Jedermann erwartete ein Gewitter, und auf diesen Umstand wurde es auch geschoben, daß das Kind an diesem Abend besonders stark fieberte und oftmals unzusammenhängende Worte sprach.

Fräulein Juliane hatte Mühe, Ulli zu bewegen, endlich in ihr Schlafzimmer zu gehen; es war ihr noch keinen Abend so schwer geworden, sich von ihrer kranken kleinen Freundin zu trennen.

Fräulein Renate, die den ganzen Tag an Silvias Bette gesessen, ließ sich endlich, da das Kind zu schlafen schien, dazu bestimmen, ein paarmal durch den Garten zu gehen, während das Hausmädchen ihren Platz einnahm. Fräulein Juliane beendete noch einen Brief, der mit dem nächsten Schiffe nach Sumatra gehen sollte; denn der Arzt hatte es ihr zur Pflicht gemacht, den Eltern Silvias einen ausführlichen Bericht ihrer Krankheit zu geben.

Die Jammerspechte hatten jetzt die strengen Augen der Vorsteherinnen weniger zu fürchten; sie erwarteten an diesem Abend Liseli, die Hausmannstochter, mit der sie im Bunde waren, und durch die die Süßigkeiten eingeschmuggelt wurden wie gewöhnlich.

Als nun Fräulein Renate durch den Garten streifte, begegnete ihr Liseli mit einem Körbchen, das sie sich zu verbergen bemühte. Das fiel Fräulein Renate auf; sie wurde mißtrauisch, hielt Liseli an und entriß ihr das Körbchen, worin sie als corpus delicti vier Sahnepastetchen fand.

Die Jammerspechte, die, die süßen Törtchen erwartend, am offenen Fenster standen, vernahmen Fräulein Renatens Zanken, ahnten, daß ihr Geheimnis entdeckt wäre, und krochen, um sich so gut es ging aus der Schlinge zu ziehen, schleunig in ihre Betten, wo sie sich fest schlafend stellten.

Indes war Fräulein Renate, die sich einem solchen großen Strafgerichte nicht gewachsen fühlte, zu ihrer Schwester geeilt, und diese begab sich denn auch sofort nach dem Schlafzimmer.

Wer die Schuldigen eigentlich wären, hatte Liseli freilich nicht verraten, sondern sich mit Heulen und Schluchzen jeder Auskunft entzogen.

Ulli allein war aufgeblieben; was ging sie das Liseli an; nie wieder hatte sie mit den Jammerspechten Pasteten gegessen. Ihre Gedanken waren bei der kranken Silvia.

So kam es, daß Ulli am Fenster stand, als Fräulein Juliane eintrat, während die Jammerspechte anscheinend im tiefen Schlafe in ihren Betten lagen. Ohne zu prüfen, schloß sie, Ulli müsse die Schuldige sein; sie dachte an ihren immerwährenden Hunger und überhäufte sie mit Vorwürfen.

Ulli verteidigte sich nicht. Es war ihr gleichgültig, daß sie, wie sie befürchtet hatte, ausgescholten wurde. Sie dankte Gott, daß Fräulein Juliane nicht gekommen war, um sie zu der kranken, vielleicht sterbenden Silvia zu rufen. Doch weil sich die Schuldigen nicht rührten, sondern sich anstellten, als ob sie soeben aus tiefem Schlafe erwachten, zuckte ein verächtliches Lächeln um Ullis Lippen. »Wie ist es nur möglich,« dachte sie, »daß sie es ruhig mit anhören, wie ich schuldlos angeklagt werde, und selbst nicht ihr Unrecht bekennen?«

Aber erst als Fräulein Julianens Schritte verhallt waren, regten sich die Jammerspechte.

»Das hätte ich dir nicht zugetraut, Ulrike!« rief Jenny. »Wahrhaftig, wir müssen uns heute bei dir bedanken.«

»Am Ende war's auch das Klügste, was sie thun konnte,« bemerkte Bertha. »Ihr hätte Fräulein Juliane doch nichts geglaubt; also war es besser, sie schwieg lieber still.«

»Zur Belohnung wollen wir aber doch das nächste Mal die Pasteten mit ihr teilen,« versetzte Ida.

Ulli war schon an das offene Fenster getreten; sie starrte hinaus, wo Blitze die dunkeln Wolkenmassen zerrissen und der Donner noch fern, doch schon schwer rollte. Jetzt wandte sie sich um und rief zornig: »Ich verachte euch alle – und wenn ich verhungern sollte, von euch würde ich keinen Bissen Brot nehmen!«

Ulli hatte ihre Meinung zu deutlich ausgesprochen, um noch einen Zweifel über ihre Gesinnung zu lassen. Die Jammerspechte hatten sie vollständig begriffen und machten keinen Versuch einer Gegenrede, sondern zogen sich stillschweigend zurück.

An Schlaf war freilich nicht zu denken. Das Gewitter kam näher und näher, die Blitze folgten sich so schnell wie Pulsschläge und der Donner rollte ohne Aufhören; nur das Rauschen des Regens wollte sich nicht hören lassen.

Die Jammerspechte hatten sich alle in Jennys Bett geflüchtet, das am weitesten vom Fenster entfernt stand; dort hockten sie wie verschüchterte Hühnchen, zitterten vor Angst und Frost, und wagten nur manchmal einen Ausruf des Schreckens hören zu lassen. Schuldbewußt, wie sie sich alle fühlten, erschien ihnen diese Stunde noch grauenvoller, als sie an sich schon war.

Ulli durchschritt indes in ihrem langen Nachtgewande ruhelos das Zimmer. Manchmal wurde sie von dem blendenden Lichte des Blitzes übergossen, sodaß sie wie eine leuchtende Erscheinung dastand. War es aber wieder finstere Nacht, so glich sie einem ruhelosen Gespenste, das lautlos durch das Zimmer huschte.

Auf einmal blieb sie horchend stehen; sie hatte ein Geräusch vernommen, das sie Silvias wegen besorgt machte.

Es wurde unruhig im Hause; Thüren gingen auf und zu; treppauf, treppab wurde gelaufen – dann hörte man die Klingel des Gartenthores und darauf wurde es wieder still.

Als könne sie es nicht ertragen, eingeschlossen zu sein, war Ulli an die Thür gestürzt, um mit Gewalt daran zu rütteln. Diese gab ihren Anstrengungen freilich nicht nach, doch blieb sie daran gelehnt stehen. Sie zitterte am ganzen Leibe und von Zeit zu Zeit entrang sich ihr ein tiefes Stöhnen.

»Ich glaube, sie hat den Verstand verloren,« flüsterte Nina, und alle Jammerspechte vergaßen jetzt Blitz und Donner, während sie Ulli beobachteten.

Ach, Ulli wußte es, sie wußte es so geWiß, als hätte es ihr jemand zugerufen: in dieser Stunde wurde ihr die kleine Freundin entrissen.

Und dabei hinter der verschlossenen Thür stehen zu müssen! Zu wissen, daß Silvia stirbt, und nicht einmal zu ihr zu können! – Es waren furchtbare Augenblicke.

Beim Herannahen des Gewitters war Silvia mit einmal so bedenklich krank geworden, daß der Hausmann sofort nach dem Arzt gesendet wurde.

Fräulein Renate hielt das Kind, das sich ruhelos von einer Seite zur andern wendete, im Arme und fragte es mit zärtlicher Stimme: »Sage mir, was ist dir, mein Silvchen; ach, antworte mir nur einmal, was dir ist?«

Aber Silvia antwortete nicht mehr; ihre Züge hatten sich ganz verändert und ihre Augen wurden immer größer und dunkler; nur einmal schien es, als spreche sie mit heiserer Stimme Ullis Namen aus.

Fräulein Juliane winkte dem Hausmädchen, das sie auch sofort verstand und hinauseilte, um den letzten Wunsch des sterbenden Kindes zu erfüllen.

Fräulein Juliane hatte ordentlich einen Stich ins Herz bekommen; Ulli war ein so trotziges Mädchen, und sie hatte ihr eben harte Worte gegeben – vielleicht würde sie sich jetzt weigern, dem Hausmädchen zu folgen! Hätte sie Ullis Herz besser verstanden, sie würde diese Besorgnis nicht gefühlt haben.

Bleich wie der Tod trat Ulli in ihrem weißen Nachtkleide, lautlos mit den bloßen Füßen über die Diele gleitend, ein.

Welch ein großer, tiefer Schmerz lag in ihren kindlichen Zügen! Wo andre Kinder ihres Alters nur getändelt und gespielt haben, hatte Ulli schon gelitten. Selbst Fräulein Juliane kam der Gedanke, sie möchte dieses Mädchen falsch beurteilt haben, aber sie wollte sich den Irrtum noch nicht eingestehen.

Lautlos kniete Ulli neben dem Bettchen des Kindes nieder; sie schien niemand sonst zu bemerken. Ihre Augen ruhten mit grenzenloser Angst auf ihrem sterbenden Lieblinge; endlich kam es leise und stockend über ihre Lippen: »Silvi – Silvi, kennst du mich nicht mehr?«

Ach, die brennenden Augen des Kindes starrten ins Leere; kein Zeichen gab kund, daß es Ullis Worte vernommen hatte.

In diesem Augenblicke betrat der Arzt das Zimmer.

Stillschweigend, ohne eine Aufforderung abzuwarten, machte ihm Ulli Platz und stellte sich an das Fußende des Bettes. Bewegungslos und unverwandt die Blicke auf das sterbende Kind gerichtet, blieb sie stehen, bis es seinen letzten Atemzug ausgehaucht hatte, dann stürzte sie bewußtlos nieder. Die Qualen der letzten Stunden waren für ihre Kräfte zu groß gewesen.

Dieser unerwartete Todesfall brachte das ganze Pensionat in eine begreifliche Verwirrung. Die in der Schweiz lebenden Verwandten Silvias wurden telegraphisch herbeigerufen. Nur die armen entfernten Eltern wußten nicht, daß ihr liebes Kind, für dessen Wohl sie sich freiwillig die schwere Trennung auferlegt hatten, im weißen Sterbekleide, bedeckt mit Blumen im Sarge lag.

Fräulein Renate erwies sich jetzt als vollständig unfähig. Sie war weder im stande ihren gewohnten Arbeiten nachzukommen, noch irgend einen Auftrag auszuführen; ratlos und verwirrt stand sie nur jedermann im Wege, und selbst wenn Juliane mit ihrer scharfen Stimme »Schwester« rief, zuckte sie wohl zusammen, aber sie vermochte nicht, sich zu ermannen.

Endlich entschloß sich Juliane, sie halb mit Güte, halb mit Gewalt in ihr Bett zu legen, mit dem strengsten Befehl, darin liegen zu bleiben, bis alles vorüber wäre.

Obgleich die Pensionärinnen jetzt unbeaufsichtigt zur Schule wandern mußten, fiel es doch nicht einem dieser Mädchen ein, die ungewohnte Freiheit zu mißbrauchen; ein fast feierlicher Ernst hatte sich auch ihrer bemächtigt, und keines fühlte sich zu einem dummen Streiche aufgelegt. In Gruppen gingen oder standen die Mädchen umher, und flüsternd wurde das traurige Ereignis von ihnen besprochen.

Als mit Ullis Bewußtsein auch die Erinnerung an das Schreckliche, das sie eben erlebt hatte, wiedergekehrt war, ging sie, ohne jemand um Erlaubnis zu fragen, zurück in das Zimmer, wo die kleine Leiche lag. Sie setzte sich ihr zu Füßen und starrte das bleiche Totengesichtchen, die Hände krampfhaft geschlossen, thränenlosen Auges an. Vergeblich bat das Hausmädchen, Ulli solle doch zum Frühstück kommen; vergeblich ermahnte der Arzt – Ulli antwortete nicht und rührte sich nicht von ihrem Platze.

Man rief Fräulein Juliane herbei; aber selbst die strenge Vorsteherin zögerte, einen Befehl auszusprechen, sondern sie bat Ulli, ihr zu folgen, weil ihr nach einer so angreifenden Nacht Schlaf nötig wäre. Aber Ulli blickte sie nur mit ihren tiefernsten Augen wie vorwurfsvoll an – und blieb sitzen.

Ein so großer Schmerz hat etwas Heiliges. Fräulein Juliane fühlte das und verließ das Kind, ohne es zu drängen.

Keine Thräne erleichterte die stumme Qual Ullis. Niemand war ja da, an dessen Herz sie sich ausweinen, niemand, der begreifen konnte, wie sehr sie litt, und der ihren Jammer ganz geteilt hätte. Dieses kleine bleiche Engelchen, das mit geschlossenen Lidern einen ewigen Schlaf schlief, war Ulli alles gewesen. In den Stunden, wo sie sich ganz verlassen fühlte, hatte ihr dieses Kind seine Liebe geschenkt. Nun war die Welt wieder einsam, freudenleer – wie ausgestorben. Nicht einmal an den Onkel konnte sie jetzt mit Sehnsucht denken. Alles war öde und finster in ihrem Herzen.

Sich an Gott zu wenden und zu ihm zu beten wagte sie nicht. Sie hatte ihm jeden Abend gedankt, daß er ihr eine Freundin schenkte; doch eine fast heilige Scheu hielt sie ab zu fragen: »O mein Gott, warum hast du mir sie schon wieder genommen?«

Eine Tante Silvias, die gegen Mittag eintraf und sich Ullis liebevoll annahm, schien einigen Einfluß über sie zu gewinnen. Sie nötigte ihr ein wenig Suppe auf und vermochte sie, in der Nacht mehrere Stunden zu schlafen.

Aber schon beim Grauen des Morgens saß Ulli wieder neben der kleinen Leiche. Nur als sich im Laufe des Tages mehrere Personen in dem stillen Raume einstellten, verließ sie das Gemach.

Je näher die Stunde des Begräbnisses kam, um so qualvoller wurde ihre Unruhe; es war ihr zu Mute, als würde es für sie nicht zu ertragen sein, wenn ihr nun auch der Anblick des Kindes für immer entzogen werde; und als die Männer erschienen, denen die traurige Pflicht oblag, den Sarg zu schließen, da flüchtete Ulli wie ein gescheuchtes Wild, das sich einsam verbluten will.

Sie floh in eine entlegene Kammer. Sie wollte nichts sehen und hören von dem entsetzlichen Vorgange, der jetzt stattfinden mußte. Plötzlich vernahm sie es dennoch: ein leises Pochen und Hämmern – Töne, die der nie vergißt, der sie einmal mit blutendem Herzen gehört hat. Ulli stürzte auf die Kniee und wühlte ihren Kopf unter eine Bettdecke.

Es wurde wieder still – dann fing's von neuem an; gleichmäßige Tritte, die sich die Treppe hinunter bewegten – das ganze Haus erfaßte eine Unruhe – Thüren gingen, Fenster wurden geöffnet. – Eine Hymne, von Kinderstimmen gesungen, tönte leise verhallend herauf – darauf Rollen von Rädern – das Gartenthor wurde laut zugeschlagen – nun ward's still – so still, als ob nie mehr in diesem Hause ein froher Laut erschallen solle.

Es war schon Abend geworden, als die Thür geöffnet wurde und das rotgeweinte ganz verschwollene Gesicht von Fräulein Renate zum Vorschein kam; sie trug in ihrer zitternden Hand ein Glas voll Milch.

»Steh' auf und – trinke davon,« stotterte sie. »Das wird – dir – gut – thun.«

Ulli starrte sie an wie geistesabwesend.

»Wenn du trinkst, so – so – will ich mit – dir auf – den Kirchhof gehen – – wir – wir – ganz – allein.«

Ulli stand auf und versuchte gehorsam zu trinken. Die Kehle war ihr wie zugeschnürt, aber wenn sie aufhörte, stieß sie Fräulein Renate immer ein bißchen an den Ellbogen, und dann versuchte Ulli es wieder; endlich hatte sie doch das Glas geleert.

Darauf entfernte sich Fräulein Renate und kam mit Ullis Hut wieder; die Handschuhe hatte sie vergessen; sie selber trug einen grauen und einen gelben, und ihren Hut hatte sie ganz schief aufgesetzt; man sah, daß es nicht vor dem Spiegel geschehen war.

»Du mußt leise gehen,« sagte sie jetzt. »Sie essen Abendbrot – Schwester Juliane darf es nicht erfahren – komm.«

Sie schlichen bei dem Eßzimmer vorüber, in dem es aber noch stiller als gewöhnlich zuzugehen schien, denn sie vernahmen keinen Laut.

Das frische kleine Grab, mit welkenden Kränzen bedeckt, war bald gefunden. Fräulein Renate kniete laut schluchzend daran nieder und zog aus den Kränzen Zweiglein und Blumen heraus, um sie als Angedenken zu bewahren.

Ulli blieb aufrecht stehen, und nur manchmal schluchzte sie auf, doch mit trockenen Augen; aber als sich Fräulein Renate endlich anschickte, das Grab zu verlassen, da stürzte Ulli nieder, als habe sie ein Schlag gefällt, und schrie mit schneidendem Schmerze: »Ich mag nicht länger leben!«

Jetzt wurde Fräulein Renate doch angst, was sie mit dem verzweifelten Mädchen beginnen sollte. Sie gab gute Worte – sie schalt – nichts wollte helfen, Ulli rührte sich nicht. Da wußte sie sich nicht anders zu helfen, als neben ihr hinzuknieen und sie mit ihren Armen zu umfassen: »Haben wir sie nicht beide verloren?« rief sie schluchzend. »Ist sie nicht auch mir gestorben?«

Bei diesen Worten war es Ulli, als löste sich eine Erstarrung und ihr Herz wurde von den Banden, die es zusammengepreßt hielten, frei. Die Thränen stürzten ihr aus den Augen, und nachdem sich beide satt geweint, folgte sie dem betrübten alten Fräulein willig nach Hause.


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