Otto Julius Bierbaum
Stilpe
Otto Julius Bierbaum

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Siebentes Kapitel.

Im Allgemeinen fühlte sich der kleine Willibald doch recht wichtig mit seinen Geheimnissen, und den alten Buschklepper sah er von nun an immer nur so mit einem gewissen hohen Bedauern an.

Aber fatal war es ihm, daß er gar Niemand hatte, den er ins Vertrauen ziehen konnte.

Auch wie er mit seinen Altersgenossen in die Reihe der Großen kam, wo denn schon manchmal ein wuchtig Wort geredet wurde, fand er keinen, dem er hätte sagen mögen, was jetzt seine Ansicht vom Monde sei. Er war ja auch ohne daß mans ihm gesagt hatte dahinter gekommen, was darunter zu verstehen sei, wenn Einer dem der Schnurrbart erschienen ist, nächtlicher Weile auf dem Monde spaziert. Nur fand er, daß es auch ohne Schnurrbart ginge.

Denn er mit allen seinen Erfahrungen bekam sicherlich noch lange keinen.

Überhaupt, die Natur meinte es nicht gut mit ihm. Er, der nun schon konfirmiert werden sollte, in die Gemeinde der Gläubigen aufgenommen, sah um drei Jahre jünger aus, als er war; und das will in diesen Jahren sehr viel bedeuten, zumal bei Einem, der sich innerlich etwa drei Jahre älter fühlt, als er in Wirklichkeit zählt, also sechs Jahre älter, als er aussieht.

Das machte seine Stellung unter all den Jungen noch fataler. Die Großen hänselten ihn, weil er sie durch sein kleinjungenhaftes Aussehen gewissermaßen komprommittierte, die Jüngeren ließen es ihm zuweilen fast merken, daß sie ihn nicht ganz für groß ansahen, und er selbst fühlte sich dabei im Inneren sehr viel größer, als die größten unter den Großen.

Er zernagte sich förmlich vor Ingrimm und fing an, sich gegen alle Welt hochfahrend zu betragen.

Die meiste Zeit las er. Wahllos Alles, was ihm unter die Hände geriet. Die Gedichte des Lesebuchs kannte er auswendig, und es war sein Triumph, sich darin auf die Probe stellen zu lassen. Sonst fand er seine Lust in einem wühlenden Fabulieren. Während die Andern ihre Ballspiele trieben, lief er im Korridor auf und ab und machte sich zum Helden unmöglicher Verhältnisse. Ein unglaublicher Ritter war er auf einem ganz unglaublichen Pferde. Wenn dies Pferd wieherte, fielen die Wälder um, und wenn er blos sein Schwert hob, fielen die Köpfe von ganzen Armeen in den Sand. Aber, wenn die Obsthökerin kam, so schwanden alle Phantasieen, und so lange er was Süßes zwischen den Zähnen hatte, waren ihm seine Heldenthaten ganz gleichgiltig.

In der Schule taugte er wenig und am wenigsten im Rechnen. Aber Deutsch und Religion, das waren seine Gebiete. Er schrieb unorthographischer, als es den Ansprüchen seiner Klasse gemäß war, aber in seinen Aufsätzen war eine gewisse Art von Liebe am Ausdruck.

Ungemein oft kam bei ihm das Wort Gott vor. Gleichviel, was er zu schildern hatte: Den Bau des Maikäfers, die Schlacht bei Salamis, die Pflicht, fleißig zu sein, die Ferienreise, – immer lief Alles auf Gott hinaus.

Gott, das war ihm jetzt, was ihm Miokovitsch gewesen war, das schlechthin Große, Fabelhafte. Den alten Pastor, der ihm den Konfirmanden-Unterricht erteilte, setzte er in ewige Verlegenheiten.

Was ist Gott? fragte Pastor Schulze.

– Ein kolossales Wesen.

– Nicht doch, Stilpe. Wie heißt es im Katechismus?

Nun, das wußte er wol auch. Aber das genügte ihm nicht.

– Herr Pastor: Ist Gott größer als das Königreich Sachsen?

– Gott ist so groß, daß ihn menschliche Worte nicht ausdrücken können.

– Herr Pastor: Kennt mich Gott?

– Freilich, denn er kennt alle Dinge.

– Wenn ich bete, hört er mich?

– Freilich, freilich, und er freut sich, wenn Du betest.

– Wenn nun aber Rammer auch betet, wem hört er denn da zu, Rammern oder mir?

– Dir und Rammern und Millionen anderen!

– Aber vergißt er denn nicht manchmal was?

– Nie, Stilpe, er weiß jeden Laut und jeden Gedanken, selbst das Summen der Biene versteht er.

– Merkt er es auch, wenn ich nicht bete?

– Er merkt es und zürnt.

– Warum denn?

– Weil es Christenpflicht ist, zu beten. Erinnere Dich doch, was ich euch über das Beten gesagt habe.

– Ja, ja, ich weiß. Aber, wenn er mir nun nicht erfüllt, was ich bete?

– Schweig endlich und frag nicht unnütz. Du hast mir selber ja vorige Stunde ganz genau und gut geantwortet. Bleibe fest bei dem, was ich Dich lehre. Gott liebt die unnützen Frager nicht.

Aber Willibald konnte es nicht lassen, wenigstens für sich zu fragen. Zwar glaubte er felsenfest, was er im Katechismus gelernt hatte, denn es gereichte ihm zu großer Genugthuung, daß er durch solchen Glauben fähig werden sollte, in die Gemeinde der Gläubigen, was so viel wie der Erwachsenen hieß, aufgenommen zu werden, aber das war eine Sache für sich, das war etwas Feststehendes wie die Katechismusstunde im Stundenplan, das ging die Fragen eigentlich gar nicht an.

Er glaubte, weil es ja eine Schande gewesen wäre, nicht zu glauben, und weil er zudem in der Religion der Erste war.

Das Fragen war mehr ein Spiel mit Gott. Es ging ihm keineswegs tief. Es lief nicht auf Zweifel hinaus, wollte nicht etwa dahin kommen, daß plötzlich mal keine Antwort mehr da wäre. Nein, es geschah in der wunderbaren Zuversicht, daß man über Gott das Unmöglichste erfragen dürfe, und es würde doch immer eine Antwort kommen. Überdies war Willibald trotz aller Worte des Pastors davon überzeugt, daß er gerade durch seine Fragen Gott sehr interessant werden müsse, und er fing einen förmlichen Sport damit an, Alles in Beziehung zu Gott zu setzen.

– Wenn ich jetzt der Fliege ein Bein ausreiße, so ärgert sich Gott.

– Halt! jetzt werde ich so thun, als wollte ich ihr ein Bein ausreißen. . . . Was für ein Gesicht wird er da machen!

– Aber nein: Ich lasse sie fliegen. Jetzt freut er sich.

– Heute werde ich bei jedem Bissen, den ich in den Mund stecke, inwendig sagen: Ich danke Dir Gott! Und wenn ichs einmal vergesse, so will ich nicht weiter essen.

Aber er führte es nur bei der Suppe durch. Beim Braten vergaß ers bald und aß doch weiter: Die Andern habens ja nicht einmal bei der Suppe gesagt!

Christus interessierte ihn viel weniger, und der Heilige Geist gar nicht, obwohl er im Katechismus über sie ebensogut beschlagen war, wie über Gott. Es wäre ihm nie eingefallen, Christus etwa zum Orakel zu machen, wie ers mit Gott unzählige Male that, dem er die Entscheidung über die geringfügigsten Dinge ließ.

– Soll ich meine lateinischen Vocabeln noch einmal durchgehen? Ich zähle bis zwanzig, und wenn der Inspektor sich auf dem Katheder rührt, sagt Gott: Ja.

Aber, wenn sich der Inspektor rührte, so galt dies doch nicht sogleich, denn es mußte ein deutliches Rühren sein, und wenn er etwa bloß eine Hand erhob, so hatte Gott schon Nein! gesagt, und das Vocabularium wurde zugeklappt.

Es gab unter den Zöglingen auch einige Katholiken. Die verachtete Willibald unsäglich. Der Pastor hatte durchaus nicht eigentlichen Anstoß dazu gegeben, aber es genügte schon das Wenige, was er gesagt hatte, um Stilpe mit der Überzeugung zu erfüllen, daß sie mit seinem Gott nichts gemein hatten.

Unter den Jungen fehlte es nicht an Schimpfnamen gegen die katholische Minderheit. Die gebrauchte Stilpe selten oder gar nicht. Aber »so ein Katholischer« kam ihm innerlich wie aussätzig vor.

Da die meisten Katholiken unter den Schülern Ausländer waren, so erhielt dieses Gefühl der stillen Verachtung noch einen Beiton von Deutschgefühl. Darin war er auch sonst sehr stark. Ein »Bardenlied« von Willibald begann mit den Worten:

Wir Germanen schleudern mit Speeren
Nach Römern und nach Bären
Und trinken Meth!

Unter Meth stellte sich Stilpe etwas ungemein Süßes vor, das aber doch wie Lagerbier wirkte.

Alles in Allem hatte Gott nebst den allerlei anfliegenden Idealempfindungen von germanischen Urwäldern, Blücher, Kaiser Wilhelm, Moltke den Sinn Willibalds vom Monde etwas abgelenkt. Es war nur noch so etwas wie eine heiße Dehnung in ihm, ein Gefühl, gemischt aus unsagbarer Sehnsucht und angenirrender Furcht.

Er hätte jetzt nicht mehr den Mut gehabt, wie damals, als er Fliczek davonprügelte. Er fürchtete sich vor den Mädchen, sobald er einmal eine zu sehen bekam, und empörte sich dann über diese Furcht.

Aber manchmal geschah es doch noch, daß er an Buschkleppers Garten ging und seine Hände auf das Gartengeländer lehnte, starr nach der Laube hinüberlugend voll heißester, wirrester Wallungen.

Das stammelte er dann Alles in Versen über Thusnelda aus, die Gattin Armins des Befreiers.


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