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Der Tod des Letzten de Watteville.

Die Jahre vergingen ohne andern Wechsel als den der Jahreszeiten. Die traurigen Verhältnisse des Barons Gerhard blieben dieselben; ja sie wurden noch verschlimmert durch körperliche Leiden, die sich allmählich einstellten. Seine Mittel erlaubten ihm nicht, berühmte Ärzte zu fragen, und den Kreisphysikus des nächsten Städtchens, Doktor Brendel, der sich eines ausgezeichneten Rufes erfreute, mochte er nicht konsultieren, weil er ein Liberaler war. Diese andauernde Kränklichkeit aber verbitterte ihn noch mehr.

Auch Andreas war, seit er durch einen Fall den linken Fuß verletzt hatte, unbehilflicher, Susanne aber noch tauber und mißlauniger geworden.

Ging etwas schief in dem kläglichen Haushalte, oder vermißte der Baron eine Bequemlichkeit, so beschloß er grimmig, Andreas und Susanne sofort zu entlassen. Plötzlich aber fiel ihm ein, daß er mehr von der Gnade dieser treuen Diener abhing, als sie von der seinen; denn es war schon über zehn Jahre, daß er nicht mehr im stande gewesen war, ihnen einen Lohn auszuzahlen.

Leider machte ihn diese Erkenntnis nicht dankbarer gegen die alten Leute, sondern sie erzürnte ihn nur noch mehr gegen ein Schicksal, das ihn, wie er glaubte, zum armen Manne gemacht hatte.

Es kam ihm nicht ungelegen, als Ulli eines Tages erklärte, daß sie nicht länger Lust habe, sich von dem Schullehrer unterrichten zu lassen, weil er ganz unwissend sei. Der Baron fand, daß er den geringen Lohn dieses geplagten Mannes besser anwenden könne, und auch die alte Susanne war einverstanden. Ulli war jetzt fünfzehn Jahre alt und hatte alle ihre Kinderkleider ausgewachsen. Besonders während des letzten Jahres war sie wie eine junge Tanne aufgeschossen; woher aber sollte die alte Susanne eine neue Garderobe schaffen?

Bald nach Eintritt des Winters, der sich ungewöhnlich zeitig einstellte, trat zu den übrigen Leiden des Barons noch ein Augenübel.

Er hatte sich die Langweile durch das Studium der Wappenkunde und der Adelsprivilegien gekürzt und sich viel mit der Geschichte seiner Ahnen beschäftigt. Die schmerzenden Augen aber hinderten ihn an dieser Unterhaltung.

Da fiel ihm eines Tages auf, daß seine Tochter ein großes Mädchen geworden, und daß sie wohl fähig wäre ihm durch Vorlesen die langen Winterabende zu kürzen.

Leider lief der erste Versuch unglücklich ab. Ulli hatte eine gewisse Scheu vor dem Vater und las deshalb nicht nur zu hastig, sondern stolperte auch über jedes Fremdwort.

Der Baron hatte in seiner Jugend mehr französisch als deutsch geredet; diese Versehen waren ihm deshalb höchst empfindlich und bewiesen ihm zugleich, daß die Erziehung seiner Tochter vernachlässigt worden sei. Da er aber jede Schuld von sich selbst abzuwälzen wünschte, sagte er in gereiztem Tone: »Mademoiselle ist für eine Vorleserin nicht gebildet genug; sie liest wie eine Kuhmagd. Sie scheint ganz vergessen zu haben, daß sich die Töchter der Wattevilles stets durch eine vorzügliche Aussprache des Französischen ausgezeichnet haben. Mademoiselle kann die Bücher zusammenklappen und gehen.«

Ohne ein einziges Wort der Erwiderung schlug Ulli das Buch zu und ging hinaus. Sie fühlte sich zwar beschämt, aber doch zugleich auch empört über diese Ungerechtigkeit. Wie sollte sie französisch verstehen, ohne es gelernt zu haben? Die halbe Nacht lag sie mit heißen Augen und pochenden Schläfen wach in ihrem Bette. Jede Fiber ihres Herzens bäumte sich in wildem Trotze auf.

Aber dieser starre Sinn erfuhr ganz plötzlich eine Umwandlung. Eines Tages hörte sie, wie Andreas zu Susanne sagte, er fürchte, der Baron habe kein langes Leben mehr vor sich; es gehe mit seinen Kräften bergunter; auch verändere sich sein Aussehen, und selbst an der noch üblern Laune spüre man das Leiden.

Als Ulli an diesem Tage während des Mittagsmahles dem Vater gegenüber saß, betrachtete sie ihn zum erstenmal aufmerksam und sah, daß er wie ein alter Mann aussah. Alt, nicht weil er hoch in Jahren war, denn er stand erst im Beginn der Fünfzig, sondern weil ihn der bittere Gram, gegen den er niemals gekämpft hatte, schon früher in einen Greis verwandelte. Das Haar war dünn und gebleicht, die Haut gelb und schlaff, das matte Auge eingesunken und die Haltung gebeugt.

Ulli empfand bei seinem Anblick eine heftige Qual.

»Er wird sterben,« dachte sie reuevoll, »und ich habe nie etwas Gutes für ihn gethan.«

Als sie, wie gewöhnlich nach dem Essen, ihrem Vater die Hand küßte, tropfte eine Thräne darauf. Der Baron zuckte unwillig zusammen und rief heftig: »Ich fürchte, Mademoiselle fängt an anspruchsvoll zu werden,« Er hatte Ullis Kummer mißverstanden.

Dann schob er hastig seinen Stuhl ab, stellte sich ans Fenster und trommelte auf die Scheiben, ohne sich noch einmal nach seiner Tochter umzusehen.

Ulli hatte sich in einem der öden, unbenutzten Räume des obern Stockwerks eine Art Versteck zurecht gemacht, wohin sie sich vor dem Zanken der Frau Susanne flüchtete, oder wo sie ihren Träumereien nachhing, wenn es draußen gar zu böses Wetter war. Hier in diesem Winkel kauerte sich Ulli zusammen, huschelte sich in eine alte Decke, die sie über Kopf und Schultern geworfen, und dachte nach.

Eine Zeitlang bestürmten sie die alten vertrauten Phantasiegebilde. Zauberhafte Wesen traten ihr entgegen und versprachen ihr zu helfen und dem kranken Vater das Leben zu verschönern. Auch das schon etwas verblichene Bild des alten Freiherrn trat wieder in den Vordergrund. Doch fühlte das arme Kind, daß es vergeblich sein würde, den Onkel um eine Hilfe anzuflehen, da es ja wußte, ihr Vater würde lieber verhungern als eine Unterstützung annehmen. Endlich aber fand Ulli doch eine Aushilfe. Wenn es ihr gelang soviel Französisch zu lernen, um ihrem Vater ohne Anstoß vorzulesen, so vermochte sie ihn wenigstens während der trüben Wintertage und der langen Abende durch Lektüre zu unterhalten.

Aber wer sollte ihr Französisch lehren? Sie lebte auf dem alten Schlosse abgetrennter von allem Verkehr als auf einer Insel des Weltmeeres. Da fiel ihr ein, daß sie gehört, als sie vor Jahren auf dem Kirchhof ihren Vater erwartete, wie eine Tochter des Pastors Kielmann gesagt, sie lerne das Französische nach einer neuen Methode aus Büchern, ohne die Hilfe eines Lehrers.

Woher sollte sich aber Ulli diese Bücher verschaffen? Sie wußte ihren Titel nicht, und selbst wenn sie diesen erfuhr, fehlte es ihr an Geld, die Bücher zu kaufen. Eine Möglichkeit, sie zu erlangen, gab es zwar, sie mußte sich an Pastor Kielmann in Bechsteden wenden. Es kostete sie einen schweren Kampf, ehe sie sich dazu entschloß; denn sie hielt es für eine Demütigung einen Mann aufzusuchen, der ihren Vater beleidigt hatte. Da sich ihr aber kein andrer Ausweg zeigte, zog sie sich am nächsten Morgen so gut an, als es ihre äußerst geringe Garderobe erlaubte, band sich ein dickes graues Tuch um, das ihr als Mantel diente, und stahl sich dann heimlich fort; sie wollte ihren Plan erst offenbaren, wenn seine Ausführung gelungen wäre.

Ulli wußte, daß sich niemand ihretwegen ängstigen würde; Susanne und Andreas waren daran gewöhnt, daß sie stundenlang ausblieb und allein durch Feld und Wald streifte. Für Ullis Anzug war es auch gleichgültig, ob es draußen regnete oder schneite, ob der Sturm durch die Baumwipfel rauschte, oder die heiße Sonne herniederbrannte. Von frühester Jugend an hatte sie sich gewöhnt, mehr im Freien als in der Stube zu leben. Keine besorgte Mutter hatte sie je warm eingehüllt, oder ihr nur bei schönem Wetter einen kleinen Spaziergang unter sicherm Schutze erlaubt.

Kam sie einmal ganz durchnäßt heim, dann zankte Susanne, weil es keine Kleider zum Wechseln gab; aber Andreas machte ihr am Ofen Platz, damit sie ein bißchen abtrocknete. Sie würde auch gelacht haben, hätte jemand von ihr verlangt, die Strümpfe zu wechseln, weil sie durchnäßt waren; daß man sich erkälten könne, fiel ihr nicht ein, denn sie war abgehärtet, und weder Nebel noch Kälte, weder Sturm noch Sonnenbrand hatten ihr je geschadet.

Grade ein paar Tage, ehe sie die Wanderung nach Bechsteden unternahm, war der rauhe Nord in einen Westwind umgeschlagen und hatte die festgefrorenen Wege erweicht. Obgleich sich nun Ulli für gewöhnlich gleichgültig gegen das Aussehen ihres Schuhwerks verhielt, kränkte es sie sehr, daß ihre Stiefel, die sie selbst blank geputzt hatte, über und über mit Lehm bedeckt waren, und daß sie so das Pfarrhaus betreten mußte.

Die Frau Pastorin, die am Fenster saß und eifrig Strümpfe stopfte, wunderte sich über das sonderbare Wesen, das energisch auf das Pfarrhaus zugeschritten kam. Der Kopf, mit einer großen schwarzen Kapuze bedeckt, sowie das dicke graue Tuch schienen einem alten Hospitalweib anzugehören; dem widersprach aber der schnelle elastische Gang und das kurze Röckchen.

Erst als Ulli vor der Thür zögerte, ehe sie die Klingel zog, erkannte sie die Pastorin; sie hatte das Kind aus den Augen verloren, seit sie es nicht mehr in der Kirche sah.

»Adam,« rief sie dem Pastor zu, der seine Predigt memorierend in der Studierstube auf und ab ging, »die kleine Watteville steht vor der Thür. Es wird dem Baron doch nichts begegnet sein?«

Die gutmütige Frau hatte längst die Beleidigungen des Barons vergessen und eilte selbst voll herzlicher Teilnahme hinaus. »Es ist dem Herrn Vater doch kein Unglück widerfahren?« rief sie Ulli entgegen.

Das Mädchen blickte die Frau Pastorin erstaunt an; es verletzte sie, in diesem Hause den Namen ihres Vaters aussprechen zu hören. »Danke, nein,« entgegnete sie kurz. »Ich will nur den Herrn Pastor sprechen.«

Es war nicht ihre Absicht, die Frau Pastorin zu beleidigen, und die gute Frau ließ sich durch Ullis unhöfliches Benehmen auch nicht in ihrer Fürsorge stören: »Sie müssen erst bei mir eintreten, mein Kind. Sie haben sich auf dem abscheulichen Wege nasse Füße geholt; ich will Ihnen sogleich ein Paar trockene Strümpfe von meiner Amalie bringen. Sie müssen auch ein Schälchen Kaffee zu sich nehmen, er steht auf dem Ofen; Sie haben einen weiten Weg gemacht, da thut eine Erfrischung gut; ich bin nur froh, daß Sie keine traurige Veranlassung zu meinem Manne führt. – Treten Sie ein, mein Kind.«

Die Freundlichkeit der Pastorin war für Ulli etwas ganz Ungewohntes; aber so kurz wie zuvor entgegnete sie: »Danke, nein; ich will nur mit dem Herrn Pastor sprechen.«

»Aber, liebes Kind, wenn Sie die nassen Strümpfe anbehalten, werden Sie sich krank machen.«

»O nein, danke, ich bin niemals krank,« sagte Ulli, stolz den Kopf zurückwerfend.

Da merkte die gute Frau, daß freundliches Zureden hier nichts helfen würde, öffnete die Thür nach dem Studierzimmer und ließ Ulli eintreten.

»Nun mein liebes Kind, was treibt Sie denn zu mir?« rief der Pastor mit weicher Stimme und streckte ihr beide Hände entgegen.

Ulli berührte nur mit den Fingerspitzen seine Rechte, und sagte die Phrase, die sie sich unterwegs so oft wiederholt hatte, bis sie sie auswendig wußte. »Nicht wahr, man kann auch ohne Lehrer Französisch lernen, wenn man nur die richtigen Bücher besitzt?«

Der Pastor starrte Ulli etwas verblüfft an. Auf eine solche Frage war er nicht vorbereitet; er dachte an Trostesworte, im Falle Ulli gekommen, ihm das Ableben des Barons zu melden; endlich, nachdem er sie auf einem Stuhle untergebracht hatte und ihr gegenüber saß, fragte er: »Wenn ich Sie recht verstanden habe, wollen Sie Französisch lernen, und zwar ohne die Hilfe eines Lehrers?«

»Das ist es, was ich wünsche, Herr Pastor, und ich komme Sie zu fragen, ob Sie mir die dazu notwendigen Bücher auch leihen können? Ich will sie gut aufbewahren und auch keine Tintenflecke hineinmachen.«

Ulli, die sich die Sache nach allen Seiten überlegte, hatte sich vorgenommen, dieses Versprechen gleich anfangs zu geben, damit der Pastor, der vielleicht erfahren habe, wie unverantwortlich Ulli früher mit ihren Büchern umgegangen wäre, ihre Bitte nicht abschlüge.

Pastor Kielmann lächelte: »Von Herzen gern, liebes Kind, will ich Ihre Wißbegierde unterstützen. Aber glauben Sie mir, weit leichter als durch Bücher würden Sie das Französische mit Hilfe eines Lehrers lernen. Wir sind so glücklich meine Tochter Cornelie gerade im Hause zu haben, die soeben ihr Lehrerinnenexamen bestanden hat und sich ein Vergnügen daraus machen würde, Sie zu unterrichten.«

Ulli wurde durch dieses gutgemeinte Anerbieten sehr erschreckt; sie hatte kein Geld um Fräulein Cornelie zu bezahlen. »Nein, danke; ich will das Französische allein lernen,« stammelte sie äußerst verlegen.

Der gute Pastor war hinlänglich mit den traurigen Vermögensverhältnissen der Wattevilles vertraut und hatte nur den einen Wunsch, ohne den Stolz dieses armen Kindes zu kränken, ihr zu sagen, daß dieser Unterricht kein Geld kosten würde. »Wie schon gesagt, es würde meiner Tochter Cornelie ein großes Vergnügen sein, Ihnen Lektionen zu geben – verstehen Sie mich recht – kein andres Interesse als das, Ihnen nützen zu dürfen, würde sie dabei leiten.«

Ulli verstand jetzt den Pastor, fühlte sich aber beleidigt, weil sie an ihre Armut erinnert wurde. Soweit hatte sie ihr Vater doch beeinflußt; den falschen Stolz, der sein eignes Dasein untergrub, hatte er in die Seele seines Kindes gepflanzt.

Ulli stand auf; die Augenbrauen finster zusammengezogen entgegnete sie: »Ich habe keine Zeit, Lektionen zu nehmen; Papa hat eine Augenkrankheit und wünscht, daß ich ihm vorlese; aber er kann es nicht mit anhören, daß ich die französischen Worte falsch ausspreche; deshalb will ich versuchen die Aussprache zu lernen; aber ich will es heimlich lernen und es muß auch schnell gehen. Sie besitzen vielleicht nicht die passenden Bücher?«

Es war klar, auch der Pastor vermochte nichts mit diesem Mädchen anzufangen; er erkannte, daß Vorstellungen vergeblich sein würden. Und doch hatte er schon einen Plan: diese Lektionen sollten ihm die Gelegenheit geben, Einfluß auf das verwahrloste Kind zu gewinnen, um ihm die Segnungen der Religion und die Vorteile einer bessern Erziehung zu teil werden zu lassen.

Kopfschüttelnd sah ihr das Ehepaar nach, wie sie mit den Büchern in mächtigen Schritten die Dorfstraße hinuntereilte.

»Ein hochmütiges Ding!« sagte die Pastorin mit einer ihr ungewohnten Schärfe. »Ich glaube, sie ist zu vornehm, um von uns eine Tasse Kaffee anzunehmen.«

»Käthe, Käthe, wer wird mit einem unerzogenen, unwissenden Kinde grollen!« sprach der gutmütige Pastor. »Glaube mir, früh genug wird die Stunde kommen, wo das Unglück sie für unsre Teilnahme empfänglich gemacht hat.«

Wenn Ulli eine Begegnung mit der alten Susanne fürchtete, stieg sie auf einen besonders hohen Schutthaufen außerhalb der Mauer, um über diese in den Hof sehen zu können. War das Feld rein, dann stieg sie vollends in die Höhe und sprang hinunter in den Hofraum. Auch heute, da sich Ulli bei diesem Ausgange Susannens alter Kapuze bedient hatte, wurde diese Kriegslist notwendig, und da Susanne nicht sichtbar war, konnte der Sprung gewagt werden.

Anstatt wie sie es gewohnt gewesen, den größten Teil des Tages umherzuschweifen, blieb Ulli jetzt in der Stube und studierte in den Büchern. Es kostete sie große Mühe, stillzusitzen und die Bewegung im Freien aufzuopfern, aber sie besaß eine seltene Energie und diese richtete sich jetzt auf die Aussprache des Französischen. Nach vierzehn Tagen getraute sie sich selbst Worte, die sie nicht übersetzen konnte, richtig auszusprechen, und beschloß, ihre Kenntnisse nun anzuwenden.

Zaghaft wagte sie sich bei einbrechender Dunkelheit zu ihrem Vater; der Baron, einen grünen Schirm über den Augen, die Hände auf dem Rücken, rannte mißmutig in der matterleuchteten Stube auf und ab. Der Eintritt seiner Tochter zu einer ungewohnten Stunde ängstigte ihn; er befürchtete, sie möchte ein Anliegen vorbringen und rief ihr mit herber Stimme zu: »Ich wünsche nicht gestört zu werden, Mademoiselle.«

Ulli blieb eingeschüchtert neben der Thür stehen, antwortete aber: »Ich habe mich bemüht, meine Aussprache zu verbessern; erlaube, daß ich dir wieder vorlese, Papa.«

Der arme Baron hatte sich in der letzten Zeit so grenzenlos gelangweilt, daß er trotz ihrer schlechten Aussprache nichts mehr gegen das Vorlesen seiner Tochter eingewendet haben würde; aber der falsche Stolz hielt ihn auch jetzt ab, ihr Anerbieten freundlich anzunehmen; er erwiderte kalt: »Wenn Mademoiselle sich verbessert hat, mag sie einen Versuch wagen.«

Ulli holte das Buch »Über die Turniere zur Zeit Franz I. von Frankreich« herbei, in dessen Lektüre sie damals unterbrochen worden war und, einige Stockungen abgerechnet, las sie deutlich und richtig vor.

Als sie an diesem Abend ihrem Vater die Hand küßte, klopfte sie der Baron auf den Kopf und sprach freundlicher, als er je mit ihr gesprochen: »Du hast leidlich gut gelesen, Ulrike, ich gebe dir die Erlaubnis mir jeden Abend vorlesen zu dürfen.«

Ulli bebte vor Freude; diese wenigen Worte waren ihr erster Triumph, und ihn zu erringen war ihr nicht leicht geworden.

Strahlend vor Stolz und Freude eilte sie in das kleine Stübchen, in dem sie in Gemeinschaft mit dem alten Ehepaar sich aufhielt. Andreas saß am Ofen und rauchte sein Pfeifchen. Die Fenster waren so locker und die Rahmen so morsch, daß die alten Leute genötigt waren, im geschütztesten Winkel zu sitzen. Heute aber pfiff ein so schneidender kalter Wind um das alte Gemäuer, daß bei seinem ungestümen, kecken Eindringen die Öllampe sogar ängstlich aufflackerte und ein eiskalter Luftzug die behagliche Stubenwärme verscheuchte. Ulli setzte sich, wie sie als Kind gewohnt gewesen, auf die Kniee des alten Dieners, legte ihre Hände auf seine Schultern und sagte mit einem glücklichen Lächeln: »Siehst du, Andreas, ich bin nicht länger ein so unnützes Mädchen, wie du mich immer gescholten hast; ich habe gelernt mich nützlich zu machen; Papa war mit mir zufrieden und hat mir erlaubt, ihm alle Tage vorzulesen. Nun braucht er sich nicht mehr so zu langweilen, der arme Papa!«

»Ei, ei, Herzenskind, was für böse Dinge wirfst du mir denn da vor? Soll mir nur einer kommen und sagen du wärest ein unnützes Mädchen! Ich schelte dich nicht, bewahre mich der Himmel; aber es wurmt mich, daß du aufwachsen mußt, unwissender als ein Bauernmädchen. Ja das wurmt mich, Herzenskind.«

Nur kurze Zeit war es Ulli vergönnt, ihrem Vater etwas Liebes zu erweisen.

Wenige Tage vor Weihnachten trat Andreas mit einem erschreckten Gesicht in die kleine Stube. »Dem Herrn ist plötzlich sehr übel geworden,« erklärte er. »Er hat sich auf einmal ganz verändert und will mir gar nicht gefallen; ich fürchte mein Seel', er ist sehr krank.«

Die alte Susanne sprang auf und rang die Hände: »Jesus, Jesus! Das hat noch gefehlt. Wo sollen wir noch Geld für Krankheiten hernehmen? Das fehlte noch! Wir können ja Doktor und Apotheker nicht bezahlen. Die sind so unmenschlich teuer und man darf erst nicht mit ihnen handeln.«

»Ans Bezahlen können wir später denken, Frau! Wollte Gott, wir hätten erst einen Doktor hier! Ich traue mich nicht, bei dem Glatteis den Weg zu machen; auf meinen Fuß ist kein Verlaß, und stürze ich – nun so seid ihr hier ganz verlassen und ich liege hilflos auf der Straße!«

Ulli saß bei ihren französischen Büchern; alles Blut strömte ihr zum Herzen; dennoch entgegnete sie anscheinend ruhig: »Wozu bin ich denn da? Weißt du nicht, daß ich die Wege ebensogut kenne wie du selbst?«

»Unsinn,« brummte die Alte. »Bei dem Wetter und in der Dunkelheit jagt man keinen Hund aus dem Hause; und bildet euch nur nicht ein, der Doktor werde auch gleich kommen. Der sieht sich seine Leute an, und wir sind in der ganzen Umgegend als die ärgsten Hungerleider bekannt. Du bist immer gleich so ein Schwarzseher, Andreas. Was wird's weiter sein als eine Kolik. Ich koche dem Herrn Baron eine Tasse Fliederthee.«

Ulli erwiderte kein Wort; sie schlich sich an die Thür von ihres Vaters Schlafzimmmer, öffnete leise ein Ritzchen und horchte. Er atmete röchelnd und schwer, zwischendurch drängte sich ab und zu ein Laut, wie ihn jemand in großer Pein ausstößt.

Nun merkte sie, daß ihr Vater schwer erkrankt sei; sie konnte ihn nicht hilflos leiden, vielleicht gar hilflos sterben sehen und beschloß, sich sofort auf den Weg zu machen. Das tobende Unwetter fürchtete sie nicht, auch nicht die Finsternis und den weiten Weg; aber sie fürchtete den Eintritt in ein fremdes Haus, sie fürchtete die Unterredung mit dem Arzte selbst; denn die jahrelange Einsamkeit hatte sie menschenscheu gemacht, und der Besuch bei Doktor Brendel wurde ihr nicht minder schwer als der bei Pastor Kielmann.

Aber ohne zu zögern, zog Ulli ihre starksohligen Stiefel an, band ihr graues Tuch um die Schultern und ein kleineres Tuch über den Kopf, dann schlüpfte sie, einen Moment abwartend, wo niemand sie beobachtete, über den Korridor und trat hinaus ins Freie.

Obgleich erst fünf Uhr, war die Nacht doch schon angebrochen und nur jemand, der mit allen Wegen so vertraut war wie Ulli, konnte, ohne sich zu verirren, das gefährliche Unternehmen wagen; denn zu der Finsternis hatte sich noch ein Sturm gesellt, der den Regen herniederpeitschte, und weil die Straßen nicht aufgetaut waren, wurden sie durch Glatteis doppelt schwer gangbar.

Mutig kämpfte das geängstigte Kind gegen alle die Hindernisse an; der Regen schlug ihr fast schmerzhaft ins Gesicht. Manchmal war Ulli genötigt, einen Augenblick stillzustehen, weil ihr der Atem ausging, oder weil sie sich zu orientieren versuchte, denn sie sah die Hand kaum vor den Augen.

Endlich, bis auf die Haut durchnäßt, erreichte sie das Städtchen und betrat mit klopfendem Herzen das Haus des Arztes, das ihr bekannt war.

Die Dienstmagd sah Ulli verwundert an; von dem Namen verstand sie nur das Wort » Baroneß«, und darauf hin beschloß sie, die traurige Gestalt in ein Parterrezimmer zu führen; die Lampe stellte sie auf einen Tisch und entfernte sich dann, um Ulli zu melden.

In der Nebenstube sangen fröhliche Kinderstimmen:

»Morgen kommt der Weihnachtsmann,
Kommt mit seinen Gaben.
Trommel, Pfeifen und Gewehr,
Ja ein ganzes Kriegesheer
Möcht' ich gerne haben.«

Es war Ulli, als sei sie plötzlich in eine ganz andre Welt versetzt worden. Auf Schloß Wolfshagen hatte noch kein Mensch von Weihnachten gesprochen, und doch stand es dicht vor der Thür. Hier aber wurde schon alles für seinen Empfang vorbereitet.

Mitten in der Stube stand ein Tannenbaum; zwar hatte man ihm noch nicht sein Festgewand angelegt; aber in einem Korbe lagen alle die süßen und glänzenden Dinge, mit denen er geschmückt werden sollte; ja ringsum waren Stühle und Tische mit Geschenken bedeckt; eine blanke Küche und ein Wickelkind in einer Korbwiege, ein gezäumtes Pferd, auch Helm, Säbel, Flinte und Fahne – nichts fehlte, um das Herz kleiner Jungen und Mädchen zu beglücken.

Diese Kinder hatten es gut. Wäre ihr ein solches Fest jemals bereitet worden, würde Ulli auch gesungen haben; aber sie kannte weder diese Lieder noch einen fröhlichen Weihnachtsabend.

Andreas brachte freilich stets am Fest ein Tannenbäumchen in die Stube, aber es fehlte an Zuckerwerk und Lichtern, um es auszuputzen; der Kuchen, den die alte Susanne gebacken hatte, blieb die einzige Abwechslung, die Ulli die Feiertage verschönte.

Sie fühlte sich als eine Ausgestoßene, und im Anblick dieser aufgehäuften Geschenke, beim Hören des fröhlichen Weihnachtsliedes kam ihr zum Bewußtsein, was für eine einsame freudlose Kindheit sie verlebt hatte. Es wollte sie heute nicht trösten, daß sie eine Baroneß de Watteville, während diese Brendels nur bürgerliche Leute waren; sie empfand nur die Armut, die Einsamkeit und den Mangel an Liebe; ihr Hochmut war im Augenblick durch den Regen gelöscht, der sie so durchnäßt hatte, daß das Wasser an ihren Kleidern auf die rein gescheuerte Diele niederrann, und eine eisige Kälte durchschauerte sie nach dem schnellen Gehen in der ungeheizten Stube.

Im Nebenzimmer war indes der Gesang verstummt, und sie konnte vernehmen, daß das Dienstmädchen über sie berichtete; dann hörte sie Stühle rücken, die Thür wurde geöffnet und Doktor Brendel, die Serviette noch in der Hand, den letzten Bissen hinunterschluckend, trat in einem bequemen Hausrocke ein.

»Was wünschen Sie?« fragte er kurz und ärgerlich, wie jemand, dem eine Bestellung, die ihn zwingt, sein behagliches Heim zu verlassen, sehr ungelegen kommt.

Jetzt erst begriff Ulli, daß sie eigentlich ein großes Opfer von diesem Manne verlangte, daß ein solches Opfer kaum mit Geld vergütet werden könnte, und daß sie nicht einmal Geld besaß. Verwirrt und verlegen ergriff sie einen Zipfel des nassen Kopftuches, und versuchte damit die Tropfen abzutrocknen, die ihr noch aus den Haaren über das Gesicht rannen.

Der Arzt, obgleich mit den Leiden der Armut vertraut, hatte doch sein Herz noch nicht dagegen verhärtet; das schlecht gekleidete, frierende Kind flößte ihm Mitleid ein und in einem viel mildern Tone versetzte er jetzt: »Sie sind ja völlig durchnäßt; meine Frau wird Ihnen trockene Kleider geben; mit einem so nassen Anzuge ist bei diesem Wetter eine Erkältung unvermeidlich. Treten Sie ein.«

Der Arzt sprach bestimmt; Ulli wagte keinen Widerspruch und folgte in das nächste Zimmer, obgleich sie Sturm, Glatteis und Finsternis weniger fürchtete, als die Augen der neugierigen Kinder, unter die sie trat.

Die Frau Doktorin kam Ulli zu Hilfe. »Um Himmels willen, mein Kind, wo kommen Sie denn her? Wie kann man's übers Herz bringen, ein so zartes Geschöpf in diesem abscheulichen Wetter hinauszuschicken? Gott mag verhüten, daß sich ein Unglück in Ihrer Familie ereignet hat.«

Der Arzt überhob das schüchterne Kind der Antwort. »Vor allen Dingen, Luise, gieb dem Mädchen trockene Sachen und etwas Warmes zu trinken. Dann erst soll sie uns ihren Bericht geben.«

Aber Ulli verschmähte es, an ihre Bequemlichkeit zu denken, während ihr Vater schwer leidend ohne Hilfe lag.

»Danke,« sagte sie kurz wie immer. »Mir thut die Nässe nichts, und wenn ich gehe, werde ich auch wieder warm; aber Papa ist sehr krank. Ich glaube, er muß sterben, wenn nicht bald Hilfe kommt.« Und obwohl sie mit aller Macht gegen die Thränen kämpfte, wurde ihre Stimme doch unsicher.

»Na so schlimm wird's wohl noch nicht sein,« bemerkte Doktor Brendel trocken. »Wer ist denn Ihr Vater, mein Kind?«

»Baron de Watteville auf Schloß Wolfshagen,« entgegnete Ulli und glaubte einen Namen, dem man Respekt schulde, auszusprechen. Der Arzt aber machte eine Miene, als frage er nicht viel nach Rang und Reichtum seiner Patienten, und seine Frau warf ihm gar einen Blick zu, der Ullis Haltung völlig erschütterte: »Aber mein Kind, Sie werden doch nicht verlangen, daß mein Mann noch heut abend nach Schloß Wolfshagen fährt? Der Johann sagte vorhin, als er das müde nasse Pferd in den Stall führte: ›Und wenn heute der König den Herrn Doktor rufen läßt, will ich das geplagte Tier nicht noch einmal anspannen.‹«

Es war der Doktorsfrau selbst ein schrecklicher Gedanke, sich an diesem Abend noch einmal von ihrem Gatten trennen zu müssen. Wie hatte sie sich gesorgt, so lange sie ihn in Sturm und Wetter draußen wußte, wie hatte sie sich gefreut, als er endlich glücklich heimkehrte. Er fand alles auf das behaglichste; die Pantoffeln gewärmt, die Pfeife gestopft und ein gutes Abendbrot. Nachdem er sich kaum von den Anstrengungen erholt hatte, sollte er noch einmal über Land fahren?

Bei den Worten der Doktorin zogen sich Ullis Augenbrauen finster zusammen, sie band ihr Kopftuch wieder fest und sagte trotzig: »Dann wird Papa ohne Hilfe sterben.« Daraus wandte sie sich, um das Zimmer zu verlassen.

»Daß Sie sich einbilden, Ihr Vater müsse sterben, ist noch kein Beweis, daß er ernstlich erkrankt ist. Geben Sie mir die Symptome an.«

Ulli war, die Thürklinke in der Hand, stehen geblieben. Doktor Brendel sprach so, daß sie sich nicht zu widersetzen wagte; aber was sollte sie antworten? Sie wußte nicht, was Symptome bedeuteten; hilflos starrte sie den Arzt an.

Das Mitleid hatte schon den egoistischen Wunsch der Doktorin besiegt. War dieses Mädchen nicht in einem Wetter gekommen, in dem sie ihre Lieblinge keinen Schritt vor das Haus gelassen hätte? War es nicht allein und noch dazu bei Nacht fast eine Meile gegangen? Diese heldenmütige Aufopferung mußte belohnt werden.

»Ist der Fall wirklich sehr schwer, so wird mein Mann Sie nicht allein zurückkehren lassen,« sagte die Doktorin und lächelte dabei ihren Mann an, als wollte sie sagen: »Bist du nicht mit deiner Frau zufrieden?«

In dem andern Zimmer, wohin sie geführt wurde, mußte Ulli einen Hausrock anziehen, der so weit war, daß noch eine zweite Ulli darin Platz gehabt hätte; Schuh und Strümpfe wurden ihr gebracht und zuletzt eine vortreffliche Biersuppe.

Während des Umkleidens und Speisens wußte die Doktorin Ulli geschickt auszufragen, so daß sie wenigstens alles erfuhr, was diese von ihres Vaters Krankheit zu sagen wußte.

Trotz dieses unvollständigen Berichts, den ihm seine Frau übermittelte, hatte sich Doktor Brendel entschieden, Ulli zu begleiten, und als sie in die Stube zurückkehrte, fand sie ihn schon in seinen mächtigen Pelz gehüllt zur Abfahrt gerüstet, von draußen aber knallte Johann mit der Peitsche. –

»Nun wie steht's mit dem Baron?« fragte Doktor Brendel den alten Andreas, als sie das Schloß betraten.

»Schlecht, schlecht, Herr Doktor,« versetzte der Alte kopfschüttelnd. »Ach jetzt kommt alle Hilfe zu spät, es hätte viel früher etwas geschehen müssen.«

Er führte den Arzt in das Krankenzimmer, wo Susanne eben bemüht war, dem Baron mehr Kissen in den Rücken zu schieben, da ihm das Atmen beim Liegen sehr beschwerlich fiel.

Doktor Brendel erkannte auf den ersten Blick, daß er es nicht mit einem Kranken, sondern mit einem Sterbenden zu thun habe. Er flößte dem Baron einige beruhigende Tropfen ein, die er stets bei sich trug, und da er gesehen, daß Hilfe hier unmöglich sei, hielt er es für seine Pflicht, den Patienten auf das Ende vorzubereiten. Die traurigen Verhältnisse waren ihm nicht unbekannt; er selbst war ein treusorgender Vater und bildete sich ein, daß auch den Baron die Zukunft seiner Tochter bekümmere. Aber der gute Doktor Brendel hatte sich getäuscht; dem Baron machte ihr Schicksal nicht die geringste Sorge.

»Was auch eintreten möge,« erklärte er in abgebrochenen Sätzen, doch mit dem alten Stolze, »die Existenz der Baroneß de Watteville ist vollständig gesichert. Ich habe von meinen Vorfahren Ansprüche an die preußische Regierung überkommen. – Seien Sie versichert, meine Tochter geht einer glänzenden Zukunft entgegen.«

Obgleich nun Doktor Brendel durchaus nicht die Zuversicht des sterbenden Mannes teilte, so wollte er diese doch nicht erschüttern; er fragte deshalb nur, ob er nach dem Zuspruch eines Geistlichen verlange. Der Kranke aber erwiderte nur mit einer abwehrenden Handbewegung; denn er hatte dem Pastor Kielmann noch immer nicht seine Predigt über die christliche Demut vergessen.

Bleich und erschöpft saß Ulli indes in der Nebenstube, die großen dunkeln Augen starr auf die Thür geheftet. Keine Frage kam über ihre Lippen. Sie wußte, was ihr bevorstand.

So verharrte sie die ganze Nacht. Aber als gegen Morgen Doktor Brendel heraustrat, waren ihre Augen geschlossen und ihr Kopf herabgesunken.

Er streichelte sanft ihre Stirn; sie fuhr erschreckt auf und konnte sich im ersten Augenblicke nicht zurecht finden; denn der Erschöpfung war ein traumloser tiefer Schlaf gefolgt.

»Kommen Sie, mein armes Kind,« sprach der Arzt teilnehmend; »die letzten Augenblicke sind eingetreten. Sie werden Ihren Vater noch scheiden sehen wollen.«

Jetzt erst begriff Ulli, was der fremde Mann eigentlich von ihr wolle; eine tödliche Blässe breitete sich über ihr Gesicht und ein heftiges Beben durchschüttelte ihre Glieder; aber ohne einen Laut zu äußern, folgte sie dem Arzt in das Sterbezimmer.

Die Beängstigungen des schweren Kampfes waren vorüber; leise röchelnd drang der Atem noch aus dem halbgeöffneten Munde; die Augen waren geschlossen und auf die starren Züge hatte der Tod schon seinen Stempel gedrückt.

Andreas stand zu Füßen des Bettes und schluchzte leise, Susanne wendete die Blätter eines alten Gebetbuches und murmelte eintönig die vorgeschriebenen Gebete. Lautlos kniete Ulli nieder und drückte einen Kuß auf die herabhängende kalte Hand ihres Vaters.

Es war ganz still im Zimmer; der erste matte Schein des anbrechenden Morgens drang durch die Fenster. Nur noch ein leise gurgelnder Laut und der letzte Nachkomme der Wattevilles hatte den letzten Atemzug ausgehaucht.


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