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Ulli im Theater.

Nach einigen Tagen lud die Frau Kommerzienrätin die junge Gesellschaft zu einer Vorstellung des »Käthchen von Heilbronn« von Kleist in ihre Loge ein.

Frau von Holder konnte das Stück nicht leiden; außerdem hielt sie es für durchaus unpassend; deshalb war sie dafür, die Einladung abzulehnen. Diesmal aber entschied Herr von Holder.

»Aber, liebes Kind,« sagte Herr von Holder, »so eine alte Rittergeschichte hört man sich an wie ein Märchen. Unsre Töchter werden deshalb keinem Ritter nachlaufen, weil das dumme Käthchen einem nachgelaufen ist; so etwas macht auf die moderne Jugend gar keinen Eindruck. Dagegen muß ich dir sagen, daß es mir sehr lieb wäre, wenn du einmal völlige Ruhe genießen könntest.« So wurde denn zugesagt.

Eduard benützte die Loge seiner Tante jeden Abend, wenn er nichts Besseres vorhatte; ihm war es natürlich leicht, den Blasierten zu spielen. Leonie und Gabriele aber äußerten, soweit es schicklich war, ihre Freude. Ulli hatte keine Ahnung, wie groß das Vergnügen wäre, das sie erwartete; woher sollte sie wissen, was ein Theater bedeutete? Sie kannte keine Theaterstücke und hatte nicht die geringste Vorstellung von einer Bühne. Es gab sich auch niemand die Mühe, sie aufzuklären. Eduard mußte gleich wieder ins Comptoir, Miß Kirk hatte Zahnschmerzen bekommen, und die Cousinen hatten keine Zeit für Extraunterhaltungen; ihnen war jede Stunde eingeteilt. Die Toilette nahm diesmal keine Zeit fort, da die drei jungen Mädchen noch die Trauerkleider trugen.

Als sie nun den Theaterplatz erreichten, mußte der Wagen wegen des großen Andrangs Schritt fahren. Das Menschengewühl in der Garderobe war Ulli beängstigend; als sie nun aber in den erleuchteten, prachtvollen Zuschauerraum trat, da fing ihr Herz zu klopfen an und es wurde ihr fast schwindlich.

Die Kommerzienrätin saß mit Leonie in der ersten Reihe, Gabriele und Ulli in der zweiten. Eduard war noch nicht erschienen.

»Ist das das Theater?« fragte Ulli.

»Natürlich,« antwortete Gabriele und wandte sich zu ihrer Schwester, um sie auf Bekannte aufmerksam zu machen. Es war so interessant, da und dort hinüber zu grüßen und die verschiedenen Toiletten zu mustern.

»O wie schön ist ein Theater! Gehen wir nach einer Weile wieder nach Hause, oder wird noch etwas vorgehen?« fragte Ulli wieder.

»Aber Ulrike, blamiere dich doch nicht,« flüsterte Gabriele.

»Hier, lies den Zettel.«

Ulli las den Zettel; er verwirrte sie vollends. Da hob sich auf einmal langsam der Vorhang, den sie für ein Gemälde gehalten hatte. Sie faßte erregt nach Gabrielens Hand und stieß ein lautes »Ach!« aus. Mit weit aufgerissenen Augen beugte sie sich vor; sie war bleich geworden. Daß Eduard eintrat, hatte sie gar nicht bemerkt.

Was auf der Bühne vorging, blieb ihr vollkommen unverständlich; sowohl die Handlung, wie auch das, was gesprochen wurde.

Sie sah ein unterirdisches Gewölbe; auf einem schwarz behangenen Tische standen Kerzen und ein Kruzifix; furchtbar erschienen ihr die verkappten Richter der Feme in ihren langen dunkeln Talaren.

Das, was sie auf der Bühne sah, stand in einem so schroffen Gegensatze zu dem lichten, mit geputzten Menschen angefüllten Zuschauerraume, daß sie keine Verbindung herstellen, keinen Zusammenhang finden konnte. Im nächsten Augenblicke hatte sie aber schon ihre Umgebung vergessen. Sie fing an die Worte zu verstehen, die ein alter Mann in pelzverbrämtem Mantel sprach; er erzählte eine Geschichte von seiner lieben Tochter, sie warf das Geschirr, das sie in der Hand trug, hin, als sie den Ritter vom Strahl erblickte – ja sie warf sich selbst aus dem Fenster, um ihm zu folgen.

Ulli begriff jetzt, daß der alte Mann einen schönen jungen Ritter bei diesen verhüllten Männern verklagte; er sollte das Käthchen bezaubert haben. Der alte Mann sah sehr brav und ehrenhaft aus, aber der junge Ritter gefiel ihr noch viel besser, er war so schön, so edel; er sprach so wahrhaftig; es war geradezu abscheulich, zu behaupten, daß ein solcher Mann ein böser Zauberer wäre. Aber was war das? Das Käthchen gehorchte ihm, wie ein Hündchen seinem Herrn; es schien, sie war gleichsam gezwungen, ihm zu gehorchen und ihm überallhin zu folgen.

Als der Vorhang fiel, wendete sich Ulli schnell zu Eduard – ganz ihres Hasses vergessend – faßte sie heftig seine Hand. »Nicht wahr, er ist unschuldig?« fragte sie bleich und tief erregt. »Sie werden ihn nicht töten? Er wird seine Unschuld beweisen?«

Aber ehe Eduard noch antworten konnte, hörte Ulli leises Lachen; Leonie und Gabriele steckten die Köpfe zusammen und teilten sich Bemerkungen über irgend jemand mit. Wie aus einem Traume wurde Ulli aufgeschreckt.

»Was war das?« fragte sie fast ängstlich. »War das nicht wahr? Sind das« – sie zeigte auf die Bühne – »nicht wirkliche Menschen?«

»Ja, es sind wirkliche Menschen,« antwortete Eduard; doch nun wandte sich die Kommerzienrätin um, klopfte Ulli mit ihrem Fächer und fragte: »Nun, Ulrike, wie gefällt dir das Stück?«

»O sehr gut,« entgegnete Ulli; es klang fast teilnahmslos; aber sie wollte nicht gefragt sein, die laute Stimme der guten Frau that ihr weh. Es war ein Rauschen und Klingen, das durch ihre Seele zog, ein Gefühl von Seligkeit und auch von Qual; daß alles so unbegreiflich war, verursachte diese Qual.

Sie blieb nun ganz still sitzen und störte nicht mehr durch ihre Fragen. Eduard war hinausgegangen; das war ihr ganz recht.

Sobald der Vorhang wieder aufging, versank auch die Wirklichkeit, die sie umgab, und das Vorgestellte wurde für sie zur Wirklichkeit.

Jetzt verstand sie die Worte und wußte, daß der schöne Ritter unschuldig war und daß ihm das Käthchen wider seinen Willen folgte; er war ja fast hart und grausam gegen das arme Kind. Und doch konnte sie dem Ritter deshalb nicht zürnen; es war besser, daß er hart mit Käthchen war, als daß er es durch Zauberei gewonnen hatte; aber sie fürchtete, daß er in die Schlingen der bösen Kunigunde fallen möchte; sie hätte ihm zurufen mögen, daß er sich täusche und daß diese Person eine böse Zauberin wäre.

Sie war auch nach dem Fallen des Vorhangs vollständig in die Geschichte versenkt. Sie fragte: »Wie wird das enden?« Aber sie fragte es nur in Gedanken; es war, als habe sie gar keine Beziehungen zu ihren Verwandten. Es wurde um sie her geplaudert und gelacht; Fächer klapperten, seidene Roben knisterten; Süßigkeiten wurden angeboten; aber Ulli lebte allein, in einer fremden Welt.

Nun begann die große Scene, wo das Schloß in Flammen steht. Die Schloßbewohner sind alle im Hofe versammelt; die böse Kunigunde klagt, daß sie das Bild ihres Bräutigams, des schönen Ritters vom Strahl, vermißt; denn mit ihren Zauberkünsten hat sie ihn doch bethört. Das gute Käthchen erbietet sich, das Bild aus dem brennenden Gebäude zu holen.

Ulli bebte; aus allen Fenstern schlugen schon die Flammen; es war ein schrecklicher Augenblick; aber sie konnte erleichtert aufatmen, mit dem Bilde in der Hand kehrte das gute Kind zurück.

An dem Bilde war aber der bösen Kunigunde nichts gelegen; die Schenkungsurkunde wollte sie haben, in der ihr der Ritter vom Strahl das Schloß vermacht hatte. Und nun erhebt diese abscheuliche Person ein solches Geschrei, daß Käthchen bereit ist, das Wagnis noch einmal zu unternehmen.

Ulli tröstete sich zuerst, daß der Ritter es nicht zugeben würde; als sie jedoch sehen mußte, wie er es zuließ, daß Käthchen seinem sichern Verderben entgegenging, da fing sie an, den schönen Herrn fast zu hassen; er war ihr ganz verleidet.

Jetzt erschien Käthchen, die Schenkungsurkunde in der Hand, auf einem schmalen Brückchen, das die verschiedenen Teile des Schlosses verbindet. Ulli wollte schon aufatmen; aber ein furchtbares Krachen ertönte, das Schloß stürzte in Trümmer, und die Flammen schlugen lodernd aus der Unglücksstätte empor.

Da – durch die lautlose Stille des Zuschauerraums ein Aufschrei! Ulli ist aufgesprungen, weit vorgebeugt schaut sie bleich und verstört nach der Bühne.

Im Augenblick wenden sich alle Köpfe und Operngläser von der Bühne ab und der Loge der Frau Kommerzienrätin zu. Ein naiver Mensch, der miterlebt, was ihm vorgespielt wird, und das Spiel für Wirklichkeit nimmt, ist ein selteneres Schauspiel als das auf der Bühne vorgestellte.

Ulli merkte nichts von dem Aufsehen, das sie verursacht hatte; unverwandt waren ihre Blicke auf die Scene gerichtet; doch ihre Umgebung wurde sehr unangenehm davon berührt. Leonie und Gabriele steckten sich hinter ihre Fächer, Eduard zog Ulli auf den Stuhl und flüsterte ihr etwas zu, das sie nicht hörte, denn zu ihrer größten Freude erblickte Ulli das Käthchen, von einem Engel beschützt, gerettet, und die zurückgehaltenen Thränen stürzten ihr jetzt aus den Augen.

Sobald der Vorhang gefallen war, erhob sich die Frau Kommerzienrätin und verließ mit ihrer jungen Gesellschaft das Theater.

»Aber es fehlt ja noch etwas,« sagte Ulli und trennte sich schwer von ihrem Platze. Sie hatte ein unbefriedigtes Gefühl; weshalb durfte sie nicht den Schluß erfahren? Doch gab ihr niemand Antwort; erst als sie mit Vetter und Cousinen im Wagen saß, wurde ihr klar gemacht, daß sie selber die Veranlassung zu dem Aufbruche gewesen, und daß sie also durch eigene Schuld sich selbst und die Cousinen um das Vergnügen gebracht habe.

Selbst Eduard war nicht gut auf Ulli zu sprechen. Das allgemeine Aufsehen, das sie erregte, hatte ihn verletzt; er wußte, wie die Gesellschaft solche Gefühlsäußerungen zu bespötteln liebte. Als aber Ulli jetzt in leidenschaftliches Schluchzen ausbrach, fühlte er Mitleid.

»Sei nur ruhig, Ulrike,« tröstete er. »Das nächste Mal warten wir den Schluß ab.«

»Mama wird nicht erlauben, daß Ulrike noch einmal ins Theater mitgenommen wird,« bemerkte Gabriele.

»Das nächste Mal wird sie sich ganz vernünftig benehmen. – Nicht wahr, Ulrike, du wirst nicht wieder schreien? Du weißt jetzt, daß alles nur Spaß ist?«

»Spaß?« Ulli blickte ihn zornig an. »Mir hat's keinen Spaß gemacht. – O, und ich werde nie erfahren, wie es ihnen geht?« Und abermals brach sie in Schluchzen aus.

Gabriele stieß Leonie an und zeigte mit der Hand auf die Stirn. Sie hatte es nicht für möglich gehalten, daß es so einfältige Mädchen wie ihre Cousine gäbe.

Eduard aber fühlte sich als Tröster und Erzieher.

»Wenn dir soviel daran liegt, den Schluß zu erfahren, kannst du ihn ja lesen. Das Stück ist gedruckt. Ich glaube nicht, daß wir es besitzen; aber ich werde es dir besorgen. Dann wirst du hören, daß der Ritter das Käthchen heiratet und daß sie jedenfalls sehr glücklich geworden sind.«

Ulli trocknete ihre Thränen; der Zusammenhang eines Buches mit den Personen des Stücks war ihr im Augenblick befremdlich; aber daß die beiden glücklich werden sollten, darin lag ein Trost. Nur konnte sie sich jetzt nicht darüber freuen, sie empfand Schmerz. Das grelle Abbrechen eines leidenschaftlich empfundenen Vergnügens war wie das Zerreißen einer Saite in ihrem Herzen. Ohne Eduard zu danken, blieb sie vollständig verstummt und in sich versunken sitzen.


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