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Das leipziger Cénacle, das durch die »fatale Stilpe-Sache« damals gesprengt worden war, hatte sich schließlich doch wieder zusammengefunden. Freilich ohne Stilpe. Dieser war um die Zeit der neuen Vereinigung gerade in den Vollgenuß seiner kritischen Berühmtheit getreten und hatte auf die Einladung, der ersten Sitzung in Leipzig beizuwohnen, eine schnöde Absage erteilt. Es war darin von Kinderschuhen die Rede, die er den Herren gerne zur Verfügung stellen würde, wenn er nicht befürchten müßte, daß auch sie ihnen noch zu groß seien; im übrigen sei er bereit, die poetischen Werke der erlauchten Cénacliers mit derselben Objektivität zu tranchieren, mit der er die übrigen Erzeugnisse des dichterischen Germaniens der öffentlichen Meinung vorsetzte.
Diese Bemerkung war das Boshafteste in dem Briefe, denn die Herren Barmann, Stössel, Wippert und Girlinger hatten ihren künstlerischen und dichterischen Jugendplänen längst den Abschied gegeben. Barmann war Gymnasiallehrer geworden, Stössel hatte reich geheiratet und gab vor, musikgeschichtliche Studien zu treiben, Wippert war auf dem Umwege über orientalische Philologie langsam zur Medizin gelangt und hatte eine Klinik für Frauenkrankheiten, Girlinger steuerte auf die Laufbahn eines königlichen Staatsanwalts zu. Wenn sie sich trotzdem zu einem neuen Aufguß des Cénacles vereinigten, so geschah es in einer gewissen melancholischen Stimmung und in der Hoffnung, unter sich wenigstens eine Art Abglanz jenes einbildungsvollen Übermutes zu erzeugen, an den sie sich nicht ohne ein leises Hochgefühl erinnerten. Es war ihnen im Grunde doch leid, daß jene überschwänglichen Einbildungen einer künstlerischen Zukunft nicht zur Wahrheit geworden waren. Sie gestanden sich das zwar nicht ein, konstruierten sich vielmehr ein Gefühl von ernster Zufriedenheit darüber, daß sie sich in bürgerlich gefestete Zustände und in einen praktischen Wirkungskreis hinübergerettet hätten, aber es gewährte ihnen doch Genugthuung, daß sie auf so etwas wie eine geistige Sturm- und Drangperiode zurückschauen konnten. Auch hegten sie die stille Hoffnung, daß sie vielleicht viribus unitis doch noch die Fähigkeit besitzen möchten, wenigstens unter sich ein bischen über die Stränge zu schlagen.
Da war nun die Absage Stilpes, vor dessen literarischer Stellung sie doch etwelchen Respekt hatten und in dem sie den durchgedrungenen Cénaclier verehrten, sehr fatal gewesen. Ohne ihn entwickelte sich das Cénacle stark ins hausbacken Solide, und eigentlich gabs eine Wiedergeburt jenes Debattierklubs auf dem Gymnasium, nur daß mit der Unreife auch der Enthusiasmus fehlte.
Es wurde aus dem Cénacle eines der kritischen Konventikel, wie sie sich jetzt gerne um die Literatur und Kunst herumgruppieren, wo man sich über das Neue unterhält, die Entwickelung mit bald wärmerer, bald kühlerer Anteilnahme verfolgt, und wo der heimliche Lessing dieser kritisch noch immer nicht unter einen Hut gebrachten Zeit in vielen Exemplaren wächst, blüht und gedeiht.
Ein Hauptsport dieses zeitgemäß gewordenen Cénacles war die Psychologie, diese Lieblingsneigung aller unproduktiven Köpfe, die zu klug und zu stolz sind, um zu dilettänteln. An Stoff gebricht es diesem Sporte niemals, aber hier war er besonders üppig und interessant, weil die Cénacliers in ihrem ehemaligen Freunde, dem Ex-Schaunard Stilpe, ein besonders ergiebiges Objekt hatten.
Die Debatte drehte sich recht häufig um ihn, und besonders Girlinger ward nicht müde, ihn zu vivisecieren. Er sprach es direkt aus, daß Stilpe für ihn das interessanteste Schauspiel sei, und daß er ihn ganz sicher niemals aus den Augen verlieren werde. Er hatte natürlich auch schon eine Prognose bis ins Letzte in Bereitschaft, hütete sich aber doch, sie mit Bestimmtheit verlauten zu lassen. Die Kühnheit Wipperts, der im Geiste schon das Sterbebett Stilpes in der Charité mit der Aufschrift del. trem. sah, besaß er doch nicht. Dafür dachte er seinem Metier zufolge mehr an Plötzensee. Barmann, der in Secunda deutsche Literaturgeschichte traktierte, huldigte höheren Perspektiven; er konstruierte sich einen modernen Fall Günther. Stössel war im Grunde voll phantastischer Erwartungen:
– Paßt auf: Plötzlich tritt er mit einem Werke hervor. Jetzt ist alles Schutt und Scherben. Aber mit einem Male wird er sich zusammenfassen und aufraffen, und dann zeigt er erst seine wahre Gestalt, seine innerliche Kraft. Vielleicht muß er blos erst heiraten!
So psychologisierte jeder nach seinen Erfahrungen, und Stilpe ward nicht müde, in bunter Folge jeder Ansicht neue Nahrung zu geben.
Zu einer konkreten Zusammenfassung reeller Unterlagen für diese psychologischen Bemühungen kam es aber erst als Girlinger nach Berlin versetzt wurde.
Es war etwa über ein Jahr nach der Gründung des Momus, da sandte Girlinger folgenden
Bericht quoad Stilpe
an das Leipziger Cénacle:
Endlich ist es mir gelungen, nicht blos Authentisches über den Fall Stilpe-Momus zu erfahren, sondern auch unsern ehemaligen Schaunard selber aufzufinden. Ich hätte euch schon früher allerlei mitteilen können, aber ich wollte mit Thatsachen aufwarten und nicht blos referieren, was ihr aus den Zeitungen von damals ebensogut wißt, wie ich, und was doch durchweg mehr oder weniger feindliche Preßmache war.
Ich verkehre hier ab und zu mit Journalisten und habe in dieser Gesellschaft zuweilen versucht, das Gespräch auf Stilpe zu bringen, aber es ist mir nicht gelungen, von dort her mehr zu vernehmen als Äußerungen einer fertigen Verachtung, die sich nicht zur Darlegung von Gründen herbeilassen wollte. Stilpe gilt in diesen Kreisen einfach als bête noire, und schon aus Korpsgeist vereinigt man sich zu einstimmiger Verdammung des räudigen Schafes. Nur einige geben noch zu, daß der »Mensch« ein »starkes pamphletistisches Talent besessen habe«, aber auch sie fügen die Bemerkung daran, daß er »nicht einmal für einen Schmähschreiber genug Charakter besitze«. Den Momus-Krach stellen sie als wohlverdiente Strafe hin 1) für die Frivolität, die das Gepräge dieser ganzen Gründung gewesen sei und 2) für das »ans Gaunerhafte grenzende Gebahren«, das Stilpe in der ganzen Angelegenheit gezeigt haben soll und zwar sowohl bei Aufbringung wie bei Verwendung der Momusgelder.
Durch Zufall lernte ich dann eine Gruppe von Dichtern kennen, die über jedem Verdachte journalistischer Verbindungen stehen, weil sie es schon längst aufgegeben haben, ihre Erzeugnisse durch die periodische Presse zu verbreiten, und die gerade über den Momusfall mitreden können, weil sie an ihm beteiligt gewesen sind. Da sie trotzdem im Grunde von Stilpe nicht viel wissen wollen (weil er, wie sie sagen, den Momusgedanken prostituiert hat), so ist es erlaubt, ihre Aussagen wenigstens für insoweit objektiv zu halten, als die Herren überhaupt einer objektiven Betrachtung der Dinge dieser Welt fähig sind.
Von diesen Herren habe ich nun dies erfahren: Das Momustheater erlitt ein vollkommenes Fiasko, weil es als Tingeltangel »immerhin« zu künstlerisch, als Kunstinstitut aber viel zu sehr Tingeltangel gewesen sei. Das Publikum lehnte »das bischen Literatur und Kunst«, was dabei mitspielte, schon als zu viel ab, und die Presse, die im Verein mit dem »Schock Berliner Kunst- und Literaturfreunde« sich »wenigstens den Anschein gab, etwas Künstlerisches erwartet zu haben«, erklärte mit »der ganzen Entrüstung lackierter Elitemenschen«, daß sie von Literatur und Kunst im Momus nicht mehr zu finden vermöchten, als im »Malepartus«. Das sei nun freilich zuviel gesagt, meinten meine »Dichter«, und sie führten zum Beweis der »Nüance von reeller Litteratur im Momus« jeder eine Programmnummer an, die den Citierenden zum Verfasser hatte. Ich muß gestehen, daß schon die Titel dieser Programmnummern mich in Staunen versetzten, und als mir eine Probe »interpunktionsloser Lyrik« vorgetragen wurde, die im Momus unter »Pizzicatobegleitung von acht Bratschen« deklamiert worden ist, da begriff ich, daß das dem Publikum zu viel gewesen war. Diese merkwürdigen Dichter amüsierten sich übrigens selber am meisten über ihre Programmnummern, und ich vermochte mir nicht darüber klar zu werden, ob sie diese Produkte ernst oder als einen Ulk nahmen, den sie sich mit Stilpe erlaubt hatten.
Es war bei der Première sehr lärmhaft zugegangen, und zwar hatten, wie meine Dichter behaupten, zwei Parteien »um die Palme des Radaus gerungen«: In erster Linie die journalistischen Feinde Stilpes und dann ein Aufgebot der christlichen Jünglingsvereine. Nach Allem, was ich zumal über die Balletleistungen des Momus vernommen habe, muß ich erklären, daß ich die Opposition derart inkorporierter Jünglinge verstehe. Es ist auch sehr bald die Polizei gegen den Schnitt der Balletgewänder im Momustheater eingeschritten.
Dieser Umstand in Verbindung mit dem einmütigen Verdikte der Presse, daß der Momus durchaus kein Kunstinstitut im höheren Sinne sei, hat den Aufsichtsrat der Momus-Gesellschaft, also die Geldgeber, veranlaßt, sich den Paragraphen in Stilpes Kontrakt zunutze zu machen, der es gestattete, den »artistischen Direktor« zu entlassen, freilich unter Zahlung einer sehr beträchtlichen Entschädigungssumme für diesen. Der leise unternommene Versuch, diese Entschädigung durch allerlei Anschuldigungen bedenklicher Natur in punkto Geschäftsführung zu umgehen, ist schließlich nicht gemacht worden, aber schon der Ansatz dazu hat genügt, jenes von mir bereits erwähnte Gerücht von »Gaunereien« &c. zu erzeugen.
Das Momustheater ist sehr bald an einen regelrechten Tingeltangeldirektor übergegangen, und man hat eine Weile geglaubt, daß Stilpe selbst mit seiner Entschädigungssumme der Hintermann dieses Variété-Mannes gewesen sei. Der Umstand, daß seine damalige Geliebte, eine Hamburger Chantantsängerin, die Diva des neuen Momustheaters wurde, deutete wohl darauf hin, aber die Stellung eines Hintermannes scheint mir nicht im Charakter Stilpes zu liegen.
Zweifellos und leider in Stilpes Charakter sehr ersichtlich begründet ist dagegen die Thatsache, daß er sich nach seiner Entlassung einem völlig verrückten Lotterleben hingegeben hat. In seiner Eigenschaft als »Direktor« hatte er eine unendliche Schaar von Artisten und Artistinnen kennen gelernt, und er umgab sich nun mit einem wahren Heerbann von stellenlosen Sängerinnen und Tänzerinnen. Es wird euch genügen, das Faktum zu vernehmen, um euch ein Bild davon zu machen, in welchem Stile er eine Weile gelebt hat.
Meine dichterischen Gewährsmänner machen ihm nicht sowohl dieses Faktum, als den Umstand zum Vorwurf, daß er jede Beziehung mit ihnen und überhaupt mit dem, was sie Literatur und Kunst nennen, abgebrochen habe. Sie sagen in ihrem Stile so: »Er sumpfte wie ein Kapitalist, der sich eine Leibgarde von Mitsumpfern aushalten muß, weil es ihm an Geist und Größe gebricht, allein oder mit erlauchten Leuten congenial zu sumpfen. Er fing wieder an, schwere Getränke nötig zu haben, wo dem Erlesenen schon Gilka genügt, um den Kontakt mit dem Weltgeiste zu finden. Auch bei ihm war es die Verzweifelung der Impotenz, die ihn zwang, für teures Geld wertlose Räusche zu kaufen. Man brauchte sich schließlich kein Gewissen daraus zu machen, ihn anzupumpen wie einen Kunstfreund von hoher Steuerklasse.«
Diese Verachtung von dieser Seite her besagte für mich eigentlich den tiefsten Stand der Stilpischen Dinge.
Unser ehemaliger Schaunard, so sagte ich mir, hat also den brutal sinnlichen Zug seines Wesens vollkommen Herr über sich werden lassen und ist, da ihm mehr Geld zur Verfügung stand, als für ihn gut war, in gemeiner und geistloser Schwelgerei untergegangen. Der andere Zug seines Wesens, und wenn es auch blos eine untergrundlose Verblendung war: Das Hinaufbegehren in freie, schöpferische Geistigkeit, die Zuversicht, aus sich etwas Großes, einen Poeten zu machen, das hat er ganz verloren. Aber ich fügte in mir den Gedanken bei: Er muß, wenigstens in vorüber wehenden Augenblicken der Klarheit, wenn der Alkohol versagt, sehr unglücklich dabei sein.
Deshalb gab ich mir Mühe, seiner habhaft zu werden. Aber es gelang mir lange Zeit nicht. So lange er Geld hatte, wohnte er, wenn er in Berlin war, bald in diesem, bald in jenem Hotel, und häufig war er offenbar von Berlin abwesend, vielleicht an den Orten, wo die eine oder andere seiner Favoritinnen gerade ein Engagement an einem Tingeltangel hatte. Jetzt aber haben ihn die Favoritinnen ganz ausgezogen, und – er hat selber ein Engagement an einem Tingeltangel hier.
Ich erfuhr, daß er in einem der kleinen Chantants draußen in Berlin N., wo die Chausseestraße anfängt, als Komiker auftrete, und ich beschloß sofort, den nächsten Abend zu einem Besuche in diesem Lokal, das sich Zum Nordlicht nennt, zu benutzen.
Das Milieu brauche ich euch nicht zu schildern; ihr kennt es aus eigener Erfahrung und aus den Novellen der ersten Periode unsres deutschen Naturalismus. Ich muß sagen: Mit einer wahren Angst sah ich dem Auftreten Stilpes auf dieser Bühne entgegen, auf der sich im Übrigen nur Chansonetten letzten Ranges produzierten. Auf dem Programm stand er als – »Rudolph Schonaar« verzeichnet. Ist das nun ein Stück Selbstironie? dacht ich mir; hat er wirklich noch den Humor, sich über sich selbst lustig zu machen? Wie wird er blos aussehen!? Und, mein Gott, wie wird er singen?!
Ich war auf alles mögliche gefaßt, aber nicht auf das, was kam.
Daß ich es kurz sage: Es war eine Leistung! Ich bin ja freilich kein Kenner auf diesem Gebiete, aber das getraue ich mir zu sagen: In seiner Art war die Charge, die unser Schaunard von ehedem darstellte, ein brillantes Stück grotesk-realistischer Tingeltangelkunst. Es war im Grunde niederdrückend für mich, was ich sah, und doch ging ein Gefühl nebenher, das ich so ausdrücken möchte: Der Kerl imponiert mir doch! So sich über sich selber zu stellen mit den Mitteln einer zwar niedrigen, aber in ihrem ganzen Stile fabelhaft erfaßten Kunst, so das ganze traurige Ergebnis seines Lebens mit grotesker Laune tragikomisch dem Pöbel vor die Füße zu werfen, so von oben herab auf sich selber herumzutreten und doch den Eindruck eines Mannes zu machen, der sich dabei amüsiert, – wißt ihr: Das ist kein gewöhnliches Stück, da steckt trotz Allem eine künstlerische Persönlichkeit dahinter.
Also stellt euch vor: Stilpe trat als verlumpter, versoffener alter Dichter auf. Lange graue Haare, zerknüllter Cylinder, Bratenrock, flatternder Künstlershlips, – dies also die alte schablonenhafte Figur des idealistischen Dichters in übler Vermögenslage. Aber nun hättet ihr sehen sollen, wie das Gesicht, die Bewegungen, die Worte dazu paßten. Zum Gesicht hatte er freilich keine Kunst nötig gehabt: Diese aufgedunsenen Züge, diese alkoholisch poröse, kupferige Nase, diese schwimmenden, unstäten Augen, – das war leider Alles Natur. Auch die Bewegungen, dieses Fallenlassen der Arme, die dann an den Schenkeln herumsuchten und tasteten, dieses nervöse Zucken der Schultern, dieses zitternde Auflegen der rechten Hand auf die Stirne, dieses langsame Auf- und Niederneigen des Kopfes, dieses Nachschleifen der Füße beim schwankenden Gange, – auch dies war im Grunde Natur, nur unterstrichen, perspektivisch berechnet. Aber nun: Was er sprach und sang!
Es war so eine Soloszene, wißt ihr: Monologe mit Gesangseinlagen wechselnd; man kennt das ja; diese Geschichten sind eigentlich nicht mehr modern; ein paar haben sich indessen sogar auf der großen Bühne erhalten. Aber Stilpe hat, ich sage es ohne Überschwänglichkeit, ein Kunstwerk daraus gemacht. Ich wäre auch ergriffen zwischen Lachen und Grausen hin- und hergeworfen worden, wenn kein persönliches Interesse mitgewirkt hätte.
Er kam langsam, ruckweise schwankend aus der linken Coulisse und bewegte sich im Zickzack, scheu sich umsehend, nach einer Bank rechts. Wie er sich auf die hinfallen ließ, wie er den Cylinder müde abnahm, sich durch die Haare fuhr und nun mit einem leeren, ängstlichen Blick rund im Zuschauerraum herumsah, das war für mich schon ein Eindruck, wie ich ihn selten von einer Bühne herab gehabt habe. Plötzlich kicherte er, bückte sich und hob einen Zigarrenstummel auf, griff dann lässig an sich herum, fuhr suchend in die Taschen, zog die Hände resigniert heraus und sagte dann leise vor sich hin: Ja, Feuer! Is nich!
Wieder ein paar Blicke im Kreise. Dann plötzliches Aufrichten und im Vorwärtsschreiten das Bemühen, nicht zu schwanken, sondern anständig, mit Würde zu gehen. Und nun, an der Rampe, eine höfliche Verbeugung vor dem Baßgeiger und im Tone vollendeter Höflichkeit mit gebrochener Stimme: Dürfte ich Sie um etwas Feuer bitten, werter Herr?
Er erhält ein Streichholz, verbeugt sich wiederum sehr höflich und zündet sich den Stummel an; stößt die Tabakwolken mit Genuß von sich, betrachtet den Stummel mit Zärtlichkeit, lächelt und sagt: Sie müssen nämlich wissen: Ich bin auch Künstler!
Der Baßgeiger sieht ihn fragend an.
– Ach nein, so schön geigen kann ich nicht. Nein. Aber – dichten! Haben Sie keine Kindtaufe in Aussicht? Ich machs billig. Wenn nur vom Essen was übrig bleibt . . . Dies sehr demütig, traurig.
Aber auf einmal wird er wild und fängt an zu schimpfen: Auf das Gesindel, das Geld und kein Talent hat, auf alle, die ihn verachten, weil sie Kameele sind, während er ein Genie ist u. s. w. – Ich sage euch: Ein fabelhafter Ausbruch mitten in den johlenden Mob hinein, der sich königlich zu amüsieren anfängt, während der Dichter, an der Rampe hin- und herrennend wie ein Eisbär im Käfig, Zorn, Wut, Verachtung nach allen Richtungen schleudert.
Ich hatte die Empfindung, daß Stilpe dies alles improvisierte.
Dann fiel er wieder in den demütigen Ton und bat um Verzeihung und ein Glas Gilka. Nachdem ihm dies hinaufgereicht worden war und er es mit der Hast eines Verdurstenden hinuntergestürzt hatte, erklärte er, nun wolle er auch nicht so sein und seinerseits etwas zum Besten geben. Und er begann im Schauerballadenstil sein Leben, das Leben des verkommenen Genies, herunterzusingen.
Es war einfach grausig, sag ich euch, wie er immer sich selber als zweite Person behandelte und gleichsam mit dem Stocke auf sich wies, wie die alten Jahrmarktsmorithatensänger auf die warnenden Exempel. Dabei stellte er in großen Zügen wirklich sein eigenes Leben dar, natürlich grotesk verzerrt und mit burlesken Beigaben. Aber ich habe dieses sein Leben nie mit so greller Deutlichkeit erkannt, wie während dieser Ballade, die überdies als parodistische Leistung ein Leckerbissen zu nennen ist. Am Schlusse immer der Kehrreim:
O lockert eure steinernen Geberden! Ich bin ein Lump und ihr könnt Lumpe werden. Seht dieses Fleisch und schlotternde Gebein, Jetzt sauf ich Gilka und einst soff ich Wein. |
Nachdem er die Ballade zu Ende gesungen hatte, trat er unter johlendem Beifall ab. Der Beifall hielt an, und er erschien wieder, trat ganz an die Rampe vor und sagte: »Übrigens haben Sie mich vorhin gestört. Ich bin nicht hier hergekommen, Ihnen was vorzuflöten.« Dann ganz leise: »Es ist doch kein Schutzmann unter Ihnen . . .? . . .« Rufe aus dem Publikum: Ih wo! – Stilpe: »Ich . . . ich . . . möchte mich nämlich erhängen.«
Ihr werdet es kaum glauben, aber das wurde in einem Tone gesagt, daß selbst dieses Publikum erschrak. Aber nun schlug Stilpe eine Lache auf: Sie denken wohl, das ist unangenehm? Im Gögenteil! Ich habe mir sagen lassen, man erlebt da seine schönsten Sachen alle noch einmal. Jotte nee, was ick mir auf Laura'n freue!
Und jetzt folgte ein bockiges Herumstolzieren mit vorgestrecktem Bauche, eine laszive Szene ohne Worte, die in mir direkt den Staatsanwalt wachrief. Gemein! Gemein!
Das Publikum wand sich vor Entzücken. Stilpe aber hielt plötzlich inne und rief: Aber wissen Sie denn auch, warum ich mich erhängen will?
Und nun folgte, ich kann es nicht anders nennen, eine Dissertation über den Selbstmord. Und zwar so, daß er erst alle möglichen gewöhnlichen Selbstmordgründe ablehnte, um schließlich als einzig zwingenden und berechtigten Grund den anzuführen: Es giebt kein Getränk mehr, das mich umbringen könnte, drum muß ick mir selber umbringen.
Nun zog er den Strick hervor und sang ihn als »Schnaps der Schnäpse« an. Während der Schlußstrophe warf er den Strick um einen Laternenhaken, und während der Vorhang fiel, legt er sich den Strick um den Hals.
Ich atmete auf, wie der Vorhang unten war. Das Publikum aber klatschte wie besessen. Nach einer Weile hob sich der Vorhang wieder, und ich sah, daß die Originalität unseres verflossenen Freundes auch als Tingeltangelsänger keine Grenzen kennt: Der Dichter hing an der Laterne und sang, ungeachtet des Einspruchs der Naturgesetze, in dieser Situation, röchelnd und nach Luft schnappend, sein Schwanenlied, eine schauerliche Mischung von Grausen, grotesker Komik und Cynismus. Dann ein letztes Schlenkern mit den Beinen, die Zunge weit heraus, dem Publikum entgegengestreckt, – der Vorhang fiel. So oft er sich wieder unter dem Beifallgewieher des Publikums hob, sah man den Dichter am Laternenpfahl hängen und mit herausgestreckter Zunge den grinsenden Kopf dankend verneigen.
Scheußlich! Scheußlich! werdet ihr sagen, und ihr habt ganz gewiß recht, aber ich wiederhole es: Was in meiner Darstellung blos widerlich wirken kann, machte von der Bühne herab, ich muß es bekennen, in der Hauptsache auf mich doch den Eindruck von ergreifender Kunst, schauderhaft verirrter, gottsträflicher, infamer Kunst zwar, aber ich wäre nicht im Stande gewesen, etwa inmitten dieser schauerlichen Frivolitäten aufzustehen und fortzugehen. Alles in mir empörte sich, aber ich war gefesselt.
In jedem anderen Falle wäre ich nun freilich jetzt weggegangen, zumal, da auf diese pièce de resistance des Nordlichtes nur noch die ausgesungenste aller Chanteusen folgte, aber mich verlangte es, Stilpe nun auch »in Civil« zu sehen.
Wie muß der Mensch, der aus seinem Leben einen solchen grausigen Clownwitz zu machen im Stande ist, aussehen, wie muß er sich benehmen, wenn er mir gegenüber steht, der ihn aus Zeiten her kennt, wo es trotz Allem doch eine solche Perspektive auf das Ende nicht gab!
Ich schickte ihm meine Karte hinter die Bühne. Nach einer Viertelstunde erschien er, die Vorstellung war mittlerweile durch den üblichen Galopp geschlossen, an meinem Tische.
Unglaublich! Er geberdete sich wenigstens ganz wie früher.
– Willst Du mich verhaften, Staatsanwalt meiner Seele? Wieviel Jahre stehen auf den Bauchtanz meiner Prägung?
Ich hatte Mühe, ihn von diesem Stil abzubringen. Ganz hat er ihn überhaupt nicht aufgegeben. Das Endresultat, was ich euch zu vermelden habe, ist dies: Stilpe erklärt, sich recht wohl zu fühlen, wenngleich es ihm nur in den seltensten Fällen noch gelingt, sich zu betrinken. Als Entschädigung für diesen beklagenswerten Umstand bezeichnet er die »glorreiche Thatsache«, daß er endgiltig darauf verzichtet habe, in die Literaturgeschichte zu kommen.
– Literatur? Pf! Das Tingeltangel ist die Kunst der Zukunft. Übrigens hat meine Orgel blos noch eine Pfeife. Sonst? . . . Na, mein Junge, wenn alle Pfeifen schweigen, – die Heilsarmee leckt alle Finger nach mir. Ein bischen religiös komm ich mir überhaupt manchmal vor. Wer weiß . . .? . . . Wer kann wissen . . .? . . . Überhaupt . . . der liebe Gott! . . . Na . . . einstweilen halten wir mal die Fahne hoch . . . Aber nicht wahr: Meine Nummer is gut!?