Otto Julius Bierbaum
Stilpe
Otto Julius Bierbaum

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Drittes Kapitel.

Nicht lange nach dieser herbstlichen Gartenscene wurde Willibald Stilpe, im Alter von 16¾ Jahren, von seiner Mannheit entbunden.

Damit ging eine merkliche Veränderung in ihm vor. Er bekam etwas Renommistisches, Überhobenes und trug eine Verachtung seiner Klassengenossen, Girlinger eingeschlossen, zur Schau, die sich von der, die er schon immer gezeigt hatte, deutlich unterschied. Früher war darin etwas Erzwungenes gewesen, als sei er sich doch nicht völlig klar über seine Berechtigung dazu, jetzt hatte sie etwas sehr Entschiedenes, sehr Selbstbewußtes. Er trat diesen Obertertianern gegenüber, wie ein Mann, der von einer Reise in unbekannte Länder nach Hause zu Leuten kommt, die noch nicht den Äquator überschritten haben:

– Ist es sehr heiß in den Tropen?

– Es macht sich.

– Sind die Schlangen wirklich so lang und dick und giftig?

– Ach ja.

– Sie sind doch nicht gebissen worden?

– Ein bischen.

– Wie? Und wieder kuriert?

– So ziemlich.

Schade, daß er nur mit Girlinger darüber reden konnte. Dem setzte er aber dafür auch tüchtig zu, und es machte ihm unverhohlenen Spaß, daß dieser so wißbegierig war. Er flunkerte auch ein bischen und gab mehr tropische Abenteuer zum besten, als er erlebt hatte.

Aber auch ohne die Flunkereien hätte er dem Freunde imponiert. Es gab jetzt etwas, worin er dem weisen Primus über war.

– Weißt Du, da helfen Dir alle Deine Bücher nicht hin. Und übrigens: Wie willst Du denn ohne das Deinen Schopenhauer verstehen? Und dann die Dichter!

Er dachte dabei vornehmlich an Heine und den Tannhäuser in Rom, der zu seinem Brevier und Muster wurde.

Denn jetzt fing er an, aus dem Vollen zu dichten und zwar mit dem Bewußtsein, ein Dichter werden zu wollen und nichts andres.

Die Schule wurde ihm dabei immer widerlicher, und er schwänzte sie mit großer Frechheit.

Seine Pflegeeltern, denen er von Stilpe-Vater übergeben worden war, weil dieser deutlich fühlte, daß jeder andre ein besserer Pädagoge sei, als er, waren gute Leipziger Mittelstandsleute, die, mit Stilpes Mutter entfernt verwandt, den jungen Gymnasiasten aus Gefälligkeit aber nicht mit der Meinung aufgenommen hatten, daß hier besondere Aufsicht und Wachsamkeit nötig sei.

Der alte Wiehr hatte einen Porzellanladen am Markte, der ihn ausschließlich beschäftigte, und seine Frau ging in der Hauswirtschaft und zahlreichen Kaffeekränzchen auf. Ihr einziger Sohn war ein zarter junger Mensch gewesen, bleichsüchtig und solide, nicht sehr begabt, aber fleißig; er war gestorben, als er in Stilpes Alter gewesen war. Die Alten sahen in Willibald dessen Fortsetzung und behandelten ihn wie jenen, nämlich mit vollendetem Zutrauen und vollkommener Ahnungslosigkeit. Dies wurde durch Stilpes mimische Kunst, sich wie ein Lamm zu benehmen, unterstützt.

So hatte er eigentliche vollkommene Freiheit, und es fehlte ihm, um mit dieser Freiheit so viel anfangen zu können, wie er wünschte, nur an Gelde.

Leider machte sich dieser Mangel, seit sich Martha »verändert hatte,« viel fühlbarer als früher.

Ein geradezu lächerlicher Gedanke, jetzt mit den fünf Mark monatlichem Taschengelde auszukommen. Man mußte, da eine regelrechte Erhöhung des Budgets außerhalb jeder Möglichkeit lag, auf Extraordinaria sinnen.

Da fing denn der junge Mann zunächst klein und bescheiden an. Er durchmusterte seine Bibliothek.

Nun, da fanden sich ja einige Sächelchen, die vom Überflusse waren: Alle die überwundenen Standpunkte der durchlaufenen Klassen, wie sie sich in alten Grammatiken, Lehrbüchern, Schulausgaben, Gesangbüchern verkörperten, und dazu des Knaben Willibald Belletristik: Der Lederstrumpf, verschieden Walter Scott-Romane, »für die Jugend« bearbeitet, eine »ausgewählter Goethe« (fahr hin, Castrat! rief Willibald) und Anderes mehr.

Diese Literatur überlieferte Stilpe einem alten verwachsenen Antiquar, der in einem Durchgange von der Petersstraße zum Neumarkt seine Bude hatte.

Herr Wopf war ein wunderlicher alter Bursche, ausgestattet mit einer sehr schönen Meerschaumpfeife, einer sehr großen, üppigen und noch jungen Gattin und einer eminenten Rundschrift, mit der er die Neuerwerbungen seines Lagers in gewaltig großen Zügen auf Pappendeckel schrieb, die wie die Ahnentafeln vor chinesischen Tempeln rechts und links seiner Ladenthüre standen. Außerdem besaß er noch eine verworrene Menge von Literaturkenntnissen und eine erstaunlich tremolierende Stimme, mit der er Passagen aus seinen Büchern vorlas, um diese seinen Kunden begehrenswert erscheinen zu lassen. Wegen dieser Gabe des rollenden Rezitierens nannten ihn Stilpe und Girlinger den Deklamator.

Stilpe liebte ihn direkt und sah in ihm den Helden seines ersten Dramas. In wiefern Herr Wopf den Anforderungen an einen dramatischen Helden entsprach, das war ihm freilich unklar, ging ihm aber auch nicht nahe. Sicher war nur, daß die üppig blühende Gattin, die früher scheuern gegangen war, die Rolle der Ehebrecherin haben mußte. Sich selbst dachte Stilpe als den Galan, doch stellte er sich in dieser Thätigkeit etwas älter und als berühmten Journalisten vor. Die Hauptscene, der Drehpunkt des Ganzen, stand schon fest, aber nur im Kopfe, denn, und dies gilt für die meisten dichterischen Pläne Stilpes in dieser und späteren Zeit: Er kam selten dazu, seine Entwürfe in Tinte umzusetzen.

Schade übrigens, daß Stilpe diese Szene nicht ausgeführt hat. Sie war höchst verwegen naturalistisch gedacht und sehr geeignet, Ärgernis zu erregen, – ein poetischer Zweck, der dem revolutionären Obertertianer ziemlich deutlich vorschwebte, obwohl seine Verwegenheit nicht bis zur Phantasmagorie einer Drucklegung ging. Sie sollte sich direkt in Wopfs Ehebette abspielen.

Girlinger hatte Einwendungen dagegen, vornehmlich vom Standpunkte der Bühnenmöglichkeit aus. Aber da kam er bei Stilpe übel an:

– Bühne!? Du sagst Bühne! Was geht mich denn die Bühne an? Ich pfeife auf die Bühne. Glaubst Du, ich will mich neben Herrn Blumenthal stellen?

– Nein, aber neben Schiller.

Ach, Schiller!

Dieses »Ach, Schiller!« ist um die Zeit, in der Stilpe sein Wopf-Drama plante, auch sonst noch manchmal ausgesprochen worden. Wer es mit dem Phonographen aufgefangen hätte, könnte sich heute damit auf den Jahrmärkten hören lassen.

Übrigens war der Deklamator Stilpen in erster Linie doch nicht als dramatischer Held, sondern als zahlungsfähiger Bücherkäufer wichtig. Zwar, er zahlte niederträchtige Preise und verdiente schon deshalb, dramatisch als Hahnrei angemacht zu werden, aber er nahm wenigstens Alles, und in schwierigen Augenblicken gab er auch Vorschüsse auf später zu verkaufende Bücher.

– Nächstes Ostern brauche ich meinen alten Cicero nicht mehr; können Sie mir 1 Mark 50 drauf geben?

Der Deklamator durchblätterte das dicke Buch und blies seinen Tabaksrauch wie desinfizierend hinein.

Quousque tandem, Catilina, abutere patientia nostra! Haben wir auch gelesen! Wie lange noch, Herr Liebknecht, wollen Sie uns mit Ihren Reden mopsen? Fünfundsiebzig Fenge, Herr Stilpe.

– Nee, mein Lieber, eine Mark doch mindestens. Der Schmöker kostet neu ja fünfe, und er sieht doch noch ganz jungfräulich aus.

– Fünfundsiebzig Fenge, Herr Stilpe! Und übrigens: Wenn Sie nu sitzen bleiben und die Catilinarischen noch ein Jahr lesen müssen?

– Na, hören Sie mal, das find ich stark! Sie halten mich wohl für ein Kameel? Also gut, her mit den fünfundsiebzig, Sie Jude.

Der Deklamator zog seinen Beutel und fischte das Geld heraus. Dann notierte er sich das Geschäft in sein Notizbuch, wo eine Seite in tadelloser Rundschrift überschrieben war: Herr Stilpe.

Leider hielt die Bibliothek der Jugendzeit nicht lange vor, und es war das Bücherverkaufen überhaupt ein etwas bedenkliches Geschäft, weil Stilpe dabei doch zuweilen den Deklamationen des Herrn Wopf unterlag und für seine alten Bücher andre mit in Zahlung nahm. Zwar verkaufte er die gewöhnlich ein paar Wochen später zurück, aber es versteht sich, daß ihm der Deklamator nicht so viel zahlte, wie er sich hatte zahlen lassen.

– Se machen ze viel Randbemerkungen in de Bücher, Herr Stilpe. Und, sehn Se, wenn de Marginalien auch sehr geistreich sin, wie z. B. hier gleich zweimal hinterenander: Quatsch! Quatsch!, so verliern Se de Bücher doch dadurch an Wert.

– Was!? Warten Sie nur, Herr Wopf, warten Sie nur! Wenn ich mal berühmt bin, dann verdienen Sie ein Vermögen mit meinen Autogrammen. Ich sage Ihnen: Heben Sie sich die Bücher auf!

– Sie närrscher Kunde! Wenn Se nu aber nich berihmt wer'n? –:

Schon Manchen sah ich mit erhobnem Haupt
Im Lenz der Jugend mit den Sternen spielen,
Der, als das Alter ihm den Kranz entlaubt,
Froh war, nach Kegeln auf der Bahn zu zielen.

Schiem Se Kegel, Herr Stilpe? Das is enne sehr gesunde Übung!

– Nee, aber fünf Mark können Sie mir pumpen.

Der Deklamator zog sein Notizbuch: Sehn Se mal her, Herr Stilpe. Jetzt ha'm Se schon acht Mark und fuffz'g Fenge prae! Jede Nacht treim ich, Se blei'm m'r sitz'n. Nee, pumpen kann ich Se nischt.

Also mußte Stilpe auf Anderes denken. Ein Glück, daß er nicht ohne Erfindungsgabe war.

Bald wurde für ein Ehrengeschenk zum Doktorjubiläum des Ordinarius gesammelt.

Dann hatte er eine Fensterscheibe in der Klasse zerschlagen.

Sehr oft drängte es ihn, eine Klassikervorstellung im Theater zu besuchen.

Ein Kamerad war gestorben, ein sehr guter Freund von ihm: Da mußte ein Kranz her.

Unendlich häufig mußten Bücher gebunden, Hefte gekauft, neue Schulausgaben angeschafft werden.

Aus Versehen hatte er Tinte über den Atlas seines Nachbars gegossen. Ein ekliger Kerl, wie der war, wollte er ihn ersetzt haben.

Es war erstaunlich, wie leicht ihm die Lügen fielen. Er schmückte sie sogar mit ersichtlichem Vergnügen novellistisch ans. Erzählte z. B. die ganze Lebensgeschichte des jubilanten Ordinarius, ahmte ihn nach, führte eine ganze Komödie von ihm auf – Alles freieste Erfindung; und das Ehepaar Wiehr wollte sich ausschütten vor Lachen.

Aber auch diese kleinen Mittel halfen nicht auf die Dauer. Stilpe starrte ins Leere und fand nichts.

Da überfiel ihn ein Gedanke, vor dem er selber erschrak: Die Ladenkasse . . .

– Aber nein, pfui Teufel, das ist ja eine Gemeinheit! Weg damit! Lieber diese Sumpfereien da sein lassen. Es ist überhaupt widerlich . . .

Lieber arbeiten! . . . Wieder mehr mit Girlinger disputieren! . . . Ja, und endlich das Drama schreiben!! . . .

Und gleich holte er ein Heft aus dem Schubkasten und schrieb darüber:

Der Hahnrei

Sittentragödie

in . . .

Ja, wieviel Akte mache ich!? Natürlich nicht fünf! Denn das ist banal. Vielleicht vier? Vier? Bei dem Stoff? Nein! sechs Akte! Also:

in 6 Akten

Und nun die Personen:

Schopf, ein buckliger Antiquar
Clara, seine Frau
Walter Wild, ein berühmter Journalist

Wen denn noch? Girlinger? Ja!:

Wirlinger, ein Agitator.

Das ist famos! Sozial! Und nun:

Volk, Arbeiter, Studenten, . . . .

Nein! Erst noch eine Hauptperson!:

Martha, eine Prostituierte.

Ah! Das giebt was! Da haben wir den Konflikt! Ganz von selber kommt immer das Beste. Natürlich: Martha! Das ist die Retterin! Sie opfert sich! Am Schluß bricht eine Revolution aus!

Er kam ganz ins Fieber. Die Prostituierte als Retterin! Schopf als Typus des krämerischen Bourgeois. Walter Wild der Idealist. Clara das verführerische Weib. Wirlinger der dämonische Volkstribun. Und am Schluß die Revolution!

Er schrieb gleich die Schlußszene; ungeheuer wild und natürlich blos so in Umrissen hingeklitscht wie mit der Maurerkelle. Glockenläuten. Kanonenschläge. Barrikaden. Brand. Marseillaise. Carmagnole. Martha im schwarzen Hemd mit der roten Fahne.

Aber auf einmal war Alles aus. Der Strom war vorbei geschossen. Es wollte nicht mehr fließen. Fortwährend drängte sich, schon bei diesen gewaltigen Hinpatzen der Farben, das Gefühl ein: Aber der erste Akt? Wieso denn Revolution? Natürlich muß sie kommen. Freilich! Aber: Wieso denn? Es muß doch irgendwie motiviert werden?! Und da blieb er stecken und kam nicht heraus.

Das Schlimmste war, daß er sich in seinem dichterischen Tumulte zu lebhaft mit Martha beschäftigt hatte.

– Ach, hols der Teufel! Ich geh hin! . . .

– Haha! Ich, mit meinen zwanzig Pfennigen! . . .

– Girlinger anpumpen?

– Ach der! Schöne Redensarten! Und dabei hat er Geld! . . .

. . . . . . .Die Ladenkasse . . .? . . .? . . .!

. . . . . . .Es ginge ganz leicht . . . Ich brauche blos 'nunter zu gehn . . . Wiehr sitzt auf dem Stuhl an der Thüre . . . Hinten auf dem Laden steht die Kasse, offen . . . Ich komme durch die Hinterthüre und stelle mich vor den Laden und spreche mit dem Alten . . . Und, während ich mit ihm spreche, halte ich die Hände auf dem Rücken und greife ganz einfach in die Kasse . . . Immer, während ich mit ihm spreche . . . Ich muß blos was Komisches erzählen . . . Oder, nein, sicherer, ich sage: Sehen Sie, Vater Wiehr, da wird Einer arretiert drüben, vor Aeckerleins Keller! Da stürzt er sicher gleich vor die Thüre . . .

Es wurde ihm unbehaglich heiß.

– Aber das ist ja doch niederträchtig! Das ist ja Diebstahl! Pfui Teufel! . . .

– Und, wenn sie's beim Abrechnen merken? . . .

– Unsinn! . . . Sie rechnen ja gar nicht ab, Philemon und Baucis! . . .

– Und schließlich, drei oder meinetwegen fünf Mark . . . Das fühlen Sie ja gar nicht . . .

– Überhaupt: Diebstahl! Mumpitz! Ich solls ja so mal erben! Lachhaft! . . .

– Ich kann's ja auch später wiedergeben, wenn ich selber Geld habe . . .

– Natürlich: Das versteht sich von selbst. Mit Zinsen! . . .

Und er stülpte sich seinen Hut auf und rannte hinunter.


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