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Frau von Holder brachte eine schlaflose Nacht zu – die Ruhe ihres Hauses stand auf dem Spiele. Ihr Mann machte zwar keine Bemerkung über ihre Nichte; aber das war ebensogut, als ob er sagte: »Das ist ja ein entsetzliches Kind! Es wird mir das Haus ganz verleiden; nur aus Rücksicht für meine Frau werde ich es dulden.« Eduard war nicht so rücksichtsvoll wie sein Vater und machte Bemerkungen, die Frau von Holder sehr verstimmten. Für ihre Töchter war der Umgang mit dem ungezogenen, ungehobelten Mädchen eine Art Geduldsprobe; darin lag der einzige Vorteil, denn Geduld ist eine Kunst, die nicht leicht zu erlernen ist.
Je länger Frau von Holder nachdachte, je trostloser sah die Sache aus. Die Bonne war seit der Reise noch immer katarrhalisch und verstimmt; die Scene in der Küche und Ullis Ohnmacht waren geradezu haarsträubend. Vor ihrer Schwägerin war sie durch Ullis Erscheinen Lügen gestraft worden, und wie standen die de Wattevilles vor allen ihren Bekannten da? Was für Blamagen, welche entsetzlichen Auftritte aber barg vielleicht noch die Zukunft? Die einzige, die für Ulli eintrat, war Miß Kirk. In ihren Augen war Ulli aber nur ein interessantes Problem und vertrat einen Urmenschen, der mit einem Schlage aus einer Wildnis in den Mittelpunkt der Civilisation des 19. Jahrhunderts versetzt wurde. Über alles zeigte sich Ulli erstaunt, denn alles war für sie neu, sie besaß kaum die einfachsten Begriffe. Freilich war sie auch mit der Fähigkeit begabt, schnell aufzufassen und die Bildung gleichsam mit einem großen Löffel aufzunehmen.
»Ach,« seufzte die arme Tante, »was kann es mir nützen, ihr durch ein Dutzend Lehrer Bildung in großen Löffeln einzugeben? Was mich am meisten betrübt, ist, daß Ulrike so taktlos, plump und unbeholfen ist, und wenn sie sich wundert – und sie hört gar nicht auf, sich zu wundern, – reißt sie die Augen wie ein dummes Bauernmädchen auf. O, mein Gott! Du hast mir eine schwere Prüfung auferlegt.«
Weil diese Gedanken Frau von Holder fast die ganze Nacht nicht schlafen ließen, erwachte sie am andern Morgen mit einer furchtbaren Migräne und mußte das Bett hüten. Da sie nun nicht wagte, Ulli ohne Aufsicht ihrer Familie anzuvertrauen, wurde sie der Bonne übergeben.
So blieb Ulli den Tag über auf der Stube der alten Schweizerin, speiste mit ihr, sah sich mit großem Interesse Journale an und erzählte viel von Susanne und Andreas. Eine Lektion bei Miß Kirk, ohne die Leiden des Hungers wie am Tage zuvor, erschien ihr noch viel interessanter.
Nachdem Frau von Holder die Migräne überwunden hatte, war sie zu einem Entschlusse gelangt. »Vier Wochen will ich Geduld haben und sehen, was sich machen läßt; erreiche ich in dieser Zeit nichts, so werde ich Ulrike einem Pensionat anvertrauen; denn ich bin es meiner Familie schuldig, mich für sie zu erhalten und mich nicht durch den Ärger über dieses unglückselige Kind krank machen zu lassen.«
Ulli wurde am nächsten Tage auf das Zimmer der Tante befohlen; ihr ahnte nichts Gutes. Das verdunkelte Zimmer, die auf der Chaiselongue ausgestreckte, in weiche Decken gehüllte Gestalt, das alles benahm ihr den Atem; sie klammerte sich krampfhaft an den Rock der Bonne, mit der sie sich vertraut gemacht hatte; aber sie mußte diesen letzten Halt fahren lassen, denn Frau von Holder erteilte dieser mehrere dringende Aufträge, weil man heute einige Gäste zum Diner erwartete.
Ulrike setzte sich, wie ihr geheißen, auf einen Stuhl, neben das Lager ihrer Tante, faltete ihre Hände und dachte: »Jetzt wird sie mich nach Wolfshagen zurückschicken. Was soll nur aus mir werden! Der Onkel will geWiß auch nichts von mir wissen!«
Frau von Holder hatte sich vorgenommen, sehr ruhig und liebevoll zu sprechen. »Liebe Ulrike,« begann sie mit einer noch matten Stimme, »hat sich denn dein Vater gar nicht um deine Erziehung bekümmert?«
»Nein,« entgegnete Ulli, und weil sie ihren Vater zu entschuldigen wünschte, setzte sie hinzu: »Papa konnte mich nicht leiden, er hätte lieber einen Jungen gehabt.«
»Das entschuldigt deinen Vater nicht in meinen Augen, Ulrike. Es war seine Pflicht, dir von frühester Jugend zu lehren, daß du einem edeln Hause entsprossen bist. Er mußte dich auf deine Vorfahren hinweisen, die ...«
»Sie sind alle ruiniert,« fiel Ulli eifrig ein.
»Um Gottes willen,« rief die Tante und faßte an ihre Stirn, »bist du wirklich so einfältig, Ulrike, oder willst du mich nur ärgern?«
»Ich wollte nur sagen, daß die Bilder der Vorfahren sehr ruiniert sind,« entgegnete Ulli eingeschüchtert.
»Du hast das Talent, die einfachsten Worte falsch zu deuten. Ich rede von deiner Erziehung; hat dich denn niemand auf deine schlechten Manieren aufmerksam gemacht?«
»Über Manieren ist in Wolfshagen niemals gesprochen worden,« sagte Ulli sehr leise und verlegen.
»Aber mein Gott, irgend jemand muß sich doch um dich gekümmert haben?«
»Die Susanne und der Andreas.«
»Es ist wirklich empörend, dich wie eine Wilde aufwachsen zu lassen!«
»Die Susanne hat den ganzen Tag über mich gescholten; wo sie mich nur erwischen konnte, hat sie mir eine Strafpredigt gehalten; aber,« setzte Ulli zögernd hinzu, »ich habe mir nichts daraus gemacht.«
»Ein keifendes, altes Weib ist allerdings eine vortreffliche Erzieherin! Und wahrscheinlich hat der Andreas, meines Vaters Reitknecht, bei der Erziehung mitgeholfen, weil er keine Pferde mehr zu dressieren hatte?«
Die Unterhaltung war qualvoller, als Frau von Holder sich vorgestellt hatte.
»Gegen den Andreas darfst du nichts sagen,« rief Ulli eifrig, »der ist mein bester Freund.«
»Mit solcher Freundschaft hat's jetzt ein Ende. Du bist in meinem Hause. Wir wollen sehen, was sich thun läßt, um gutzumachen, was verdorben worden ist.«
Bei diesen Worten ihrer Tante war Ulli aufgestanden und zum größten Erstaunen der nervenkranken Frau sagte das eben noch so schüchterne Kind: »Wenn ich dir unbequem bin, brauchst du mich nicht länger zu behalten; du kannst mich nach Wolfshagen zurückschicken, der Andreas verläßt mich nicht, der ist immer gut mit mir gewesen, und ich will ihn auch immer lieb haben.« Und ohne sich umzusehen, ging Ulli hinaus, wie ein trotziges Kind, was sie auch war.
Frau von Holder sank erschöpft in die Kissen zurück. »Aber sie ist doch eine de Watteville,« dachte sie und lächelte.
Unterdes stürmte Ulli in den Garten; das Haus dünkte ihr zu eng, denn sie war tief erregt. Unbekümmert um die verschneiten Wege lief sie bis zu der Mauer, auf die sie sich schwang.
Der Elbstrom trug mächtige Blöcke Treibeis auf seinem Rücken; er war angeschwollen und brach sich mit grimmigem Rauschen an den gewaltigen Pfeilern der Albertbrücke. In dem treibenden, brausenden Wasser und Ullis Herzen war etwas Verwandtes. Der Wind, der ihr das Haar zerzauste, that ihr wohl; und den feuchten Niederschlag, der sie mit zahllosen kleinen Tröpfchen bedeckte, merkte sie kaum.
Ulli war gewohnt alles, was sie empfand, und sie besaß ein starkes Empfinden, im Walde auszusingen. Im Laufe der letzten Jahre hatte sie für ihre verschiedenen Leiden und Freuden verschiedene Melodien erfunden. Die Sehnsucht nach ihrer Mutter und nach der unbekannten Welt drückte sie in einer Art Klage aus, zu der sie immer neue Worte dichtete; aber wenn Susanne sie ärgerte, sang sie plärrend stets denselben Vers:
»Wenn die Susanne zankt,
Lauf ich nur aus dem Haus,
Und mach' mir nichts draus!
Und mach' mir nichts draus!«
War aber der Ärger der Art, daß er in Wut überging, so lief sie stumm in den Wald, wo sie einen ganz einsamen Platz kannte, und dort sang sie ›die Wutmelodie‹. Mit dieser Melodie – wenn man diese wilden Töne so bezeichnen darf – begrüßte sie jetzt die vorüberfließende Elbe. Der Weg am Ufer war zu dieser Jahreszeit so einsam, daß sie wenigstens Vorübergehende nicht mit ihrem Gesange erschreckte. Ulli wußte, was ihr gut war. Von Wind und Wetter zerzaust, durchkältet und durchnäßt, und nachdem sie die Wutmelodie eine Weile hinausgeschrieen, wurde sie wieder ein Mensch, mit dem sich reden ließ.
Eduard, der eben längere Zeit vor dem Spiegel zubrachte, » pour faire la tète« wie die Franzosen sagen, entdeckte von seinem Fenster aus auf der Gartenmauer einen dunkeln Gegenstand, den er sonst noch nicht bemerkt hatte. »Sollte ein Kerl über die Mauer steigen?« dachte Eduard und griff nach seinem Opernglase, denn er war kurzsichtig.
Sofort verlor der dunkle Gegenstand alle Furchtbarkeit und aus dem »Kerl« entpuppte sich Ulli. Eduard erschrak; er war gewohnt, daß junge Damen mit der größten Sorgsamkeit vor Wind und Wetter gehütet wurden.
»Sie wird sich eine schwere Krankheit holen,« murmelte er, und weil er ein gutmütiger Mensch war, beschloß er, sich trotz seines Gesellschaftsanzugs in den Garten zu stürzen und das unvorsichtige Mädchen zu retten.
»Cousinchen! Aber Cousinchen!« rief er schon von weitem.
Ulli sprang von der Mauer und stellte sich mit unterschlagenen Armen trotzig hin; um ihre Lippen aber zuckte es wie verhaltenes Lachen. Der Vetter kam ihr sehr komisch vor. Er hatte das schwarze Gesellschaftsbeinkleid aufgekrempelt, einen Plaid übergeworfen und den Regenschirm aufgespannt; vorsichtig wählte er für seine Lackstiefeletten die besten Stellen, und die durch den schmelzenden Schnee entstandenen Pfützen nahm er mit einem kühnen Sprunge.
»Was treibst du denn hier?« fragte der elegante junge Herr ein bißchen von oben herunter; er war fünf Jahre älter und kam sich wie eine Respektsperson vor.
»Ich singe,« erklärte Ulli.
»Du singst? – Ich muß gestehen, recht passende Gegend und recht angenehmes Wetter, um im Freien zu singen. Mama wird außer sich sein.«
»Ich erkälte mich nicht,« versetzte Ulli, schüttelte die Tropfen von den nassen Zöpfen und begann den Rückzug.
Eduard dachte zwar mit Schaudern an den Schnupfen, den er sich holen würde, aber weil er wirklich gutmütig war, wollte er diesem unvorsichtigen Kinde seine Gesundheit zum Opfer bringen. »Laß dir wenigstens den Plaid überhängen,« rief er.
Aber Ulli verachtete die Vorsicht, wie gewöhnlich alle sehr kräftige Naturen. »Danke,« sagte sie, schüttelte den Plaid von den Schultern, sodaß er auf den erweichten Schnee fiel, und sprang davon.
»In dem Mädchen steckt ja ein Teufel!« seufzte Eduard; er hob den durchnäßten Plaid auf, der auch für ihn unbrauchbar geworden war.
Dreimal hatte die Bonne schon den Kopf in Ullis Stube gesteckt und sie immer leer gefunden. Sie wollte Frau von Holder mit dieser Nachricht nicht noch mehr in Aufregung versetzen. Beim vierten Mal endlich traf sie Ulli, die sich die nassen Zöpfe mit einem trockenen Tuche auswand; das Kleid hatte sie ausgezogen und an den Ofen gehängt. Sie war daran gewöhnt, selbst ihre Garderobe zu trocknen; denn sie hatte nie Kleider zum Wechseln besessen, und in Wolfshagen wurde der letzte Regenschirm von Susanne mit Argusaugen gehütet.
Die Bonne schlug bei dem Anblicke die Hände zusammen. »Wo haben Sie sich denn herumgetrieben, gnädiges Fräulein? Na, das wird einen schönen Spektakel geben; wie soll man denn mit so einem beschmutzten, nassen Kleide und aufgeweichten Rüschen eine anständige junge Dame herstellen? Und die Frau Kommerzienrätin ist schon vorgefahren; die andern Herrschaften werden auch gleich da sein.«
Ulli bekam einen großen Schreck; sie hatte von einem Diner gehört, aber nicht darauf geachtet; jetzt beschlich sie eine Ahnung, daß ihr etwas bevorstände, wobei sie wieder eine traurige Rolle spielen würde.
»Wir haben keine Zeit zu verlieren,« meinte die Bonne und rief das Hausmädchen, dem sie einen Stahl zu hitzen befahl; dann putzte sie das Kleid energisch aus, heftete frische Rüschen ein, kämmte Ullis Haar und plättete zum Schluß das Kleid. Nicht viel länger als eine halbe Stunde war verflossen, und Ulli ging aus der durchnäßten Garderobe wie ein Phönix aus der Asche hervor.
Frau von Holder wünschte ihre Gäste auf Ulli vorzubereiten, aber ihre Schwägerin genierte sie; vor ihr konnte sie unmöglich wieder das Märchen von der sonderbaren Erziehung ihrer Nichte vorbringen. Sobald sie aber merkte, daß sich ihr Gemahl und die Kommerzienrätin im Nebenzimmer lebhaft und nach ihrer Art laut unterhielten, benützte sie die Gelegenheit.
»Meine Nichte,« begann sie, »ist ein Kind der Natur; sie ist ganz einsam auf unserm alten Stammsitze Wolfshagen und in ungebundener Freiheit aufgewachsen. Mein Bruder teilte leider die Prinzipien von Jean Jacques Rousseau, und es bleibt mir nun die nicht ganz leichte Aufgabe, aus dieser kleinen Wilden ein Fräulein zu machen.«
Hier ging die Thür auf, und das Naturkind zeigte sich. Alle Augen richteten sich auf sie; wäre sie auch nicht als eine »kleine Wilde« angekündigt worden, sie würde nicht unbemerkt geblieben sein, denn eine Alltagserscheinung war Ulli nicht. Jungenhaft und steif trat sie ein, machte einige große Schritte und blieb dann mit schamgeröteten Wangen verlegen stehen; denn sie verstand es weniger, sich auf spiegelglattem Parkett zu bewegen, als auf Bäume zu klettern und über Gräben zu springen. Unter freiem Himmel, im grünen Walde war sie in ihrem Element; da gehörte sie hin. In einem Salon aber sah sie wie eine steife Holzfigur aus.
»Nun, da bin ich aber doch neugierig,« ließ sich plötzlich eine laute Stimme vernehmen, und in der offenen Thür zeigte sich die Kommerzienrätin, das Lorgnon vor den Augen. Aber schon stand Frau von Holder wie zum Schutze neben Ulli und führte sie in den Kreis.
»Meine Nichte, Baroneß de Watteville,« stellte sie das Kind vor.
An der Hand ihrer Tante fühlte sich Ulli sicher, und mit natürlichem Anstand, der zum erstenmal hervortrat, machte sie einen Knix und beantwortete höflich die an sie gerichteten Fragen. »Gott sei Dank,« dachte Frau von Holder, »endlich macht sich das Blut der Wattevilles geltend.« Die Frau Kommerzienrätin aber rief ihr zu: »Ich mache dir mein Kompliment, Cäcilie. Du hast in wenigen Tagen Wunder gewirkt.«
Ulli schien nicht schüchtern; aber ihre Naivität überraschte. Auf die Frage des Grafen Büren, wie es ihr in Dresden gefalle, antwortete sie nicht: »Danke, sehr gut,« wie ihre Cousinen geantwortet haben würden; ihre Augen leuchteten plötzlich auf, und sie rief lebhaft: »Dresden muß die schönste Stadt in der ganzen Welt sein!« Sie beachtete nicht, daß über verschiedene Gesichter ein Lächeln zuckte; unbekümmert fuhr sie fort: »Ich bin gestern durch die Straßen gegangen; die Gasflammen brannten schon und die Schaufenster sahen herrlich aus. Ich habe noch nie ein so großes Vergnügen gehabt.«
Die Gesellschaft amüsierte sich; von jungen Damen hörte man niemals so naive Äußerungen; man bedauerte, daß die Unterhaltung unterbrochen wurde, weil der Diener die Thür nach dem Speisesaal öffnete.
Zu ihrem größten Erstaunen sah Ulli, wie Graf Büren ihrer Tante ein Kompliment machte, ihr den Arm bot und sie davonführte; dasselbe wiederholten andre Paare; der Kreis um Ulli wurde immer lückenhafter, auf einmal stand sie ganz allein da. »Ja, was wird denn nun aus mir?« dachte sie. »Bin ich nur zum Ansehen hereingelassen worden und bekomme ich nichts zu essen?« Ulli dachte leider schon wieder an das Essen.
In diesem peinlichen Momente nahte Eduard. »Erlaube, daß ich dich zu Tische führe,« versetzte er herablassend; ein Kompliment fand er überflüssig; einer Cousine, die vom Regen eingeweicht auf einer Gartenmauer saß und einen ihr geopferten Plaid in den tauenden Schnee warf – einer solchen Cousine machte man kein Kompliment.
Aber Ulli hatte eben auch nicht vergessen, daß sie diesem jungen Manne Rache geschworen; ohne ihn eines Blickes zu würdigen, ging sie an ihm vorüber und erwiderte trotzig: »Danke, ich kann allein gehen.«
Eduard lachte, etwas gezwungen. »Du scheinst nicht zu wissen, daß du mich in diesem Augenblicke tödlich beleidigst,« bemerkte er.
»Das ist gerade, was ich wünsche,« entgegnete Ulli. »Sie haben mich auch tödlich beleidigt.«
Länger konnte sich Eduard nicht beleidigt fühlen; er lachte herzlich. »Das ist ja ein kolossaler Spaß! Wann habe ich dich denn so ›tödlich‹ beleidigt?«
»Sie haben mit Ihrem Freunde über mich gespottet. Sie brauchen sich nicht erst zu verteidigen – ich weiß, daß Sie mich verspottet haben; und Sie haben mir wie einem kleinen Kinde Bonbons kaufen wollen, und Sie haben mich einen ›Backfisch‹ geschimpft.«
Ullis Kinderaugen, mit Thränen gefüllt, sahen Eduard vorwurfsvoll an; er wurde ernst.
»Backfisch ist aber kein Schimpfwort, liebe Cousine,« versicherte er und hätte gern noch mehr gesagt, aber der Diener zeigte sich in der Thür; Ulli und Eduard waren die einzigen Personen, die an der Tafel fehlten.
Es war ein kleines Diner, nur einige Freunde des Hauses; die jungen Leute saßen zusammen an dem untern Ende der Tafel.
Frau von Holder hatte gewünscht, daß Ulli neben Miß Kirk gesetzt wurde, und diese gebeten, ihrer Nichte einige Aufmerksamkeit, im Notfall eine Mahnung zukommen zu lassen.
Auf Ullis andrer Seite saß Eduard; ihr gegenüber Leonie und Gabriele, zwischen ihnen ein Freiwilliger, derselbe junge Mann, der am Konditorladen durch seine spöttischen Blicke Ullis Haß geweckt hatte.
»Herr von Reiffenstein!« stellte ihn Eduard vor.
Mit großer Geschicklichkeit warf der Freiwillige sein Binocle über die Nase, ehe er sich vor Ulli verbeugte. »Sehr angenehm,« schnarrte er dabei.
»Was denn?« fragte Ulli.
»Was denn?« wiederholte ihr vis-à-vis, ungeheuer amüsiert. »Wirklich sehr scharmant! Ausgezeichnet! Was denn? Hahaha!«
»Gieb acht, die Suppe,« ermahnte Eduard und unterbrach seine Heiterkeit.
Ulli aber dachte: »Das ist ein Narr, den brauche ich nicht zu hassen – den verachte ich.«
Heute schlug Ulli die Augen nicht nieder, sondern blickte sich aufmerksam um; sie wünschte mit ebensoviel Anstand wie die andern zu speisen; sie konnte aber nichts Besonderes erblicken, jeder führte mit der rechten Hand seinen Löffel zum Munde, gerade so, wie sie es ebenfalls gewohnt war; sie zögerte nicht länger und ließ sich die Suppe schmecken.
Da vernahm man durch die gedämpfte Unterhaltung plötzlich einen lauten, schlürfenden Ton.
»Suppe essen ohne Lärm,« flüsterte Miß Kirk Ulli zu.
»Ich habe kein Wort gesagt,« entgegnete diese errötend; sie war überzeugt, sich passend benommen zu haben.
»Leise essen – nicht schlürfen,« wiederholte die Engländerin sehr dringend. Jetzt begriff Ulli, wurde hochrot und warf einen erschreckten Blick auf die Tante.
Frau von Holder fieberte vor Aufregung; aber sie ließ nichts davon merken, und so tröstete sich Ulli, daß sie auch nichts gehört habe. Sie verdoppelte nun ihre Aufmerksamkeit, und es gelang ihr wirklich, das Benehmen der Gesellschaft nachzuahmen; aber als der Fisch serviert wurde, passierte doch wieder ein Unglück.
Ulli hatte, außer Heringen, noch niemals Fische gegessen; es machte ihr schon Schwierigkeiten, den Fisch nur mit der Gabel und einem Stückchen Brot bewaffnet, zu zerlegen, und weil sie nicht vorsichtig genug war, blieb ihr eine Gräte im Halse stecken. Leider kannte sie das Märchen aus ›Tausend und eine Nacht‹ sehr genau, worin von einem Manne erzählt wird, der an einer Gräte erstickte.
Ulli sah ihren sichern Tod vor Augen und in einer so furchtbaren Lage wurde ihr selbst die vornehme Gesellschaft gleichgültig. »Ich ersticke,« rief sie, sprang auf und krächzte entsetzlich.
Miß Kirk zog sie mit einem Ruck nieder, reichte ihr schnell ein Stück Brot, und befahl ihr Wasser zu trinken; alles leise, aber mit einer Entschiedenheit, die Gehorsam forderte.
Als sich Ulli vom Tode gerettet sah, dankte sie ihrer Nachbarin unter Thränen, die ihr nicht die Rührung, sondern die Anstrengung in die Augen drängte. Es wunderte sie aber doch, daß niemand von der Gesellschaft ihren Todeskampf bemerkt hatte. »Das ist noch gut abgelaufen,« dachte sie, »aber Fische will ich nie mehr essen.«
Eduard hatte strenge Ordre, seiner Cousine unter keiner Bedingung mehr als ein Glas Wein einzugießen; aber weil Ulli nicht an geistige Getränke gewöhnt war, färbte dieses eine Glas ihre nicht kleine Nase dunkelrot. Die rote Nase genierte Ulli sehr; es war ihr, als läge ein kupfernes Gebirge vor ihren Augen, und es schien ihr, daß ihr vis-à-vis unaufhörlich darauf hinstarrte; dadurch wurde sie so verwirrt, daß sie an Miß Kirks Weinglas anstieß; schnell griff sie zu, um es noch zu halten, dabei ließ sie aber die Gabel auf den Boden fallen.
Unglücklicherweise bildete sie sich ein, es wäre höflich, das Hinuntergefallene auch wieder aufzuheben, und weil sie sich bückte, war Eduard genötigt, sich gleichfalls zu bücken; natürlich stießen die Köpfe zusammen, und indem sie ausweichen wollte, warf Ulli den Stuhl um. Aber sie hatte doch die Gabel erlangt und hielt sie triumphierend in der Hand; vielleicht ebenso stolz wie Schillers Taucher, als er mit dem goldenen Becher das himmlische Licht wieder begrüßte.
Sie krönte ihre Taktlosigkeiten! Als ihr der Diener ein frisches Besteck brachte, fiel ihr ein, daß Bescheidenheit eine schöne Zier, und lehnte dankend ab, wobei sie dem verblüfften Diener versicherte, die Gabel sei rein geblieben und sie wolle sie noch benützen.
Frau von Holder entfuhr ein leises Stöhnen, sie litt furchtbare Qualen; die Gesellschaft aber kostete es einige Überwindung, nicht durch ein Lächeln zu verraten, daß man diesen komischen Vorgang auch bemerkt habe.
Es giebt gescheite, brave und tüchtige Leute, die, weil sie keinen Takt besitzen, nicht beliebt sind; sie stoßen überall an und verwickeln sich leicht in Händel. Der natürliche Takt ist eine Gabe, die nicht jedem verliehen ist, aber dem, der damit ausgestattet wurde, das Fortkommen in der Welt erleichtert.
Soweit sich überhaupt seelische Zustände klassifizieren lassen, kann man den gesellschaftlichen Takt von dem Takte des Herzens trennen, obwohl sie nicht immer zu unterscheiden sind und der Besitz des einen leicht über den Mangel des andern täuscht.
Den gesellschaftlichen Takt, das heißt das feine, instinktive Empfinden der Seele für das, was sich schickt, versteht die gute Gesellschaft selbst da, wo die Anlage schwach ist, so zu entwickeln, daß wir ihn nirgends vermissen, daß er feingebildeten Menschen gleichsam zur andern Natur geworden scheint.
Der Takt des guten Herzens, dessen sich durchaus nicht alle gutmütigen Leute rühmen können, findet sich in der ganzen Welt, wo warme Herzen schlagen, im Palast wie in der Hütte, unter dem Ordensstern des vornehmen Mannes, wie unter dem Kittel des Arbeiters; der Takt des Herzens ist das zarte Verständnis für das, was andre kränkt und erfreut, betrübt und beglückt.
Verbindet sich gesellschaftlicher Takt aber mit dem Takte des guten Herzens in einer Person, so entfaltet sich eine jener liebenswürdigen, anmutenden Gestalten, die uns schon im ersten Augenblicke äußerst sympathisch berühren, und mit denen zu verkehren ein wirkliches Vergnügen ist.
Von dieser allgemeinen Betrachtung wollen wir zu unsrer Ulli zurückkehren. Das arme Kind war nicht minder taktvoll beanlagt, als viele andre junge Mädchen, doch fehlte ihr die Erziehung; zugleich aber besaß ihre Seele Eigenschaften, die einer natürlichen Entwicklung ihres Taktgefühls hinderlich waren. Mit einer kleinen Stimme, die leicht anschlägt, lernt man bald ein hübsches Liedchen vortragen; wem aber die Natur eine große Stimme verliehen hat, der erschüttert erst die Wände und zerreißt das Trommelfell seiner Zuhörer, ehe er sie in gesetzmäßige Schranken eindämmen lernt. Und so war auch Ullis Seele groß, stark und tief empfindend, aber ungebändigt.
Es schien Frau von Holder, als würde das Diner niemals ein Ende nehmen; sie bereute es jetzt bitter, Ulli zugelassen zu haben; es kostete sie eine fast übermenschliche Anstrengung, die Pflichten der Hausfrau nicht zu versäumen und zugleich ein harmloses Gespräch mit ihren Nachbarn zu führen, während sie jeden Augenblick auf eine neue Taktlosigkeit Ullis gefaßt war.
Sobald die Tafel aufgehoben wurde, flüsterte sie Miß Kirk zu, sie solle Ulli ohne Aufsehen entfernen und auf ihr Zimmer nehmen. Dann erst atmete sie auf und versuchte, über Ullis Verstöße den Schleier verwandtschaftlicher Liebe zu breiten.
Endlich hatte sich auch der letzte Gast entfernt; nur die Kommerzienrätin war geblieben. Vollständig erschöpft ruhte Frau von Holder in einer Causeuse; das Licht der Lampen war gedämpft, die Unterhaltung wurde nur flüsternd geführt; Gabriele besorgte den Thee fast geräuschlos. Leonie und Eduard spielten Schach, Herr von Holder las Zeitungen und die Kommerzienrätin strickte Kinderjäckchen. Es war das ihre Lieblingsbeschäftigung; das Klappern der Nadeln war für die zarten Nerven der Frau von Holder sehr peinlich; aber sie ertrug es stillschweigend. Sie wußte, wie ungern es ihr Mann sah, wenn sie sich allein auf ihr Zimmer zurückzog.
Ulli verlebte indes im Zimmer von Miß Kirk eine höchst angenehme Stunde; zurückgelehnt in einem easy chair, die Arme im Nacken verschränkt, hörte sie Miß Kirk zu, die von England erzählte, wobei sie unmerklich etwas von den Gesetzen der Schicklichkeit in der guten Gesellschaft einfließen ließ.
Auf einmal richtete sich Ulli auf, sah die Engländerin scharf an und fragte: »Ich habe heute wohl wieder viele Dummheiten gemacht, Miß Kirk?«
Sie ahnte nicht, daß über diese Dummheiten soeben im Familienzimmer verhandelt wurde.
Wie eine Wolke, hinter der sich der Vollmond verborgen hat, verschwand plötzlich die Times und das Gesicht des Herrn von Holder kam zum Vorschein. »Ich habe mir die Sache überlegt; so geht's nicht weiter,« versetzte er, und obwohl er keinen Namen nannte, wußten sie doch alle, daß es sich bei diesen Worten um Ulli handelte.
»Es ist traurig, wenn man gar keine Anstrengung mehr aushält!« meinte Frau von Holder und seufzte.
»Aber, liebe Cäcilie, du kannst deiner Nichte doch nicht dein Leben zum Opfer bringen,« mengte sich die Kommerzienrätin ein.
»Ich denke, wir haben doch noch nähere Anrechte an die Mama,« sagte der Hausherr und nahm mit freundlichem Nicken eine Tasse Thee aus der Hand seiner Tochter.
»Nimm mir's nicht übel, Cäcilie, aber du hättest das Mädchen nicht in die Gesellschaft bringen sollen,« versetzte die Kommerzienrätin wieder. »Da magst du nun sagen von Jean Jacques Rousseau was du willst; das Mädchen ist einfach unerzogen und hat keine Spur von Anstand und Takt, und das wird sie auch nie lernen.«
»Das wird sie lernen,« kam die Stimme Eduards von der Seite, wo Schach gespielt wurde; zugleich ließ sich Leonies etwas erregtes Stimmchen vernehmen: »Was thust du denn, Edi? Du nimmst ja meine Königin, ohne › Gardez‹ zu bieten?«
Anstatt aber wegen dieses Versehens um Verzeihung zu bitten, stand Eduard auf und trat zu den ältern Herrschaften.
»Wir behandeln das Mädchen ganz falsch,« sagte er.
»Aber Edchen,« meinte die Kommerzienrätin – Eduard war ihr Liebling – »wir haben doch erst gestern abend über die kleine Watteville gesprochen, und da hast du gesagt: ›Die Watteville ist eine Gans, und aus der wird Mama niemals eine junge Dame machen‹.«
Eduard errötete sichtlich; die Worte klangen ihm jetzt äußerst lieblos und hart; er wünschte, sie nicht gesagt zu haben, und fand seine Tante rücksichtslos, daß sie sie wiederholte. »Unter einer jungen Dame habe ich mir ein verpimpeltes und zartes Püppchen vorgestellt,« sagte er mit einem nicht gerade bewundernden Blicke auf seine Schwestern. »So ein feines Dämchen kann Mama aus Ulrike nicht machen. Aber sie ist gar nicht so dumm wie wir denken; wir können uns nur nicht in ihre Seele versetzen, und darum behandeln wir sie ganz falsch, und immer von oben herunter, als ob sie eine Schande für die Familie wäre. Ihre Schuld ist's doch nicht, daß sich niemand um sie bekümmert hat.«
»Das Kind thut einem ja herzlich leid,« versetzte die Kommerzienrätin; »aber die Mama thut mir auch leid, und wenn sich die Watteville wie heute mittag benimmt, ist die ganze Familie blamiert.«
»So etwas darf nicht noch einmal vorkommen,« meinte Herr von Holder. »Sie muß auf ihrer Stube essen, wenn wir Gesellschaft haben.«
»Damit machen wir's aber nicht besser, Papa. Und es wird sie kränken.«
»Bilde dir das nur nicht ein, Eduard. Die Hauptsache ist, daß man sie reichlich mit Essen versorgt. Ich glaube, sie hat Hunger in Permanenz.«
»Da kannst du sehen, wie falsch du sie beurteilst, Papa. Sie ist leicht verletzt. Mich hat sie besonders auf dem Strich.«
»Aber was sollte sie denn gegen dich haben, Edchen?« meinte die Kommerzienrätin lächelnd. Sie fand, daß ihr Neffe ein bewundernswerter junger Mann wäre.
»Ich habe sie beleidigt, weil ich sie einen Backfisch genannt habe.«
Hier wurde er von dem Lachen seiner Schwestern, das sich mit dem des alten Herrn mengte, unterbrochen.
»Natürlich lacht ihr,« fuhr Eduard etwas gereizt fort, »weil ihr Wißt, daß Backfisch kein Schimpfwort ist. Aber Ulrike weiß das nicht! Woher sollte sie es wissen?«
»Sie scheint ja an dir einen Ritter gefunden zu haben,« bemerkte der alte Herr und putzte lächelnd seine Brillengläser.
»Mir ist's nicht komisch, wenn ich jemand gekränkt habe.« Eduard warf einen zornigen Blick nach der Seite, von der sich das Lachen seiner Schwestern noch hören ließ. »Ich hatte nicht gedacht, daß sie beleidigt wäre, aber als ich sie zu Tische führen wollte, war sie trotzig, und dann kam's heraus; und da hat sie mich mit einem vorwurfsvollen Blicke angesehen. Ich wenigstens werde sie von jetzt an anders behandeln.«
»Nimm dich in acht!« warf der Vater ein.
Eduard fuhr fort: »Der Reiffenstein verfiel natürlich gleich in unsre Tonart und« – hier flog sein Blick abermals zu den jungen Mädchen – »ich weiß, daß Leonie und Gabriele ihn dazu noch ermutigten.«
»Ach, es war so amüsant, als Ulrike fragte: was ihm denn so angenehm wäre,« sagte Gabriele. Leonie aber verteidigte sich: »Ich habe Reiffenstein, als er auch noch unter den Tisch fahren wollte, zurückgehalten, damit der Skandal nicht größer würde. Mehr konnte ich nicht thun.«
»Er wird sich nicht zum zweitenmal erlauben, meine Cousine zu verspotten; ich habe ihm meine Meinung deutlich gesagt,« versetzte Eduard sehr bestimmt.
Herr von Holder guckte ihn ernsthaft an; dann wendete er sich an seine Frau. »Ich bin der Meinung, Cäcilie, daß wir deine Nichte in ein Pensionat schicken. Du bist zu leidend, sie zu erziehen, und wir sind keine Pädagogen.«
»Das ist, was ich längst gedacht habe,« meinte die Kommerzienrätin, warf einen besorgten Blick auf die Schwägerin und packte ihr Strickzeug zusammen.
»Du bist wohl leidend, Cäcilie? – Leonie, hole der Mama schnell die Tropfen, sie ist unwohl.«
Diese Unterhaltung war für die nervöse Frau zuviel gewesen; jedes Wort verletzte ihren Stolz. Jetzt rang sie nach Luft; sie bekam einen heftigen Anfall von Herzkrampf.
Als der peinliche Zustand überwunden und die Patientin zur Ruhe gebracht war, drückte Herr von Holder seiner Schwester die Hand und sagte: »Ulrike muß so bald wie möglich in eine Pension; wir aber werden unsre Hütten abbrechen und nach Madeira gehen. Hübler verlangt es ganz energisch.«
Ahnungslos des Sturmes, den sie heraufbeschworen, lag Ulli im Bett; doch sie schlief nicht so bald ein, wie sie es gewöhnt war; das Bewußtsein ihres ungebildeten und linkischen Benehmens störte sie; in Gedanken notierte sie gleichsam alle guten Lehren, die sie soeben empfangen hatte, und faßte die besten Vorsätze. »Aber so gebildet und fein, wie Leonie und Gabriele, werde ich niemals werden,« dachte sie mit einem Seufzer und dann ging der Kummer in Träume über.