Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fast mit dem Leben gebüßt

Die Ortschaften in der Nähe Wiens sind während der Sommermonate so stark überfüllt, daß die Wohnungen dort auch sehr hoch im Preise stehen. Der Agent Schellhas hatte deshalb sein Auge auf einen entfernten Punkt geworfen und nahe der Station Ternitz, in dem Dorfe Sieding eine Sommerwohnung für seine Familie gefunden.

Die Gegend war wunderschön, gebirgig, wald- und wiesenreich, von rauschenden Bächen durchströmt, die Wohnung in der Schneidemühle angenehm und billig; kurz, Herr Schellhas war sehr stolz, seiner Frau dieses von ihm entdeckte Eldorado zu zeigen.

Der Reisetag gehörte aber nicht zu den angenehmsten Tagen im Leben des Agenten.

Früh am Morgen ließ die gemietete Köchin melden, daß sie krank geworden sei und nicht anziehen könne; und was das neue Kindermädchen anbelangte, so war es geradezu ein Wunder der Untauglichkeit. Die Familie hatte mit Dienstmädchen schon Schreckliches erlebt, aber alles das war ein Spaß, verglich man es mit dem, was man an diesem Exemplare erlebte.

Wie ein böser Geist schlich die Theres umher, und anstatt zu helfen, war sie überall im Wege. Wurde sie zu einer Dienstleistung aufgefordert, so sah sie nicht nur erstaunt aus, sondern nahm den Auftrag sichtlich als eine persönliche Beleidigung auf.

Frau Schellhas gehörte nicht gerade zu den ausgezeichneten Hausfrauen, aber sie wußte doch, wie man Feuer im Ofen anzündet. Wie aber stellte sich die Theres dabei an? Frau Schellhas berichtete es dem empörten Gatten: »Sage Theres, soll Feuer machen – schaut mich Person verwundert an, weil ich zumute ihr, was sich gar nicht gehört für so eine Prinzeß. Werde ich natürlich böse – nimmt sie Kohle, wirft sie in Ofen – legt Holz darüber und oben darauf Zündhölzchen. – Heilige Mutter – merke ich, daß Person noch nie Feuer angezündet hat!«

Es war kein Wunder, daß der Agent Schellhas auch in üble Laune geriet; aber was half's – wollte man den Zug nicht versäumen, so mußte er sich selbst zum Einpacken bequemen.

Seine Frau, die mit ungekämmten Haaren, zerfranstem Überrock und mit heruntergetretenen Schuhen schreiend und schimpfend durch die Stuben lief, hatte zwar aus allen Schubladen den Inhalt ausgekramt, aber es ging ihr offenbar die Fähigkeit ab, diese vielen Sachen zu sortieren und in den Koffern unterzubringen.

Die Kinder schienen sich an diesem denkwürdigen Tage ordentlich zu vervielfältigen, um nur zu gleicher Zeit jedermann in die Quere kommen zu können; und wenn man nicht über sie stolperte, so hörte man sie wenigstens schreien und heulen.

Aber auch die unangenehmste Stunde hat nur sechzig Minuten und muß ein Ende nehmen; so fanden auch die Leiden des Agenten endlich einen Abschluß, und trotz Kindermädchen, Frau und Kindern gelang es ihm – freilich schwitzend und schimpfend – die ganze Familie in einem Coupé auf der Südbahn unterzubringen, in Station Ternitz abzuladen, und sie endlich triumphierend auf dem vom Bauer gestellten Wagen an ihrem Bestimmungsorte zu landen.

Als am nächsten Morgen der Agent seiner Frau stolz die von ihm entdeckte, vom Strome der Touristen unberührte herrliche Gegend zeigen wollte, da sah er zu seinem großen Ärger, daß andre schon vor ihm gerade so klug gewesen waren, und da er es liebte, sich für klüger und praktischer als andre Leute zu halten, verlor er zum zweitenmal seine gute Laune.

Auf einer einfachen Bank an demselben Bache, der das große Rad der Schneidemühle drehte, hinter dem silbergrau schimmernden Weidenbusche, saßen zwei Damen und lasen.

Gleich hinter diesem Plätzchen führte ein schmaler Steg über den Bach, und in einem Garten am jenseitigen Ufer saß ein Schuster mit seinen Gesellen und arbeitete im Freien, ganz gegen die Gewohnheit dieser Leute.

Die Unterhaltung seiner Frau trug nicht dazu bei, den Agenten wieder heiter zu stimmen, denn anstatt die liebliche Gegend zu bewundern und ihrem Gatten für die vortreffliche Wahl des Ortes ein Kompliment zu machen, wußte sie nur über Dienstbotennot zu klagen; kurz, der geplagte Ehemann war nicht gerade außerordentlich betrübt, als die Stunde seiner Abreise nach Wien schlug.

Eine menschenfreundliche Herrin würde bald gemerkt haben, daß auf ihrem jungen Kindermädchen ein schwerer Kummer lasten müsse; aber Frau Schellhas fiel so etwas gar nicht ein; sie sah in jedem Dienstmädchen ein schon von Grund aus verdorbenes, zu jeder Arbeit untaugliches Geschöpf, das nur gelernt hatte, wie es seine Herrschaft am besten hintergehen und betrügen könne.

Es war ein Glück für Ulli, daß sie hier auf dem Dorfe mit ihrer Frau möglichst wenig verkehrte, weil diese die Sommerfrische ebenfalls, wenn auch auf ihre eigne Weise genießen wollte. Frau Schellhas nämlich kümmerte sich möglichst wenig um ihre Mutterpflichten und blieb, Näschereien knabbernd, auf dem schlechten, schmutzigen Sofa in der niedrigen Bauernstube liegen, um Leihbibliotheksromane zu verschlingen; bisweilen aber zog sie es vor, mit der dicken Bäuerin vor der Hausthür zu schwatzen und ihr Dienstbotenelend zu beklagen; denn in dieser guten Frau hatte sie endlich eine teilnehmende Seele gefunden, und das war gewissermaßen ein Trost.

Der armen Ulli blieb aber jeder Trost versagt, denn sie konnte ihren Kummer niemand klagen. Auf dem Bauernhofe wurde sie überdies nur scheel angesehen, weil weder die Töchter der Bäuerin, noch Magd oder Knecht mit dem »hochnäsigen Fratzen« etwas zu thun haben wollten; sie wurde ein Zielpunkt ihres Spottes.

Ullis einzige Verpflichtung bestand jetzt darin, sich mit den Kindern im Freien aufzuhalten, und insofern war ihr Dienst sehr bequem.

Allerdings war ihr auch aufgetragen, auf die Kinder zu achten, damit sie keinen Schaden nehmen. Diesen Teil ihres Berufs aber schien sie den unsichtbaren Schutzengeln übertragen zu haben; denn sie sah vollständig teilnahmslos zu, wenn sie sich im Spiel einmal in die Haare gerieten, und es bekümmerte sie nicht, ob sie sich im tauigen Grase wälzten oder mit bloßen Köpfen im heißen Sonnenscheine einherliefen. Es war nur ein Glück, daß ihre Spaziergänge nicht an Abgründen vorüberführten und sich ihre Ruheplätze nicht in der Nähe von gefährlichen Wassern befanden.

Womit sich die Kinder unterhielten, war ihr natürlich vollständig gleichgültig, ausgenommen, wenn sie sie mit Fragen störten; doch fielen ihre Antworten so kurz und mürrisch aus, daß die Kleinen bald die Lust zum Fragen verloren. Mit traurigen Augen saß Ulli unter einem Baume, die Hände lässig im Schoß, und ihre Seele, einst so empfänglich für die schöne Natur, war unempfindlich gegen den Zauber der sie umgebenden Landschaft. Für sie blühten nicht die Wiesenblumen, für sie sangen nicht die Vögel im Walde, für sie vergoldeten sich nicht die rötlichen Abendwolken.

Nur manchmal, wenn sie an Silvia oder den Onkel dachte, oder wenn sie eine bittere Mahnung des Gewissens an die Tante erinnerte, da stöhnte sie laut, so daß die Kinder im Spiele anhielten und sich scheu nach ihr umsahen.

An Gott dachte sie gar nicht mehr; sie hatte das Gefühl, er habe sie verlassen, und nun wußte sie, daß es für sie keine Rettung mehr gebe.

Tag und Nacht sah Ulli vor ihren Blicken eine lange, lange Straße, verhüllt in grauwallende und sich zusammenballende Nebel. Und auf dieser Straße mußte sie wandern und wandern, ohne ein Ziel, nach dem sie strebte, ohne ein Glück, auf das sie hoffte – endlos wandern in das düstere Grau der Zukunft hinein.

Eines Nachmittags ging Ulli wieder mit ihrer kleinen Schar an dem Bänkchen am Bachufer vorüber, auf dem die fremden Damen zu sitzen pflegten.

An diesem Nachmittage mußten die Damen wohl abgerufen worden sein, denn die Näharbeit und ein aufgeschlagenes Buch lagen noch auf ihrem Platze, sie selbst aber waren nicht zu sehen.

Wie von einem Magnet wurden Ullis Augen von dem Buche angezogen; da Frau Schellhas seit ihrer ersten Erfahrung alle Bücher vor ihrem leselustigen Kindermädchen verschloß, hatte Ulli seit langer Zeit keins gesehen.

Das Verlangen, wenigstens den Titel zu lesen, wurde unwiderstehlich, und um einige Augenblicke Zeit zu gewinnen, ließ sie sich herab, den Kindern einen Vorschlag zu machen. »Geht voraus auf die Wiese,« sagte sie, »und pflückt Anemonen, ich komme sogleich nach und mache dann jedem von euch einen Kranz.«

Die Aussicht war verlockend, die Kinder sprangen fort – wenigstens glaubte Ulli, daß sie sich alle entfernt hätten, und mit zitternder Hand ergriff sie das Buch.

Sie wußte, daß sie ein Unrecht beging, als sie sich fremden Eigentums bemächtigte und die ihr anvertrauten Kinder verließ; aber sie beruhigte sich, weil sie das Buch ja nicht fortnehmen, sondern nur ansehen wollte, und auf der Wiese drohte den Kindern keine Gefahr, wie sie meinte. Nie giebt es mehr Gründe, als wenn ein unrechtes Handeln vor dem mahnenden Gewissen entschuldigt werden soll.

Ulli sah enttäuscht aus; das Buch war kein Roman, die Worte blieben ihr unverständlich, obgleich es in deutscher Sprache geschrieben war. Sie blätterte darin, aber, wo sie auch zu lesen begann – ihr Geist konnte mit den Worten durchaus keine Vorstellungen verbinden, und doch handelte es sich von der Welt als Wille und Vorstellung, es war das große philosophische Werk von Schopenhauer. Ein Gefühl von Scham und Ärger bemächtigte sich Ullis; die Worte schienen so klar; sie meinte immer: »Nun muß ich's begreifen« und doch blieb der Sinn unfaßbar.

Da plötzlich ein Plätschern im Bach und ein Schrei – der Schrei eines Kindes, den sie besser verstand als den Philosophen in ihrer Hand. Fort flog das Buch; Ulli sah aus dem Wasser noch ein Ärmchen hervorragen, das nach einem Halt zu langen schien.

Nur einen Augenblick starrte sie totenbleich hinunter; dann sprang sie hinein.

Vor wenigen Tagen hüpfte der Bach noch über die Steine und man konnte ihn trockenen Fußes überschreiten. Seit aber in den Bergen ein Unwetter niedergegangen, war er stark angeschwollen; er wälzte eine trübe gelbe Flut daher und riß in seiner Wildheit alles, was in seinen Bereich kam, brausend und schäumend mit sich fort.

Der hochgewachsenen Ulli ging das Wasser zwar nur bis unter die Arme; aber sie mußte sich mit aller Kraft an einem Weidenzweige festhalten, damit sie von der ungestümen Flut nicht fortgerissen wurde. Das Kind hielt sie mit einer Hand hoch; doch wußte sie nicht, wie sie an dem steilen Ufer hinaufklettern sollte.

Gerade da trat die jüngere der Damen aus dem Garten, um über das Brückchen nach ihrem Platze zu gehen. »Ach! ach!« rief sie erschreckt. »Was ist denn da geschehen?«

»Helfen Sie mir,« bat Ulli. »Ich will Ihnen die Kascha reichen; Sie müssen hier – hier hintreten.«

Als aber Ulli der Dame das Kind hinaufreichte, war sie genötigt, den Weidenzweig loszulassen. Dadurch verlor sie den Halt und das ungestüme Wasser riß sie um; mit dem Hinterkopfe schlug sie auf einen spitzen Kiesel, den die rastlosen Wellen noch nicht abgeschliffen hatten, und verlor die Besinnung. Vergeblich rief das Fräulein ins Wasser hinunter, sie solle doch aufstehen – Ulli kam nicht wieder zum Vorschein.

Anstatt nun ins Haus zu laufen und um Hilfe zu rufen, rannte das kleine Fräulein mit dem jammernden Kinde schreiend und klagend in furchtbarer Verzweiflung am Ufer auf und ab: sie hatte offenbar den Kopf verloren.

Zum Glück kam der Schuster mit seinen Gesellen, sie waren gerade zur »Jause« (Vesperbrot) ins Haus gegangen, wieder zum Arbeitsplatz zurück. Sie verstanden zwar anfangs nicht, was die Dame am andern Ufer eigentlich wollte, die das nasse Kind doch schon im Arme hielt, während sie immer auf das Wasser zeigte. Auf einmal begriff ein Geselle und im Nu war Ulli ihrem kalten Bade entrissen.

»Mit der ist's vorbei,« meinte der Schuster kopfschüttelnd, als er den steifen Körper auf das Ufer legte. Die Augen waren schon gebrochen und aus dem Hinterkopfe rieselte das Blut in das feuchte Gras.

»Ja, mit der ist's vorbei,« bestätigte der Geselle.


 << zurück weiter >>