Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Ich rate Dir, mein Junge, Bewahre Deine Zunge Und hüte Deinen Magen Vorm Obste, wenns noch grün. Schwer ist es zu vertragen, Es macht Verdauungsmühn Und anderweite Plagen. |
Aus Stilpes Maximen und Reflexionen.
– Was ist denn das? Schämt ihr euch nicht? Obertertianer, die sich wie die Quartaner balgen! Laßt los, sag ich! Stilpe, wenn Du noch einmal zuschlägst!
Der stämmige Turnlehrer Stürz kam in mustergiltigen Sätzen hinter den Kletterstangen hervorgesprungen zum zweiten Reck, wo die Obertertianer der leipziger Thomasschule mit Kennermiene um einen lebendigen Knäuel herumstanden, der sich bei den gellenden Rufen des Turngewaltigen langsam entwickelte und als dessen Bestandteile sich unser Freund Stilpe nebst seinem Klassengenossen Girlinger präsentierten.
– Was hats gegeben? In einem Vierteljahr soll man euch siezen, und jetzt wälzt ihr euch in der Lohe wie die kleinen Jungen. Wollt ihr euch nicht wenigstens gefälligst entschuldigen? Wer hat angefangen?
– Stilpe. Er hat mich geohrfeigt. Da hab ich ihm einen Magenstoß verabreicht.
Girlinger sagte das mit der Ruhe eines Statistikers, obwohl ihm die Nasenflügel noch vor Zorn bebten. Es war ein schmächtiger, schwarzhaariger Bursche mit ungemein lebhaften Angen, einer reichlich großen aber schmalrückigen und schön geschwungenen Nase und einem Anflug von Schnurrbart.
Stilpe machte sich nicht gut neben ihm. Er war dicker, stämmiger und hatte etwas von einem Bulldogg. Seine Lippen waren aufgeworfen wie bei einem Kalmücken, seine Nase hatte gleichfalls die Tendenz nach oben, seine Augen waren klein und wässerig blau. Dazu schwarzes, starres Haar, das zu weit in die Stirn ging und ein paar Wirbel zu viel hatte, und Pockennarben übers ganze Gesicht.
Der kleine Willibald hatte sich beträchtlich verändert, bis ers zum Obertertianer gebracht hatte. Selbst seine gute Mutter fand, daß er ein bischen »zu charakteristisch« geworden wäre, wie sie sagte. Auch ohne die Pockennarben wäre er kein Adonis gewesen.
Dazu trug er sich recht sonderbar. Etwas wildwestartig und nicht eben sorgfältig. Ein schwarz karrierter Anzug, dessen Grundfarbe ein lehmiges Gelb war; dazu ein flatternder grüner Hängeschlips. Alles in einem liederlichen Zustande, der jetzt noch besonders zur Geltung kam, wo die Jacke durch die Balgerei einen Riß bekommen hatte.
– So, Stilpe! Also Du ohrfeigst den Primus Deiner Klasse. Natürlich, wer fast der Letzte ist, muß seinen Zorn an den besseren Schülern auslassen. Willst Du die Güte haben und sagen, wie Du zu dieser Lümmelei gekommen bist?
Stilpe kräuselte seine Oberlippe noch etwas nach oben und setzte ein sehr verächtliches Gesicht auf. Dabei zuckte er die Achselu und wischte sich die Lohe von den Kleidern.
– Also wirds bald!?
– Ich mag nicht denunzieren.
– Was magst Du nicht? Denunzieren sagst Du? Hört mal, leiht euerm Kameraden doch Heyses Fremdwörterbuch; er scheint nicht zu wissen, was denunzieren heißt.
Jetzt stampfte aber Stilpe mit dem Fuße auf:
– Ich weiß sehr wohl, was Denunzieren bedeutet, und gerade darum sage ich nicht, weshalb ich den Herrn Primus verdientermaßen geohrfeigt habe.
– Höre, Stilpe, jetzt wird mirs zu bunt. Mit Frechheiten kommst Du bei mir nicht durch. Wenn Du nicht auf der Stelle Antwort giebst, meld ich die Sache, und dann läuft sie übel für Dich ab, das weißt Du.
– Das weiß ich. Aber ich kann nicht antworten . . . d. h., wenn Girlinger mich vielleicht ermächtigt? . . .
– Ja, zum Donnerwetter, ihr seid wohl nicht recht . . . Girlinger, was ists!?
Girlinger machte eine bedeutende Geste und sagte mit kühler Gelassenheit: Stilpe hat meine Ermächtigung.
Diese ironische Ruhe brachte Stilpen ganz außer sich. Das war es ja überhaupt, was ihm am Primus so widerwärtig war, diese infame Ruhe und Gleichmütigkeit. Girlinger war der Einzige in der Klasse, der ihm imponierte, der Einzige, mit dem er »über Dinge« sprach, aber immer endete es auf seiner Seite mit Wutausbrüchen, weil dieser sich nie dazu herbeilassen wollte, warm zu werden. Er, Stilpe, fuhr immer mit Kanonen auf, und Girlinger that so, als könne er alles mit seinem Taschentuch wegwedeln.
Also Stilpe brach wütend los:
– Gut! Wenn er mir's schon gestattet . . . Gut! Ich habe ihn geohrfeigt, weil er Bismarck beleidigt hat!
Ein schallendes Gelächter brach los. Auch der rotbärtige Stürz lachte.
– Ah, eine politische Ohrfeige! Ja dann, meine Herren, bin ich nicht kompetent. Das gehört vor den Reichstag. Wir wollen einstweilen im Klimmzug fortfahren.
Stilpe hätte in die braune Lohe greifen und sie dem Turnlehrer ins Gesicht schmeißen mögen. Jede Strafe wäre ihm willkommen gewesen, aber dieser Hohn traf ihn schmerzlich. Er wurde blaß vor Zorn und ballte die Fäuste.
Aber auch Girlinger war blaß geworden. Dieses Gelächter traf ihn mit. Er fühlte sich plötzlich mit Stilpe auf der einen und alle Andern auf der andern Seite.
Als die Turnstunde aus war, und die Schüler truppweise nach Hause gingen, trat er auf Stilpe zu.
– Du, Stilpe, wenn Du wieder mal roh werden willst, dann such Dir wenigstens eine Gelegenheit, wo wir alleine sind. Oder gefällt Dirs, wenn die Bande sich über Dich amüsiert? Mir gefällt so was nicht.
– Mir auch nicht. Ich möchte ihnen Allen in den Bauch treten. Elende Hunde Alle miteinander, und zumal dieser Turnpauker. Herrgott, na . . .! Übrigens, was willst denn Du bei mir? Ich denke, ich bin ein desolater Reaktionär?
– Ach, laß doch das. Wir können uns doch unterhalten, wenn wir auch verschiedener Meinung sind. Wir sind ja doch die Einzigen, die überhaupt Meinungen haben. Oder willst Du Dich vielleicht mit Pahlmann über Bismarck unterhalten? Oder mit Schirmern? Oder mit Cohn? Die Drei haben vorhin am lautesten gewiehert.
– Ach was, ich geh kneipen.
– So. Ich geh nach Hause.
– Das wußt ich vorher. Du bist ja der solide Knabe Primus. Weißt Du, wie eine Kellnerin aussieht?
– Das interessiert mich nicht.
– Dafür interessiert Dich dieser Schweinehund, der Lassalle.
– Gott, Stilpe, der Mann ist höchstens ein Schweinehund gewesen. Er ist nämlich schon seit einer ganzen Reihe von Jahren tot.
– Ach! Willst Du mir nicht die Jahreszahl nennen? Weißt Du, was Du bist? Ein Protz bist Du! Bildst Dir wunder was ein, daß Du ein bischen mehr von solchen Sachen weißt wie ich. Wenn mein Vater Staatsanwalt wäre und solche Bücher hätte, könnte ich auch Sozialdemokrat sein, d. h., wenn mir das nicht zu niederträchtig wäre.
– Ich kann Dir sie ja zu lesen geben. Das ist gescheidter, als mit sechzehn Jahren in Bumskneipen zu gehn.
– Bumskneipen? Du sagst Bumskneipen? Du meinst also, diese Mädchen sind gemeine Frauenzimmer? Wahrhaftig Du, ich sage Dir, es giebt nichts Reineres und Schöneres als z. B. Martha.
– Was geht mich denn Deine Martha an?
– Du hast doch Bumskneipe gesagt! Wie kommst Du denn dazu, jemand zu beleidigen, den Du nicht kennst? Aber Du ziehst eben alles Edle in den Staub. So machst Dus mit Bismarck und so mit Allem. Du kannst nichts als kritisieren und nörgeln. Alles Ideale ist für Dich blos dazu da, es ironisch schlecht zu machen. Man könnte Dich für einen Juden halten, und Du liest auch blos Juden. Ewig mit Deinem Börne und Lassalle und diesen andern Mauschelmeiern, diesen ekelhaften Kerlen, die eine Schande für das deutsche Vaterland sind! Pfui!
– Aber Du kennst ja nicht ein Wort von Börne und Lassalle! Lies sie doch mal! Lies doch mal Börne! Schimpf doch nicht über das, was Du nicht kennst. Das sind ja alles blos Phrasen.
– Hast Du nicht Bumskneipe gesagt? Kennst Du denn die Martha? Kennst Du denn das Lokal? . . . Weißt Du was: Komm jetzt mit hin, und dafür will ich dann Börne lesen.
– Ach Gott, das ist mir so unangenehm, ganz abgesehn davon, wenn wir geklappt werden.
– Herrlich! Da haben wir den Revolutionär! Feige bist Du, wie diese ganze Judenbande, die auch blos das große Maul haben.
– Mach Dich nicht lächerlich. So mutig bin ich schließlich auch, abends, wenns dunkel ist, in so ein Loch zu kriegen, wo doch kein Pauker hinkommt.
– Also komm mit!
– Blos, damit Du siehst, daß ich nicht feig bin. Aber dann liest Du auch Börne!
– Mein Ehrenwort, Girlinger, meine rechte Hand! Komm! Es sind blos ein paar Schritte. Paß auf, Du wirst ein Mädel kennen lernen . . .!