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Viel gewagt – Alles verloren.

Dem Schmerze folgte Betäubung. Der Arzt verlangte, daß Ullis Unterricht ausgesetzt würde; sie sollte Bäder nehmen, etwas Erheiterndes lesen und sich fortwährend im Freien aufhalten. Saß Ulli im Garten, so fand sich auch bald Fräulein Renate ein; der gemeinschaftliche Verlust webte zwischen ihnen ein unsichtbares Band.

In den ersten Tagen des Juli langte aus Wien ein Brief an; Johann Dinkel hatte ihn geschrieben und einen Hundertfrankschein eingelegt; er berichtete, daß es mit seinem gnädigen Herrn schlecht ginge; er werde es wohl nicht mehr lange machen; aber Grüße an seine liebe Nichte, Baronesse Ulli, habe er ihm doch aufgetragen.

Diese Nachricht war ein Donnerschlag. Alle Hoffnungen auf ein kommendes glückliches Leben schienen vernichtet.

Aber an die Zukunft dachte Ulli in diesem Augenblicke nicht; vor ihrer Seele stand: »Ich muß nach Wien; ich muß meinen Onkel sehen und pflegen.«

Sofort begab sie sich, den Brief in der Hand, zu Fräulein Juliane.

»Mein Onkel ist todkrank,« sagte sie ohne alle Umschweife, »ich wünsche deshalb mit dem Nachtzuge nach Wien zu reisen.«

Fräulein Juliane blickte Ulli verwundert an. »Mein liebes Kind,« sagte sie, »das ist ein sehr thörichter Wunsch. Einem schwerkranken Manne kannst du nichts nützen, denn an Pflege wird es ihm nicht fehlen. Ich habe auch kein Recht, dich zu entlassen; du bist mir anvertraut; ich übernehme nicht die Verantwortung, dich eine so weite Reise allein machen zu lassen.«

Ulli preßte den Hundertfrankschein, den sie abzuliefern gekommen, fest in ihrer Hand zusammen und entfernte sich, ohne ein Wort hinzuzufügen. Fräulein Juliane atmete auf.

»Ich hatte mich schon auf eine Scene gefaßt gemacht,« dachte sie. »Aber Silvias Tod hat das trotzige Mädchen sehr verändert.«

Fräulein Juliane täuschte sich. Ulli hatte in diesem Augenblicke den Entschluß gefaßt, allein nach Wien zu gehen. Stark wie ihr Empfinden war auch ihr Wollen – ihr unvernünftiges kindisches Wollen. Sie hatte noch nicht gelernt, mit Thatsachen zu rechnen und sich in die Verhältnisse zu fügen. Sie sah nicht nach rechts, noch nach links. Sie fragte nicht, wie großen Schaden ein Pensionat erlitte, aus dem eine Pensionärin entflohen war. Sie überlegte nicht, in welche Gefahren sie sich bei ihrer vollständigen Unkenntnis der Welt begab. Vor ihren Augen war das Bild eines kranken alten Mannes, der die Arme nach ihr ausbreitete, und der rief: »Mein liebes Kind, ich wußte, daß du kommen würdest.«

Nicht ohne Klugheit, ja mit einer ihrem Charakter sonst fremden Schlauheit, überlegte Ulli ihren Plan. Liseli war bestechlich; an Liseli also mußte sie sich wenden.

»Ich habe einen Hundertfrankschein,« sagte Ulli, »den möchte ich gewechselt haben in fünf kleine Goldstücke; eines davon gebe ich dir zur Belohnung, wenn du mir noch einen großen Gefallen thust, ja ich verspreche dir fünf solche Goldstücke, wenn alles gelingt; ich werde meinen Onkel bitten und er wird dir gern so viel Geld geben; denn er wird froh sein, wenn ich zu ihm komme. Er ist sehr krank; vielleicht wird er bald sterben –« Ulli erbleichte bei der bloßen Vorstellung – »und Fräulein Juliane will mich nicht fortlassen; aber ich muß nach Wien; habe ich kein Geld, so laufe ich fort und bettle mich bis Wien. Sobald ich ankomme, will ich an Fräulein Juliane schreiben und – sie auch um Verzeihung bitten.«

»Aber Fräulein,« wendete Liseli ein, »warum fragen Sie nicht erst bei Ihrem Onkel an?«

»Das würde viel zu lange dauern; da könnte ja fast eine Woche vergehen, ehe die Antwort käme; und dann wäre er vielleicht schon gestorben; du sollst ja nichts thun, Liseli, als meinen kleinen Handkoffer nach der Bahn tragen und mir das Billet kaufen, und denke nur an das viele Geld.«

Daran dachte Liseli. Zwanzig Frank sicher und hundert Frank möglicherweise nur für ein bißchen Angst, die die Damen ausstanden – denn in wenig Tagen kam ja Ullis Brief – mit dem Geschäft war das Liseli nicht unzufrieden. In Anbetracht, daß die hundert Frank aber nicht so ganz sicher waren, rechnete sie Ulli das Billet höher an, so daß dieser nur etwa acht Frank übrig blieben.

Ulli gab vor, zu einem ihrer Lehrer, Dr. Ganter, eingeladen zu sein; die französische Gouvernante begleitete sie bis an dessen Haus. Ulli aber machte nur einen kurzen Besuch und ging dann auf den Bahnhof, wo sie Liseli mit dem Köfferchen traf; bald darauf verließ der Zug die Halle.

Natürlich entdeckten die Damen sofort die Flucht und Liseli, auf die gleich der Verdacht fiel, Ulli geholfen zu haben, wurde zur Rechenschaft gezogen.

Fräulein Renate bekam Brustkrämpfe; Fräulein Juliane aber schloß das Zimmer ab, damit niemand etwas merke; ihr lag alles daran, die Sache zu verheimlichen, und schon beim Abendbrot teilte sie mit, daß sie sich nach einem Telegramm aus Wien entschlossen habe, Ulli zu dem Onkel reisen zu lassen.

Die Sorge, ob Ulli auch glücklich ankommen würde, suchte sie zu bekämpfen; nach wenigen Tagen mußte eine Nachricht kommen; in diesem Punkte war Ulli gewissenhaft und treu.

Diese Nachricht traf ein; aber als es geschah, sank Fräulein Juliane mit einem dumpfen Angstruf, totenbleich in ihren Lehnstuhl zurück.

* * *

Sobald sich die Lokomotive mit Schnaufen in Bewegung gesetzt hatte, war es Ulli, als sei sie aus großer Gefahr errettet; sie hatte gefürchtet, auf dem Perron doch ein bekanntes Gesicht auftauchen zu sehen und genötigt zu werden, das Coupé zu verlassen. Sie atmete tief auf; aber befriedigt fühlte sie sich trotzdem nicht; denn sie hatte kein gutes Gewissen; zwar versuchte sie es zu beschwichtigen und sagte sich vor, daß sie es ihrem Onkel schuldig wäre, so zu handeln; daß sie ja nicht nötig gehabt hätte zu lügen, wenn Fräulein Juliane sie nicht von der Reise abgehalten haben würde. In Gedanken schrieb sie schon den Brief, in dem sie um Verzeihung für ihren Ungehorsam bat. Aber das Gewissen, wenn es einmal aus seiner Ruhe aufgestört wird, kann ein lästiger und sehr quälender Gefährte werden. Schlief Ulli auch wohl einmal ein, gleich wurde sie von diesem mahnenden Gesellen wieder aufgeweckt; er zeigte ihr Fräulein Juliane und Fräulein Renate sogar in einem viel bessern Lichte, als sie ihr bis dahin erschienen waren. Damit soll aber nicht gesagt sein – daß Ulli die Damen in dem klaren Lichte einer ruhigen Überlegung auch richtig beurteilt hätte.

Am nächsten Tage machte sich neben dem bösen Gewissen ein immer mehr zunehmender Hunger bemerkbar. Liseli hatte Ulli vorsorglich mit einigem Weißbrot versehen. Das war längst aufgezehrt; eine Mitreisende teilte ihr von ihrem Mundvorrat mit; trotzdem ließ sich der Hunger nur mit der Aussicht auf ein reichliches Mahl im Hause des Onkels beschwichtigen. Denn Ulli fand nicht den Mut, sich in einem Restaurant an das Büffett heranzudrängen, um etwas Eßbares zu verlangen.

Als sie aus den Reden der Mitreisenden vernahm, daß man bald in Wien anlangen würde, fing auf einmal ihr Herz heftig zu klopfen an und das Bild des kranken Onkels verscheuchte Gewissensskrupel wie Hungerqualen.

Sie war über vierundzwanzig Stunden unterwegs gewesen, als sie in der alten Kaiserstadt einfuhr. Da sie kein größeres Gepäck mit sich führte, so brauchte sie nur ihr Köfferchen zu nehmen und mit den andern Reisenden dem Ausgange zuzueilen.

Vor dem Stationsgebäude stand eine Reihe Fiaker, sie stieg in einen der Wagen und gab dem Kutscher die Wohnung des Freiherrn von Gültling an.

Der Weg vom Bahnhofe bis zu dem Hause des Onkels war sehr lang. Ulli wurde ganz schwindlig von den vielen Straßen und Plätzen, die sie durchfuhren. Endlich hielt der Fiaker auf einer breiten, aber stillen Vorstadtstraße, vor einem aristokratisch aussehenden Hause, reich mit Sandsteinornamenten ausgeschmückt, im Stil der besten Zeit der Spätrenaissance. Ein Vorhof, den ein höchst kunstvoll gearbeitetes Gitter abschloß, trennte es von der Straße.

Beim Bezahlen machte der Kutscher Umstände und wollte Franken nicht nehmen. Nun überlegte zwar Ulli, daß sie den Fiaker von einem Diener ihres Onkels bezahlen lassen könnte; aber es verletzte ihren Stolz, gleich mit einer Geldforderung einzutreten, deshalb beschloß sie, dem Manne eine höhere Summe zu bewilligen. Denn jetzt war ja das ersehnte Ziel erreicht, sie stand vor dem Thore des geträumten Paradieses – nur noch wenige Augenblicke und sie war beschützt, geborgen – sie hatte einen zweiten Vater gefunden, den sie lieben durfte und von dem sie wieder geliebt zu werden hoffte.

»Ich will Ihnen mehr Geld geben; das können Sie für die Mühe des Einwechselns rechnen,« sagte sie schüchtern zu dem Kutscher und drückte ihm fünf Frank in die Hand, womit er sich nach einigem Brummen einverstanden erklärte. Während er langsam fortfuhr, trat Ulli an das Thor und klingelte.

Ihr Herz fing doch zu pochen an; es war so still; niemand ließ sich auf dem Hofe sehen, und auch hinter den geschlossenen Fenstern zeigte sich kein Gesicht; sie zog noch einmal die Glocke stärker.

Jetzt wurde in dem Portierhäuschen, das nach der Straße zu lag, ein Fenster geöffnet und eine ganz alte Frau in einer großen weißen Nachthaube guckte heraus.

»Jesus,« rief sie ärgerlich, »wer kommt jetzt noch? Zu wem wollen Sie denn?«

»Ist der Freiherr von Gültling zu sprechen?« fragte Ulli etwas eingeschüchtert.

»Zu wem wollen Sie?« schrie die Alte und hielt die Hand ans Ohr.

»Ich frage, ob der Freiherr von Gültling zu sprechen ist?« schrie Ulli laut.

»Jesus, wollen Sie denn dem gnädigen Herrn nicht einmal im Grabe Ruhe gönnen?« rief die Frau ärgerlich. »War's noch nicht genug, daß er gab und immer gab, so lange er die Hände noch rühren konnte? Ja, mit dem Wohlthun – der himmlische Vater mag's ihm da oben vergelten – hat's ein Ende gefunden. Gestern haben sie ihn nach seiner Herrschaft, nach Brandenstein geschafft – weil er doch in der Familiengruft beigesetzt werden soll, der gute gnädige Herr. Der neue Herr von Brandenstein war auch zum Begräbnis gekommen. Jesus, 's hat sich's keiner nehmen lassen – sie sind alle mit der Leiche nach Steiermark; ich bin ganz allein im Hause geblieben; deshalb lasse ich auch niemand ein – nein, keine Seele – sie hätten's leicht mit einer fast blinden und tauben Frau.«

Sie schlug das Fenster zu und schloß es inwendig noch mit einem Laden.

Ulli griff nach dem Gitter – es wurde ihr mit einmal so sonderbar. Ihr schwindelte, als ob sich plötzlich ein Abgrund vor ihr aufgethan hätte; eine eiskalte Hand schien an ihr Herz zu greifen und es zusammenzupressen. Ihre Gedanken verwirrten sich. Wie hätte sie es auch mit einmal zu fassen vermocht, daß der, mit dem sie noch soeben in Gedanken wie mit einem Lebendigen gesprochen, vor dem sie in wenig Augenblicken Angesicht zu Angesicht zu stehen gehofft – tot und begraben war! Da klangen plötzlich Worte aus einem Psalm Davids in ihren Ohren, die sie einmal – sie wußte nicht mehr wo – gelesen: »Des Menschen Fleisch ist wie Gras, es welket und verdorret – sein Leben ist wie ein Hauch.« Unaufhörlich mußte sie diese Worte, die sie ganz vergessen geglaubt, wiederholen.

Allmählich schwand die Betäubung, in die sie die schreckliche Nachricht versetzt hatte; sie fing an zu überlegen. Auf der Straße konnte sie nicht stehen bleiben; die Vorübergehenden sahen sie jetzt schon erstaunt an. Es blieb ihr nichts übrig, sie mußte noch einen Versuch machen, die Alte zum Öffnen zu bewegen. Zögernd griff sie an den Klingelzug und läutete. Nach einer Weile wurde der Laden zurückgeschoben, das Fenster aufgemacht und der Kopf der Frau kam wieder zum Vorschein.

»Sie sind ja eine unverschämte Person,« rief sie. »Habe ich Ihnen denn nicht schon einmal gesagt, daß der gnädige Herr gestorben ist und daß nichts mehr ausgeteilt wird!

Meinetwegen mögen Sie die ganze Nacht läuten und die ganze Nachbarschaft in Alarm bringen – ich mache nicht noch einmal auf.«

Vergeblich rief ihr Ulli zu, daß sie ja nicht gekommen sei, um zu betteln. Die Alte achtete gar nicht auf das, was sie sagte; das Fenster wurde zugeschlagen und der Laden wieder vorgeschoben.

»Barmherziger Gott, was soll aus mir werden?« stöhnte Ulli und lehnte sich fassungslos an das Gitter, das sich vielleicht vor wenig Stunden erst geöffnet hatte, um die Leiche ihres zweiten Vaters hindurchzulassen.

Thränen liefen ihr über die Wangen. Ja, sie fühlte es, wie sie diesen Onkel geliebt hatte. Er war der starke Held ihrer Träume; wenn sie sich das Glück ausmalte – aus seiner Hand wurde es ihr geboten. Und nun fand sie ihn nicht! – Wie eine Bettlerin wurde sie von seinem Hause fortgejagt! Die Stütze war gebrochen, an die sie sich geklammert; die Hoffnungen waren ausgelöscht, auf die sie gebaut – einsam und verlassen stand sie in einer ganz fremden Welt.

Immer lebhafter empfand sie das Entsetzliche ihrer Lage; obzwar ein unerfahrenes Kind und unbekannt mit den Gefahren, die ihr drohten, fühlte sie doch instinktiv, daß sie von Gefahren umgeben sei. Manch ein Jüngling, der hoffnungsvoll die Weltstadt betreten, war unbarmherzig von ihren Wellen verschlungen worden. Wie viel schwieriger aber war die Lage dieses jungen Mädchens, das ohne Welt- und Menschenkenntnis – von allen Mitteln entblößt – ohne einen Freund, den sie in dieser Not um Rat hätte fragen können – beim Dämmerlicht des anbrechenden Abends an dem Gitterthor stand, das sich für sie nicht wieder öffnen sollte!

Die Fenster des alten Hauses vergoldete der Abendschein; rötliche, von den letzten Sonnenstrahlen durchglühte Wölkchen zogen über den tiefblauen Himmel, aus den Gärten tönte das Flöten der Amsel – Spaziergänger kamen schwatzend und lachend vorüber; alles schien die Wonne des herrlichen Abends zu empfinden, nur das arme Kind gedachte der Nacht, die ihm folgen mußte, und schauderte fröstelnd zusammen.

Da kamen Arbeiter die Straße herunter; sie schienen auf dem Heimwege schon in einem Wirtshause eingekehrt zu sein, denn da es Samstag war, trugen sie den Wochenlohn in der Tasche. Sie sangen und johlten in ihrer rohen Weise, als sie sich dem Platze näherten, auf dem Ulli stand. Sie fürchtete sich vor diesen Menschen und flüchtete in ein Nebengäßchen, wo sie warten wollte, bis die Schar vorübergezogen wäre. Die Arbeiter belustigte ihre Furcht, und sie riefen ihr lachend Worte nach, die sie nicht verstand. Ohne sich umzusehen, denn sie glaubte sich von ihnen verfolgt, flüchtete sie weiter.

Das Gäßchen lief zwischen Gartenmauern hin und war nicht breiter als ein Fußsteig. Sobald sie die rohen Stimmen nicht mehr vernahm, kehrte sie um; da kam ihr ein einzelner Mann entgegen, der ihr verdächtig aussah; sie hatte nicht den Mut, so dicht bei ihm vorüberzugehen, wendete sich wieder und lief in der entgegengesetzten Richtung. Er rief ihr nach, sie solle sich doch nicht vor ihm fürchten; aber in der Aufregung verstand sie ihn nicht und beschleunigte nur ihre Schritte.

Selbst wenn sich schon die Schatten des Abends auf den heimatlichen Wald in Westfalen gesenkt hatten, war sie noch lange unter den Bäumen umhergestreift, ohne, wie der Bursche in dem Märchen, zu erfahren, was das Fürchten heiße. Jetzt aber hatte sie mit einem Male das Fürchten kennen gelernt. In jedem Vorübergehenden sah sie einen heimlichen Feind, der sie bedrohte, und zugleich quälte sie das Bewußtsein, jeder müßte es ihr auch ansehen, daß sie arm, freundlos und ganz verlassen umherirrte.

Sie erreichte fliehend eine der Vorstadtstraßen, wo die Arbeiterbevölkerung wohnte; die Häuser waren niedrig und schlecht gehalten, Kinder tummelten sich auf dem Fahrwege; vor den Thüren standen Weiber und schwatzten, und aus den offenen Weinschenken tönte wüstes Geschrei und der unmelodische Gesang von Harfenmädchen.

Ulli schien durch ihren bessern Anzug und das elegante Köfferchen, das sie in der Hand trug, aufzufallen; sie eilte, die nächste Straße zu gewinnen, durch die sie auf einem Umwege wieder zu dem Hause des Onkels zu gelangen hoffte. Sie war in ihrem Entschlusse, sich dort Eingang zu verschaffen, durch die Angst bestärkt worden, die sie soeben ausgestanden, und nahm sich vor, zu läuten und nicht abzulassen vom Läuten, bis sie die Alte aufgerüttelt und ihr klar gemacht, daß sie die Nichte des Verstorbenen sei.

Die ärmliche Straße, die sie jetzt verließ, mündete auf eine der Hauptverkehrsadern der Vorstadt. Ein Strom von Menschen flutete ihr hier, aus der innern Stadt kommend, entgegen; die Restaurants waren schon erleuchtet, auf der Straße wurden die Gasflammen, in den Häusern die Lampen angebrannt. Niemand schien hier Ulli zu bemerken. Jeder hatte mit sich selbst zu thun, und da sie sich unbeachtet sah, gewann sie wieder etwas Mut.

Anstatt aber die stille Straße zu erreichen, auf der das alte Haus lag, kam sie auf einen großen belebten Platz. Equipagen und Fiaker rollten vor das Portal eines stattlichen, erleuchteten Gebäudes, vielleicht eines Theaters. Die mit blühenden Oleanderbäumen umgrenzten Plätze vor den Caféswaren alle gefüllt und in den Strahlen der von einer müßigen Menge umstandenen Fontänen glitzerte das Licht der vielen Gasflammen. Das Wogen und Treiben der Großstadt umbrauste mit einem Male das geängstigte Kind, das jetzt erst merkte, daß es den Weg verloren hatte. Ulli nahm sich deshalb vor, irgend einen der Vorübergehenden nach der Straße zu fragen, aber niemand sah ihr so vertrauenswürdig aus, daß sie ihn anzureden gewagt hätte. Da kam ein Trupp Offiziere in weißen Tuchröcken, mit enganliegenden blauen Pantalons – Ulli wich ihnen scheu aus, obwohl sie sie gar nicht zu bemerken schienen. Da nahten zwei Juden in ihren langen Kaftans, mit Ringellöckchen an ihren Schläfen – dann ein Herr, eine höchst elegante Dame am Arm – Ungarn in ihrer kleidsamen Nationaltracht – Slovaken mit Blechgeschirr. Das Gewirr der verschiedensten Sprachen tönte an ihr Ohr: Polnisch, Rumänisch, Magyarisch, Czechisch, Italienisch; – ja selbst der österreichische Dialekt berührte sie ganz fremdartig – sie fand durchaus nicht den Mut, einen dieser Menschen anzusprechen.

Aber eine Frage, die lange auf den Lippen schwebt, wird endlich, fast unwillkürlich, laut, und kaum sich bewußt, daß sie es wagte, redete sie einen kleinen ältlichen Herrn an und fragte ihn nach der Straße, an der des Onkels Haus gelegen war.

»Ja schaun's, da sind Sie aber ganz auf dem Irrweg, mein liebes Fräulein. Ist mir ganz unmöglich, Ihnen zu beschreiben, wie Sie von hier aus zu gehen haben – denn Sie fänden sich doch nimmer zurecht. Wissen's was, Sie wenden sich an einen Schutzmann; möchte Ihnen ohnedies raten, nicht mehr lange ohne Begleitung auf der Straße umherzuirren. – Habe die Ehre!« Höflich den Hut lüftend, in der Meinung, er habe das Äußerste an Menschenfreundschaft geleistet, indem er dem verlassenen Mädchen noch einen guten Rat auf den Weg gegeben, entfernte er sich. Ulli wollte noch fragen, woran sie denn einen Schutzmann zu erkennen vermöchte, aber der Herr hatte sich schon im Gedränge verloren.

Sie bildete sich nun ein, sie dürfe niemand fragen als einen Schutzmann, und tröstete sich, daß sie ihn am Ende doch unter der Menge herausfinden würde. Sie dachte auch daran, einen Fiaker zu nehmen – aber mit Franken waren diese Leute schlecht zufrieden, und sie besaß nicht mehr als drei Frank; sie zögerte doch, ehe sie sich von dem allerletzten Gelde entblößte; besonders da die Aussicht, daß die alte Frau sie aufnehmen würde, sehr gering war.

Unterdes war es ganz dunkel geworden und nur in der Nähe der Gaslaternen waren die Wege heller beleuchtet. Ulli, die sich die große Ausdehnung Wiens nicht vorstellen konnte, hegte noch immer die Hoffnung, ein glücklicher Zufall werde sie zurück zu der gesuchten Straße leiten. Dabei ging sie unaufhörlich vorwärts, denn sie hatte bemerkt, daß sie aufgefallen war, als sie einmal ganz erschöpft einen Augenblick gerastet hatte. So kam sie immer auf neue Straßen und Plätze; endlich fand sie sich auf den gewundenen Wegen einer Promenadenanlage, des Stadtparks. Musik tönte ihr hier entgegen, und je mehr sie sich derselben näherte, je lebhafter wurde der Verkehr. Langsam, um sich nicht zu schnell von den angenehmen Tönen zu entfernen, promenierten die Spaziergänger vor einem mit bunten Lampen zauberhaft erleuchteten und ganz mit Menschen angefüllten Garten auf und ab. Durch die muntern Tanzweisen aber tönte es in Ullis Ohr: »Des Menschen Fleisch ist wie Gras, es welket und verdorret – sein Leben ist nur ein Hauch.«

Unmittelbar vor dem Garten, wo ein fortwährendes Kommen und Gehen war, schien das Gedränge am ärgsten. Ulli war hineingeraten, sie wußte nicht wie, und mußte nun, weil sie mit ihrem Köfferchen an die Vorbeidrängenden anstieß, spottende Bemerkungen vernehmen.

Unter den vielen Menschen hatte sie sich sicher und beschützt geglaubt; jetzt wurde sie doch wieder ängstlich, denn sie fühlte, daß sie nicht unter diese geputzten und vergnügten Müßiggänger gehörte. Was konnte es sie auch nützen, eine Stunde geborgen zu sein – vor ihr lag die lange, furchtbare Nacht. – Großer Gott, was sollte aus ihr werden, wenn sie die Straße nicht fand, wenn die Alte ihr keinen Einlaß gewährte!

Die Menge um sie verlor sich, als sie weiter ging; sie erreichte die breite Ringstraße – den glänzenden Gürtel des alten Wiens. Zwei ältere Damen, gefolgt von einem Diener, kamen ihr entgegen – der einen Auge streifte sie mit einem mitleidsvollen Blicke.

»Wenn ich sie anspräche!« dachte Ulli: »Wenn ich sie bäte, sich meiner anzunehmen?« – Aber ehe sie soviel Mut gewonnen, waren die Damen schon vorüber.

Das Köfferchen wurde schwerer und schwerer; aber sie fühlte instinktiv, daß es ihr eine Art Schutz gewährte; sie sah wie jemand aus, der vom Bahnhofe kam, und so lästig es ihr auch wurde, wo sollte sie es unterstellen? Außerdem konnte sie sich im Notfall durch das Köfferchen ausweisen, denn es enthielt den Brief ihres Onkels und Wäsche, die mit einer Krone gezeichnet war.

Sie kam jetzt zu einem Hotel, dessen Vorhaus glänzend erleuchtet und mit grünen Pflanzen ausgeschmückt war. Unter dem Glasdache stand der stattliche Portier im dunkelgrünen, reich mit Gold besetzten Rocke.

In einem Hotel kann man übernachten, wenn man Geld hat, ein Nachtlager zu bezahlen. Ulli trat ein wenig in den Schatten, zog ihr Beutelchen und zählte – sie hatte richtig noch drei Frank. – Ob das Geld wohl langen würde? Ob sie wohl die Franken als Bezahlung nehmen würden? Aber was dann morgen? Wovon sollte sie leben, wenn sie alles Geld ausgegeben hatte? Ja, was geht sie der Magen an – tausend Dinge könnten ihr zu Hilfe kommen – nur nicht länger auf den Straßen umherirren – nur diese furchtbare Nacht überstehen!

Sie trat einen Schritt vor – das Herz schlug ihr zum Zerspringen – aber sie wollte es dennoch wagen, den Portier anzusprechen. Da rollte ein Zweispänner vor. Der Portier zog, und eine lärmende Glocke rief die Kellner herbei, die sich an der Eingangsthür aufstellten. Der Hausknecht half dem Kutscher die schweren Koffer abladen, der Oberkellner riß den Wagenschlag auf; ein Herr und eine elegante Dame stiegen aus. Die Kellner verneigten sich tief, und alle begaben sich in das Haus.

Ulli aber floh, als verfolgte sie das Lachen und Spotten der Leute, das sie zu hören erwartete, wenn sie nach einem bescheidenen Stübchen verlangte. Vielleicht fand sie ein einfaches Gasthaus, in dem nicht so vornehme Leute verkehrten. Um alles in der Welt hätte sie hier nicht eintreten mögen.

Sie geriet jetzt in die engen Straßen der innern Stadt. Es war spät geworden; sie merkte, daß die Vorübergehenden sie verwundert betrachteten. Sie wagte nicht stehen zu bleiben, und je müder sie wurde, um so mehr hastete sie vorwärts.

Die Straßen begannen sich zu leeren; in Wien wird es bekanntlich bald nach zehn Uhr schon still. Nur die Restaurants waren noch erleuchtet. Die aus diesen heraustraten, fürchtete Ulli am meisten; sowie sie jemand laut sprechen hörte, bildete sie sich ein, es müßte ein Betrunkener sein.

Sie fand kein Hotel, in das sie sich hineingewagt hätte, sie fand auch keinen Schutzmann und bereute es, den Stadtpark verlassen zu haben. Dort war es zu dieser Stunde geWiß ganz einsam geworden, vielleicht gab es auch Bänke, hinter dichten Büschen verborgen, wo sie sich hinsetzen konnte, bis die grausame Nacht vorübergegangen war.

Ach, wie müde wurde sie! Die schweren Füße vermochte sie kaum noch zu heben; aber nur hinaus ins Freie, nur weiter, nur immer weiter!

Doch immer mehr geriet sie in ein Gewirr von schmalen Gäßchen, zwischen Häusern von sieben bis acht Stockwerken Höhe. Sie fühlte auch Hunger, aber sie beachtete ihn gar nicht; was kommt's wohl auf ein bißchen Hunger an! Der läßt sich noch am ehesten ertragen. Selbst an den Onkel dachte sie nicht mehr, nur an das Labyrinth der Gassen, dem sie zu entfliehen strebte, nur an die Nacht – die furchtbare Nacht!

Ihr Gang wird taumelnd; bei jedem Laut fährt sie zusammen, in den Schläfen beginnt ein unheimliches Pochen ihre Finger halten krampfhaft den Griff des Köfferchens umschlossen, denn wenn es zu Boden fiele, sie könnte es nicht wieder aufheben.

Da plötzlich tönt dicht neben ihr wüstes Geschrei – eine Schar roher Gesellen verläßt ein erleuchtetes Haus; sie haben das arme Kind auf dem engen Gäßchen erblickt – der eine taumelt auf sie zu und streckt seine Hand nach ihr aus.

Sie stößt einen verzweifelten Schrei aus, läßt das Köfferchen fallen und entflieht; wie ein gehetztes Reh, ohne sich umzusehen, jagt sie die Gasse hinunter, wähnend, daß die Verfolger hinter ihr seien.

Sie erblickt ein Kellerfenster, in dem eine Lampe brennt. Jemand schließt die Thür daneben, durch deren Ritzen noch ein Lichtschein fällt. Sie fliegt darauf los und schlägt mit der Faust an die Thür. Diese wird noch einmal geöffnet und es zeigt sich ein breites verwundertes Gesicht. »Da muß man aber fragen, was denn das bedeuten soll?« ruft der Mann.

Aber das geängstigte Mädchen kann nicht mehr antworten – es stürzt an ihm vorbei die Stufen hinunter, und auf der Diele der Kellerwohnung bricht es ohnmächtig zusammen.


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