Otto Julius Bierbaum
Stilpe
Otto Julius Bierbaum

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Drittes Kapitel.

Die Briefe des Battlings.

Liebste Mamma!

Du hast mir gesagt, das ich Dir gleich schreiben sol, wie mir es gefellt im Institut. Es gefellt mir gar nicht. Die Jungens sind furchbar grob und haun mich immer und nenen mich Badling. Sie sagen, ich wär ein dumes Gescheeche. Ich mag nicht mer dableiben und wil wieder nach Leisnig. Ach, liebste Mamma, ich weine die ganze Nacht und dan kommen sie und haun mit einem Rohrstock auf die Bettdecke, die dinne ist. Und früh läßt mich der Schüsseloberst den Zucker karieren beim Kaffe und Mittags der Schisselvice den Braten, wen's welchen gibt. aber's giebt blos einmal welchen. Ach liebste Mamma kom doch gleich und hol mich ab. Sonst lauf ich dervon.

Mit herzliche Grüße

Dein
Dich liebender Sohn
Willibald Stilpe.

Meine liebe gute Mamma!

Du denkst, ich liege Dir was for, aber es ist doch alles war was ich Dir geschrieben habe. Gestern haben sie mich wieder das Fleisch wollen karieren lassen. Da hab ich gesagt ich sags dem Lehrer, da haben sie mich untern Tisch gesteckt und gesagt ich soll die Wacht am Rhein singen und sie wollen den Takt treten mit den Beinen, und haben mich auch getreten. Aber gesungen hab ich nicht. Ach meine liebe gute beste Mama, schick mir doch eine Kiste mit Wurst und Gänsefett, daß ich auch was hab auf die trockenen Dreierbrotchen, die wir zum Frihstick kriegen, und ich dem Schisseloberst was abgeben kann, daß er mich nicht immer den Zucker frih karieren läßt.

Mit herzlichen Grüßen

Dein Dich liebender Sohn
Willbald Stilpe.

Ich hab einen Freund, der heißt auch Willi, er sitzt neben mir in der Klasse. Dem wil ich auch Wurst geben, weil er mir auch Wurst gibt.

Meine allerliebste gute Mamma!

Ich liege Dir ganz gewiß nichts vor. Wenn ich in die Ferien komme will ich Dir schon zeigen, was ich für blaue Flecke hab, und einen ganzen Bischel Haare hat mir Einer ausgerissen, wo ich gar nichts gemacht hatte. Blos, weil ich ihm die Stieweln nicht butzen wollte. Und den Lehrern darf man nichts betzen, dann krigt man blos noch mehr Keile, und die Lehrer thun den Großen doch nichts. Wenn ein Battling betzt, missen ihn auch die andern Battlinge mit verhauen, und er darf auch nicht mitspielen.

Die andern Jungens krigen alle Taschengeld für wenn die Obstfrau kommt. Die kommt zweimal in der Woche und hat viele schöne Sachen, Johannisbrot und Äpfel und Birn und Mispeln, aber Blockzucker darf sie nicht haben. Du darfst mir aber das Geld nicht selber schicken, sondern dem Herrn Inspektor Teurig, der giebt mir dann jede Woche zwanzig Fenge.

Es grüßt Dich Dein

Dich liebender Sohn
Willibald Stilpe.

Mein Freund Rammer läßt Dich auch grüßen.

Liebe, gute, allerliebste Mama!

Ich bedanke mich sehr schön für die große Kiste. Ich habe der ganzen Schissel Leberwurst und Pfannkuchen gegeben und stehe jetzt sehr gut beim Schisselobersten und den andern. Du schreibst, ich soll Dir schreiben, was ich den ganzen Tag mache. Das will ich thun. Also paß auf: Um fünf Uhr frih klingelt eine Klingel am obern Schlafsaal und dann schreien die beiden Herrn Inspektoren: Aufstehn! Aufstehn! Die erste Abteilung sich da zuhalten! Die erste Abteilung sind nämlich die Battlinge. Wir springen nun schnell aus den Betten raus und rennen in den Stiefelwichssaal und wichsen unsre Stiesel an den Beinen ohne Ausziehn sehr blank. Dann rennen wir in den Waschsaal, wo jeder sein Waschbecken hat, aber nicht aus Borzelan, sondern zum Umkippen aus Blech. Die Herren Inspektoren passen auf, daß wir die Hemden runterziehn und nicht so spritzen. Das Wasser ist wie Eis, und die Seife hat jeder in einem Schiebekasten bei sich, wo sich auch der Waschlappen und die Kämme aufhalten. Dann rennt jeder in den Kammsaal und kämmt seine Haare. Ich hab einen Scheitel machen missen links aber ohne Bomade, mit Wasser. Wenn Einer Läuse hat, so nennen sie ihn Lausewenzel. Es kommt beim Haareschneiden raus und ist eine große Schande und wird mit Essig gewaschen. Ich dachte schon, ich hätte welche, weil michs immer picken that, aber ich hatte keine. Mein Freund Rammer hat mal welche gehabt, aber dann hat er beim Haareschneiden immer gebetet Lieber Gott gieb das ich keine Läuse hab, und dann hat er keine mer gehabt.

Ich muß nun schließen, weil es gleich zum Bettegehn klingelt.

Es grüßt und küßt Dich

Dein Dich treu liebender
Sohn
Willibald Stilpe.

Meine gute liebe allerbeste Mama!

Der Herr Inspektor hat mir gesagt, das Du Taschengeld fir mich geschickt hast. Das hat aber der Schisselvice gehehrt, und da hat er mir gesagt, ich solls keim sagen und soll ihm finf Pfenge borgen. Das ist aber verboten; aber ich muß ihm doch borgen, weil er mich sonst am Sonntag das Apfelmus karieren läßt und selber ißt.

Nun will ich fortfahren, was ich thu, wenn ich meine Haare gekämmt hab. Dann gehts nauf in die Arbeitszimmer und wird die Schulsachen nochmal durchgegangen. Wenn alle Abteilungen mit Wichsen und Waschen und Kämmen fertig sind wird angetreten und die Herren Inspektoren sehen Einen an, ob man reine gewaschen ist und auch die Stiewelsohlen ganz sind, besonders hinter den Ohren, wo sich manchmal Schmutz befindet und man dann karieren muß. Dann singen wir in der Aula Nun danket alle Gott oder andere schöne Gesangbuchslieder und ein Herr Lehrer betet ein Gebet, was er grade auswendig kann. Dann gehts zum Kaffetrinken, wo immer jede Schissel, welche aus vier Jungens besteht und einen Schisseloberst, Schisselvice, Schisselterz und Schisselschund hat, eine Kanne Kaffe krigt und jeder drei Eckchen Semmel und zwei Stikchen Zucker. Der Zucker wird gewöhnlich in die Semmeln nein gebohrt und dann gedunkt, das schmeckt wie Kuchen. Die Schisselschunds krigen aber nicht immer alle zwei Stikchen Zucker, weil manchmal welche fehlen. Wenn Kaffe getrunken ist, ist eine Arbeitsstunde, wo Schularbeiten gemacht werden. Ein Herr Lehrer paßt auf, das keiner abschreibt. Manche Jungen schreiben aber doch ab. Ich wage mirs nicht.

Nun lebe wol meine liebe gute Mamma, mein Nachbar schubt mich immer daß ich Messerspießen soll mit ihm. Das ist ein sehr schönes Spiel. Auch Federtippens wird gespielt. Ich habe drei Goldhahnfedern gewonn, eine ganz neue dabei.

Es grüßt und küßt Dich Dein

treuer Sohn
Willibald Stilpe.

Liebe Mama!

Du weißt nicht, was Blockzucker ist? Ich werde es Dir erklären. Das sind rote oder gelbe oder weiße Tafeln, und die roten schmecken nach Himbeer, die gelben nach Apfelsine und die weißen nach Citrone. Die roten schmecken am schönsten. Wenn man eine Tafel kauft, das kostet zehn Pfennige, und jede Tafel hat fünf Abteilungen zum Abrechen. Nicht wahr, jede Abteilung müßte doch blos zwei Pfennige kosten? Kostet aber einen Dreier. Rammer sagt, im Biedchen draußen kostet eine Tafel iberhaupt blos fünf Pfennige. Aber die Jungens, die blos in die Schule kommen hier und zu Hause wohnen, die bringen sie mit und sagen, sie kosten zehn Pfennige. Wenn ein Junge kein Geld hat, so kann er auch seinen Braten dervor geben. Vor Schweinebraten krigt man zwei Stückchen, aber vor Rinderbraten blos eins, das heißt, weißt Du, das ist blos bei den Battlingen. Die Großen kriegen schon mehr. Nun weißt Du, was Blokzucker ist.

Ich will Dir nun schreiben, was nach der Arbeitsstunde frih kommt. Da kommt die Schule. Rechnen ist sehr schwer hier, weil der Lehrer, den die Jungens Buschklepper nennen, so ein eklicher Fritze ist. Das sagen alle. Biblische Geschichte ist sehr schön, aber im Lateinischen sind die Verba schwer zum abwandeln. Ich will aber doch in die Selekta. Die Selekta darf abends eine Stunde länger aufbleiben. Geographie ist sehr ausgedehnt. In der Geschichte gefallen mir die alten Germanen vortrefflich gut. Aber die Römer siegen immer. Naturgeschichte ist sehr mies, weil sie auch der Buschklepper hat. Nicht wahr, liebe Mama, die Menschen legen keine Eier. Rammer sagt, sie legten welche. Dann kommt das Mittagessen. Erst betet einer komm Herr Jesu sei unser Gast und segne was Du uns bescheret hast, und wenns alle ist, betet wieder einer Wir danken Dir Herr Jesu Christ, das Du unser Gast gewesen bist. Aber er ist natürlich nicht wirklich da, sondern man muß sich ihn selber denken. Es giebt meistenteils Rindfleisch mit Gemiese, und Brot kann sich jeder nachholen, wenn er noch nicht satt ist. Ich hole mir immer welches. Bier giebts keins, blos Wasser. Wir haben einen neuen Schüsseloberst. Das ist der schönste Junge im ganzen Kasten und ein Serbe. Er ist sehr gut und macht seine Witze. Gestern sagt er zu mir: Du, Schund, jetzt laß ich Dichs Wasser karieren. Da haben wir aber alle gelacht. Er heißt Miokovitsch. Ist das nicht ein schöner Name? Wenn ich groß bin, geh ich mit ihm nach Serbien. Er kann den Ball übern Thurm pritschen. Auch die Riesenwelle kann er. Er hat aber auch schon beinah einen Schnurbart. Ich hab ihn furchtbar gern. Liebe Mama, die Kiste ist schon lange alle.

Es grüßt und küßt Dich

Dein Dich vielmals liebender Sohn
Willibald Stilpe No. 171.

Liebe gute Mamma!

Der Schisseloberst hat gestern dem Terz eine Schelle neingehaun. weil er mich geknufft hat. Schick mir doch Pfannkuchen in der Kiste. Er ißt sie furchtbar gerne. Denke Dir nur: sein Vater ist Feldherr der Serbier. Ich hab sein Bild gesehen. Es ist keine Sohle. Überhaupt: Miokovitsch schwindelt nicht. In seinem Photographiealbum hat er auch viele furchtbar schöne Bilder von Mädchens. Die Großen nennen ihn alle den schönen Mio. Dem seine Muskeln solltest Du mal sehen, liebe Mamma! Sie sind so dick wie meine Waden. Er braucht sich auch keinen Scheitel zu machen, weil er Locken hat. Niemals läßt er mich karieren, denn er ist überhaupt sehr edelmütig. Seine serbischen Briefmarken krieg ich alle. Er kann furchtbar turnen. Gestern ist er in der Nacht ausgestiegen und am Blitzableiter nunter geklettert. Weil ich gerade an dem Fenster liege, hab ichs gesehen. Daß Du nicht petzt, hat er gesagt, und ich solls auch keinem Jungen sagen; ich sags gewiß keinem. Er ist erst nach einer Stunde wieder gekommen, und da war er so lustig, daß er mir einen Kuß gegeben hat. Ich weiß auch, warum er nunter geklettert ist. Er hat sich einen Strauß geholt. Den ganzen Tag hat er ihn immer in seiner Tasche gehabt. Mir gefellts jetz ganz gut hier. Liebe Mamma, schick doch ja recht viele Pfannkuchen.

Es grüßt Dich Dein treier

Sohn Willibald Stilpe.

Liebe Mamma!

Weil Du schreibst, daß ich Dir nicht geschrieben habe, was wir nach dem Essen thun, so will ich es schreiben. Da wird exeziert. Das ist sehr mühsam und mit Grobheit verbunden, weil die Herren Inspektoren so schreien müssen und sich ärgern, wenn die Jungens alles falsch machen, was natürlich ist, denn wenn man es noch nicht kann, so ist es sehr schwer. Ich möchte lieber bei den Tromlern sein, und Miokovitsch will schon dafür sorgen. Dann werden die Kleider ausgekloppt und vorgezeigt. Der Inspektor kloppt auf die Hosen, und wenn Staub kommt, so wirds aufgeschrieben, und wer drei Mal angeschrieben ist, der darf nicht mit spielen später. Bei manchen kloppt der Inspektor aber leise und bei manchen derb. Dann ist wieder Schule. Hernach aber giebts Vesperbrot und dann dürfen wir drei Stunden spielen. Räuber und Dragoner ist das Schönste. Ich hab einen Versteck, den keiner rauskrigt. Da können sie lange suchen, wenn ich durchs Fenster in den Badebassin krauche. Pritschball ist auch sehr schön, aber die Pritschen sind so lang, daß man oft vorbeihaut, und dann brillen die andern. Die Seite, wo Miokovitsch ist, gewinnt immer. Er hat die schwerste Pritsche, aber er macht selten mit. Überhaupt ist er oft nicht da, wenn gespielt wird. Ich hab ihn mal gefragt, warum er immer nicht da ist. Da hat er gesagt: Du bist neugierig, Schund, aber wenn du's niemand sagst, will ich Dir's verraten. Aber er hat mich blos verulken wollen, denn es ist doch Unsinn, daß er auf dem Mond spazieren geht. Solche Witze macht er immer.

Liebe Mama, warum schickst Du die Pfannkuchen nicht.

Es grüßt Dich Dein

teurer Sohn      
Williwitsch.

Liebe, gute Mama!

Ich habe furchtbar lachen müssen, weil Du schreibst, ob es nicht recht wehthut, wenn der Herr Inspektor auf die Hosen kloppt. Du denkst wol, wir haben sie an, wenn er kloppt? Nein, das sind die andern, die erste Garnitur, die gekloppt werden. Nun will ich aber endlich schreiben, was abends gemacht wird. Da wird erstens Abendbrot gegessen, wobei auch Biertrinken stattfindet. Es ist aber natürlich blos einfaches. Dazu giebt es Brot und Butter oder Fett. Fett ist mir lieber, denn die Butter ist sehr häufig ranzig. Viele Jungens schmieren sie dann untern Tisch oder schnippen sie mit dem Messer an die Decke. Dann fällt sie manchmal nächsten Tag in die Suppe. Weshalb es ein Unfug ist und man Schellen kriegt, wenns gemerkt wird. Natürlich wagen sichs blos die Großen. Im Winter soll die Butter auch von vielen Jungens gesammelt werden und sie machen dann abends auf dem Ofen im Arbeitszimmer Butterbäbe draus mit geriebenen Brot. Das muß fein schmecken. Dann gehts wieder naus zum Spielen und dann ist Arbeitsstunde oder Selbstbeschäftigung, wobei Briefe geschrieben werden oder sonst welcher Unsinn gemacht wird, weil kein Inspektor dabei ist. Dann gehts um Neune schlafen, wobei das Schnarchen durch Anspritzen beseitigt wird. Miokowitsch klettert jetzt egal zum Fenster nunter. Mit Rammern bin ich schiech, weil er sagt, Miokowitsch wär ein Schlowake. Ich brauch überhaupt keinen Freund, weil mich Miokowitsch zu seinem Leibschund ernannt hat. Deshalb heiß ich auch Williwitsch.

Dein Dich liebender          
Sohn      
W. St.

Liebe Mama!

Schiech sein ist, wenn man mit Einem nicht mehr Freund ist. Leibschund ist kein Schimpfname sondern sehr ehrenvoll.

Wie's am Sonntage zugeht, das ist sehr langweilig, wenn man niemand in der Stadt hat, zu dem man Urlaub kriegt. Weißt Du denn gar niemand, wo ich hingehen kann? Früh gehen wir in die Kirche. Da haben wir einen besondern Platz und alle Bänke sind furchtbar bekritzelt, wo die Freimaurer sitzen. Die meisten Jungens nehmen sich Bücher zum Lesen mit. Ich sitze aber so nahe beim Inspektor. Zu Mittag gibts Kompot und abends Thee und Käse. Wenn schönes Wetter ist wird Spaziergang gemacht. Es ist aber ledern, weil man so zwei und zwei in einer Reihe geht. Und ich muß mit Rammern gehn, mit dem ich schiech bin. Er will immer zu reden anfangen, aber fällt mir gar nicht ein. Er soll erst sagen, daß Miokowitsch kein Schlowake ist.

Liebe Mama, ich danke recht schön für die Pfannkuchen, aber es waren sechs ungefüllte dabei.

Es grüßt und küßt Dich

Dein teurer Sohn
Williwitsch.


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