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Man hat, denk ich, aus den Briefen des Battlings ersehen, daß Klein-Willibald, nicht ohne instinktive Lebenskunst, es verstanden hat, aus dem sauren Apfel, in den zu beißen er gezwungen war, nach Möglichkeit Süßes zu saugen. Er hat unbewußt nach einem Rezept gehandelt, das auch Erwachsenen häufig probat erscheint zur Aufhöhung des Lebens: er hat sich einen kleinen Heroënkult eingerichtet. Und, wie klug der kleine Bursche doch war! Er blieb nicht in der Ferne stehen und schwärmte platonisch, sondern er begab sich frohgemut und entschlossen in die Klientele seines Idols.
Die Gelegenheit, jetzt schon zu konstatieren, wohin sich das Häkchen krümmen will, wäre günstig, aber ich möchte dem Leser auch etwas zu thun geben und überlaß es also ihm, nachzumessen. Nur bitte ich, sich nicht gleich ein Schema zu machen. Des Menschen Seele ist manchmal schwankender als der Gang eines Betrunkenen durch einen Sturzacker. Aber: wie Sie wollen!
An mir ist es, weiter zu erzählen und zu sagen, daß Jung-Stilpe allmählich aus dem Stande eines Battlings in den nächst höheren eines Quarks emporrückte. Das heißt: Er wurde nun nicht mehr bloß geschunden; er durfte auch selber ein bischen mitschinden.
Es wäre nur menschlich gewesen, wenn er sich in diesem Zustande wohler befunden hätte, als in dem vorigen. Aber es war nicht so. Am Selberschinden fand er wenig Geschmack, und so entging ihm die tröstliche Genugthuung, die nicht blos im Freimaurerinstitut in Dresden-Friedrichstadt den meisten Menschen das Geschundenwerden erträglicher macht. Er hatte keinen Sinn für das Wohlthuende, das in der Möglichkeit liegt, von oben empfangene Püffe nach unten weiter zu geben.
Es thut mir leid, aber ich muß es feststellen: Er dokumentierte damit einen betrüblichen Mangel an Begabung für realistischen Lebensverstand. Die Strafe für diesen Defekt konnte nicht ausbleiben: Er fühlte sich jetzt elender als früher. Denn, während er sich die jetzt offenstehende Gelegenheit der Ableitung nach unten entgehen ließ, verringerte sich doch nicht seine Empfindlichkeit für die Stöße von oben. Im Gegenteil: Er empfand sie viel peinlicher. Denn er hatte an Kritik zugenommen. Die Großen standen ihm jetzt näher, und so erkannte er, daß allerlei Dinge an ihnen waren, die sie eigentlich nicht berechtigten, die Kleinen stolz und schlecht zu behandeln. Er sah, daß es keineswegs alle Helden waren wie der gepriesene Mio, es entging ihm vielmehr nicht, daß es unter ihnen Burschen von unzweifelhaft gemeinen Qualitäten gab. Von diesen sich schinden zu lassen, das hielt schwer und that ungemein weh.
Es kam für Jung-Stilpe die Zeit der ersten Zweifel an der zweckmäßigen und gerechten Einrichtung dieser Welt. Zehn Jahre erst alt, und schon mußte er an allerlei Warums nagen.
Warum darf mich Börner knuffen, da er doch unter den Großen als Feigling verachtet ist?
Warum darf mich Roscher Dummer Quark nennen, da es doch allgemein bekannt ist, daß er der Dümmste in seiner Klasse ist?
Warum darf ich den Bodemann nicht wieder ohrfeigen, da er doch schwächer ist, als ich?
Alles blos, weil ich noch ein Quark bin?
Ja, zum Teufel, warum thun sich die Quarks nicht zusammen und wehren sich? Wenn sie alle zusammenstünden und vielleicht noch die Battlinge heranzögen, so müßten sie die Großen, die ja viel weniger sind, unterkriegen!
Aber auf dieses Warum wußte er die Antwort. Die Quarks waren, bis auf wenige, zu denen er gehörte, Memmen, Gesindel. Sie machten es mit den Battlingen nicht besser, als die Großen mit ihnen, und untereinander knufften und pufften sie sich noch mehr, als sie von den Großen geknufft und gepufft wurden. Ganz sicher, wenn er es sich etwa einfallen ließe, gegen die Großen aufzumucken: Die meisten Keile würde er von den Quarks kriegen.
Das war eine böse Situation für den kleinen Stilpe, um so böser, als Mio ins Land seiner Väter zurückgekehrt war.
Die Umstände, unter denen sich dies Ereignis vollzogen hatte, waren nicht ganz normaler Natur: Herr Mio war geschaßt worden.
Warum? Der kleine Stilpe hörte was läuten, aber nicht zusammenschlagen. Es ging ein Munkeln durch die Jungens, als ob ganz Unerhörtes sich begeben hätte. Mio hatte etwas völlig Unsagbares gethan, etwas, wofür den Quarks und gar den Battlingen die Begriffe fehlten.
Gewiß etwas Großartiges, dachte sich Stilpe, und sein Held erschien ihm nun im Zauber des Geheimnisvollen noch gewaltiger. Ihn selber hatte er wohl gefragt, aber es war ihm wieder die Antwort vom Monde geworden:
– Die Pauker wollen nicht, daß man auf dem Mond spazieren geht und vorzüglich nicht mit ihren Töchtern.
Mit ihren Töchtern? Auf dem Monde? Welche furchtbaren Geheimnisse! Dem kleinen Stilpe rollte es gruselig, aber warm übers Rückenmark.
Er fühlte: Der Mond war blos ein Symbol, so wie der Herr Jesus Christ als Mittagsgast, aber die Töchter der Pauker, die waren reell gemeint.
Himmel, wer das Symbol vom Monde ergründen könnte?
Eine Paukerstochter fragen?
Pfui, wer wird sich mit Mädchen einlassen!
Jung-Stilpe war noch im Alter des Jungenstolzes, der im Mädchen etwas befleckend untergeordnetes sieht. Mädchen! Das kam noch weit hinter den Battlingen. Was das für jämmerliche Dinger sind! Höchst feige Geschöpfe. Also kein standesgemäßer Umgang für ritterliche Enkel der alten Germanen.
Aber Mio war trotzdem mit solchen Dingern »auf dem Mond spazieren gegangen«? Konnte Mio, der Held, etwas Unritterliches thun? Nie! Es mußte vielmehr etwas höchst Ritterliches gewesen sein.
Wer weiß: Vielleicht war eben das Spazierengehen auf dem Monde das einzig Ritterliche, das man mit diesen Wesen thun konnte.
Wenn man nur erst wüßte, was es wäre!
Mio hatte, als der kleine Willibald durchaus wissen wollte, was unter dem Mondspazierengehen zu verstehen sei, die Schonung seines Schnurrbartes gestrichen und mit einem sonderbaren Lächeln gesagt: Williwitsch, wenn ich dir das erkläre, schassen sie dich auch. Warte noch, bis dir so was wächst, und dann wirst du's von selber erfahren.
Mein Gott, wie geheimnisvoll! Es hing also mit dem Schnurrbart zusammen! Für Quarks war demnach der Mond durchaus unerreichbar, denn ein Quark mit einem Schnurrbart war undenkbar. Man mußte mindestens ein Strunk werden. Aber auch unter den Strunks war ein Schnurrbart, d. h. die erste Andeutung eines Anfluges davon, ein unerhörtes Wunder. Fliczek war der einzige unter den Strunks, der so etwas wie einen Flaum auf der Oberlippe hatte.
So wurde Fliczek das Idol.
Willibald machte sich an ihn heran. Er opferte Hekatomben von mütterlichen Pfannkuchen, ihn zu gewinnen. Schließlich gelang es ihm mit einem Osterfladen. Aber Fliczek war kein Held, kein Mio. Er aß den Osterfladen und würdigte Willibald seines Umgangs, aber es stellte sich heraus, daß dieser schnurrbärtige Strunk vom Monde einstweilen nicht viel mehr wußte als der schnurrbartlose Quark.
Also hing es vom Schnurrbart allein nicht ab.
Da wurde Willibald selber ein Strunk. Zwölf Jahre war er nun alt. Die Periode der wesentlich körperlichen Schindung mit Ohrenlangziehen, Andenhaarenreißen, Schellenkriegen war im allgemeinen vorüber. Die Drangsale fingen an, hauptsächlich seelischer Natur zu werden. Die Strunks, die nur die Großen noch über sich hatten, wurden von diesen nicht geprügelt, sondern verhöhnt.
So ein Strunk, das ist wohl was! Bildet sich vielleicht ein, daß er schon ein Großer ist? So ein Jämmerling! Hat noch kurze Hosen an und thut sich dicke! Vielleicht, weil er Selektaner ist? Weil er seinen Namen mit griechischen Buchstaben in alle Bücher schreibt? Ist was Rechtes! Ist doch noch ein kleiner Junge, mit dem man lange noch nicht über Alles reden kann.
Aber immerhin kamen die Selektaner unter den Strunks schon mit den Großen in einige Berührung. Da sie mehr Schularbeiten zu machen hatten, als die übrigen, durften sie mit den Großen eine Stunde länger aufbleiben. Diese Arbeitsstunde wurde, da die Inspektoren im Schlafsaal sein mußten, nicht ständig überwacht. Es kam nur zuweilen der Direktor, um nachzusehen, ob die Stunde nicht etwa ausgedehnt wurde, und um nachzuriechen, ob nicht geraucht worden war. Aber, wenn der Direktor Kegelabend hatte, war man sicher. Dann rauchte alles, auch die Strunks. Es gab sogar eine Wasserpfeife! Und wer gut turnen konnte, kletterte die Mauer hinan, ließ sich auf den Briefrasten hinab, sprang auf die Straße, lief ins Böhmische Brauhaus und holte Bier.
Ha, was für Gelage! Richtige, große Deckelgläser schwang man, und Lagerbier war drin! Da wurden die Großen vertraulicher. Aber Alles durften die Strunks doch nicht mitmachen. So, wenn ein Nachtscheuern war und die Dienstmädchen in den Corridors herumkicherten. Dann kicherten die Großen draußen mit, aber die Strunks mußten im Hofe und Garten Posten stehen.
Zweifellos: Das hing mit dem Monde zusammen. Freilich nicht im hohen Sinne des Miokowitsch! Der hätte nie mit Dienstmädchen gekichert, die den Scheuerlappen in Händen hatten.
So kam Jung-Stilpe ins dreizehnte Jahr, und seine Sehnsucht war vergeblich hinter dem Monde her und was dessen tiefster Sinn eigentlich wäre.
In der Schule ging alles passabel, bis aufs Rechnen; seine Mitstrunks achteten ihn als einen, der alles Verbotene kühn und heiter mitmachte und nie petzte, aber enge Freunde hatte er keine, weil er, wie die andern sagten, zu eingebildet war. In der That hielt er sich für reichlich dreimal so gescheid wie alle übrigen, wenn auch nicht gerade in den Fächern, die auf dem Stundenplane standen.
Daß er sich auch in die spezifische Geheimkunst der Knabeninstitute einführen ließ, bedarf nicht besonderer Erwähnung. Er übte sie aber noch ohne jene Perspektive, die erst aus der Erkenntnis vom Wesensunterschiede der Geschlechter erwächst. Indessen: Es liegt in der Natur dieser bedenklichen Kunst, daß sie den Hunger nach jener bedenklichen Erkenntnis weckt. Oh, die Augen Willibalds damals! Was wollten sie nur, daß sie zuweilen so weit offen und starr waren, glühten und glosten, flackerten und sich weiteten . . .?
Wirklich, meine werten Herren Pädagogen, es genügt nicht, mensa abzufragen und den Jungens auf den Zahn zu fühlen, ob der peloponnesische Krieg fest sitzt, – Sie müßten ihnen auch manchmal in die Augen sehen. Sie, die Sie mit unfehlbarer Sicherheit jedes Jota subscriptum aufstöbern, das zuviel geschrieben wird, sehen Sie denn nicht, daß da unten in diesem Auge ein häßlicher Wurm sitzt? Umgotteswillen, rotten Sie diesen Wurm aus, Herr Professor, er ist viel bedenklicher als zehn falsche Jota subscripta. Aber es ist mehr dazu nötig, als rote Tinte, und der Rohrstock thuts freilich nicht. Denken Sie blos an sich, und was alles Ihnen der Wurm weggefressen hat! Wie? Sie verbitten sich diese Verdächtigung? Ja, dann freilich!
Jung-Stilpe also, dreizehn Jahre alt, war bereits wurmstichig. Werden wir uns wundern, daß er in puncto puncti frühreif ward? Nun, es giebt viele solche Wunderkinder. Wir wollen uns nicht anstellen, als fänden wir das so verwunderlich. Oder wollen wir doch? Schön, wem es würdig dünkt, der thue seinem Herzen keinen Zwang an und entrüste sich. Hier stehe ich mit meiner ganzen Breitseite; es haben viele faule Äpfel Platz.
Also: Jung-Stilpe suchte mit sonderbaren Blicken nach jener Perspektive, die ihm noch fehlte. Da kam das, was wir den Zufall nennen, und was unsre Vorvordern den Teufel genannt haben, riß den Nebel entzwei und sagte leise und mit infam linder Stimme: Bitte, da!
Es kam so: Der Direktor hatte wieder einmal Kegelabend, und die Selektaner thaten sich gütlich an Alkohol und Nikotin. Sie waren alle bei einander, nur Einer fehlte, der mit dem Schnurrbart, Wenzel Fliczek.
Sie sitzen alle recht sorglos und im süßen Genusse des Verbotenen bei einander, da thut sich die Thüre auf und Fliczek schreit herein: Fenster auf! Lichter aus! Der Alte kommt übern Hof!
Dann, wie die Lichter ausgelöscht sind, flüstere er leise zu jemand Unsichtbarem hinter ihm: Schnell, da 'nein, unters Katheder!
Willibald war gerade daran, als Letzter zum Fenster hinauszuspringen. Da, aber, wie eigen das war, drehte es ihn um.
Was denn nur? Unters Katheder!
Er duckte sich dort in die Ecke.
Da, wie es raschelt! Und neben ihm, hart neben ihm drückt sich was Weiches.
Gott oh Gott! Was mag das sein! Wie warm! oh, und wenn tausend Direktoren kämen!
Die süße Angst!
– Wer bist denn Du?
– Sei doch stille! Der Direktor . . .!
Herrgott, wie weich und warm!
– Rem! Hm! Rem! – Es kommt den Gang herauf. Die Thüre schlägt.
– Rem! Hm! Rem! – Jetzt ist er wohl im Zimmer? Ja. man hört ihn ja schnaufen.
Willibald fühlte zwei Arme an seinem Hals und an seiner Seite ein drängendes Klopfen.
Gott, was ist das! Was ist das! Er kann nicht anders, er muß seinen Mund darauf drücken. Ah, ist das schön!
– Rem! Rem! Hm! Rem! – Die Thüre wieder zu. Schritte . . . fort . . .
Das Warme neben ihm bewegt sich. Die Arme lassen ihn los.
– Wer bist Du denn?
– Wer bist denn Du?
– Ich bin Stilpe aus der dritten Klasse.
– Laß mich doch los!
– Nein. Wer bist Du denn?
– So laß mich doch!
– Nein. Wer bist Du denn?
– Die Josephine.
– Buschkleppern seine?
– Ja doch! Laß mich doch!
– Du! Du!
Und er hängt sich fest an sie, und es ist ihm, als wenn er schwerer und größer würde.
– Aber so laß mich doch, ich muß fort.
Nein, er kann nicht loslassen. Er wühlt sich mit seinem Kopf in all das Weiche, Warme, was um ihn ist.
Da, jetzt hat er ihren Kopf in den Händen und drückt ihn mit aller Kraft.
– Du, das thut ja weh!
Aber sie geht nicht. Sie läßt sich noch eine Weile so halten. Dann kommen auch ihre Hände an seinen Kopf, und nun fühlt er ihr Gesicht an seinem.
Ach, wie die Lippen weich sind.
– Du beißt mich ja!
Himmel was ist das! Sie küßt ihn.
Gott! Gott! Gott!
Jetzt ist sie fort.
Noch eine Weile liegt er unterm Katheder. Dann taumelt er auf und rennt in den Schlafsaal. In seinem Bette weint er. Und stammelt ihren Namen. Schläft, naß von Thränen, ein.
Wie er am Morgen aufwacht, ist alles verändert nm ihn herum. Er möchte schreien vor Gefühl. Josephine! Josephine! Das ist der Mond! Das ist er!
Dann wird ihm angst. Er möchte fort. Ausreißen. Nach Hause. Sich verstecken.
Gottlob, daß Sonntag ist. Er singt in der Kirche so laut, daß der Inspektor ihn anrüffelt. In sein Gesangbuch, auf seinen Kirchenplatz, überall hin schreibt er Josephine.
Und das Wort schiebt sich in ihm hin und her, und nach dem Schema von Nun danket alle Gott schreibt er in unbeholfenen Versen die Erlebnisse dieser Nacht.
Das war die erste Regung.
Denn von nun ab wollte er – ein Dichter werden.