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Als Willibald am nächsten Morgen erwachte, war sein erster Gedanke Josephine, sein zweiter Fliczek. Bei dem ersten war ihm linde und gut zu Mute, bei dem zweiten ballte er die Fäuste.
Er hatte die Empfindung, daß er sich heute seiner Haut zu wehren haben werde. Aber er hatte keine Furcht.
Er soll nur kommen, der Böhmake, dachte er sich, und bei dieser Gelegenheit regte sich in ihm zum ersten Male der Raufdeutsche. Er soll nur kommen und mir was sagen! Eine Schelle kriegt er! Und er erschauderte nicht vor dem Gedanken, daß er, der Strunk, einen Großen ohrfeigen wollte! So verrückt das Weib die Standesunterschiede.
Aber es kam anders. Der Tag wurde zwar reich an Aufregungen im Institute, aber just Willibald wurde nicht davon betroffen.
Fliczek wußte offenbar nicht, von wem er geprügelt worden war. Er war sehr niedergeschlagen und blaß, die einzige Farbe in seinem Gesicht war ein blauer Fleck unterm rechten Auge; er ließ den Kopf hängen und schien es nicht zu wagen, aufzublicken.
Willibald merkte sofort, wie es stand, und es kitzelte ihn, den gehaßten Böhmen zu reizen.
– Du, was hast Du denn da für einen Fleck im Gesichte?
– Was Dich nix angeht, Strunk dummer.
– Bist wohl hingeplautzt bei Buschkleppern gestern?
– Halt'n Rand, Strunk, oder ich . . .
– Na, was denn? Wenn ich doch blos frage . . . Überhaupt: Warum bist Du denn so gerannt?
– Hast Du mich gesehn, Stilpe? Wo hast Du mich denn gesehen?
– Nu, Du bist ja im Hofe an mir vorbeigerannt, wie besessen.
Das war kühn kombiniert von Jung-Willibald. Wenn nun Fliczek gar nicht über den Hof gerannt wäre? Aber er hatte richtig kombiniert.
– Ich, ich habe was kommen hören, und da hab ich Leine gezogen. Ich dachte schon, ich wäre geklappt.
– Und da bist Du wohl hingefallen?
– Ja, da, an der Mittelthüre, auf die Treppe hin. Was hast denn Du aufm Hofe zu suchen gehabt? Du hast doch sollen durch den Souterrain zurück?!
– Ich hab Dir was sagen wollen.
– Mir? Was denn? Warum denn? Du: Hast Du was gehört?
– Ja, eben, ich hab was gehört bei Buschkleppern hinten, und da hab ich gedacht: Das muß ich Dir sagen.
– Du hast was gehört . . . Wars laut? Hast Du auch was gesehn?
– Nee, s war ja ganz dunkel, aber ich hab jemand schreien gehört.
– Du, Strunk, das sag ich Dir: Daß Du niemand was davon sagst. Sonst setzsts Keile!
– Was soll ich denn sagen? Ich weiß ja gar nichts. Hast Du denn etwa geschrieen, Fliczek?
– Ich? Unsinn? Ich hab auch nichts gehört. Du hast wohl geträumt vor Angst, feiger Strunk.
Da hätte ihm Willibald von Herzen gerne Alles durch eine Ohrfeige klargemacht, aber er war doch zu klug dazu. Nur das konnte er sich nicht verkneifen, daß er sagte:
– Ich weiß besser wie Du, wer feige ist.
Worauf Fliczek nichts zu erwidern wußte, als ein verächtliches: Strunk!
Dieses Gespräch fand nach dem Frühstück statt, als sich die Klassen zur Arbeitsstunde in ihre Zimmer verteilten.
Die Arbeitsstunde selber hatte ein andres Aussehen, als sonst. Es war ein merkwürdiges Geflüstere unter den Jungen, zumal in den Oberklassen. Unter den Bänken wurden Äpfel herumgegeben, und häufig hörte man das Schnirpsen, wenn Einer in einen Apfel biß. Dazu ein Gekicher und Blicke hin und her. Ein Triumphgefühl ging durch Alle, und wenn sie den beaufsichtigenden Inspektor ansahen, so konnte man aus den Blicken lesen: Der dumme Kerl weiß von nichts.
Auch während der Andacht hielt dies Wesen an. Alle Hosentaschen der Selektaner staken voller Äpfel, und man griff sich gegenseitig an die Taschen und kicherte dazu. Als einer, mitten in dem sehr langen und feierlichen Gebete des Vizedirektors, der mit Vorliebe Sprüche aus Jesus Sirach einflocht, zu seinem Nachbar sagte: Ich hab schon Bauchkneipen, da setzte sich diese Mitteilung im Flüstertone durch die ganze erste Reihe fort, und der Vizedirektor mußte in seinen Sirach ein grollendes: Ruhe! einschieben.
Aber schon nach der zweiten Unterrichtstunde, als die Körbe mit Dreierbrodchen eben an die Thüre gestellt waren, meldete sich das Verhängnis. Die dicke Küchenmeisterin erschien, ohne angeklopft zu haben, in der 2. Selektaclasse, wo der Direktor gerade Cornelius Nepos traktierte.
Entrüstet blickte der Scholiarch die Frau an, und ein angebrachtes Rhm! fuhr ihr entgegen. Sie aber, ohne eine Spur von dem Respekt, der sie sonst nie verließ, schwappte bis an das Katheder vor und rief mit erregter Stimme: Meine Äppel hamse gemaust! Meine scheenen Äppel, die nischtnutzgen Jungen!
– Was behaupten Sie!?
– Ich behaupte nischt, Herr Derekter, ich behaupte Se gar nischt, ich sage blos: Gemaust ham se se, alle ham se se gemaust!
– Mäßigen Sie sich! Gehen Sie in Ihre Küche! Hier wird Schule gehalten!
– Aber, wenn se doch meine Äppel alle gemaust ham, Herr Derekter!
In diesem Augenblicke hörte man was fallen, und ein großer rotbackiger Apfel rollte langsam aus der ersten Bankreihe vor das Katheder.
Es war, als ob sich der Apfel seiner Wichtigkeit für diesen Augenblick bewußt wäre, mit so viel Ausdruck, ja Würde rollte er. Als er zuletzt noch ein paar Mal hin und her schwankte, war es wie der Schlußappell in der Rede eines Staatsanwalts.
Aber es ist Staatsanwälten nur selten beschieden, so überzeugend zu wirken, wie es dieser schweigend beredte Apfel that.
Sämmtliche Selektaner machten eine unbewußte Bewegung, als wollten sie unter die Bänke kriegen, die Augen des Direktors traten aus ihren Höhlen und hatten ganz offenbar die Tendenz, in aller Körperlichkeit unter die schuldbeladene Schülerschaft zu fahren, die Küchenmeisterin aber warf sich mit dem Applomb eines trächtigen Elefantenweibchens auf den Apfel und schrie: Hammr nu den Beweis, Herr Derekter? Hammr dn Beweis? Ob das nich eener von mein Äppeln is? Na? Oh die verfluchte Jungens, die Mausehaken! Nee, so e Volk! Fui Teifel, sag ch, und noch emal: Fui, schämt eich!
Und sie setzte den Apfel mit der Wucht des Triumphes auf das Katheder und fixierte bald die Schüler, bald den Direktor.
Der sprach: Rhm! Hm! Das ist . . . Ich sage: Das ist unerhört! Das ist eine Schmach ohnegleichen! Wer von euch . . .! Hm! Gesteht! Ich sage: Gesteht auf der Stelle, oder . . .! Hrm! Ich werde ein Exempel . . . Rhm! . . .
Plötzlich veränderte sich sein Blick, und er wandte sich zornesvoll zur Köchin: Gehen Sie in Ihre Küche, sag ich! In Ihre Küche! In . . . Ihre . . . Küche!!! Hier wird Schule gehalten! Gehen Sie an Ihre Arbeit! Alles andre wird sich finden. Rhm!
Die Küchenmeisterin sah den Direktor erschrocken an und floh hinaus.
Jetzt aber verließ der Direktor das Katheder.
Niemand durfte zweifeln, daß etwas Fürchterliches nahe bevorstand.
Es bezweifelte es auch niemand.
Gänse beim Gewitter ducken sich nicht scheuer, als die braven Selektaner es thaten, während der Direktor stampfend und keuchend auf und ab lief.
So that er immer, wenn er Einen am Ohr nehmen wollte.
Man kannte das.
Er hatte eine eigene Art, Einen am Ohr zu nehmen; so eine gewisse Drehung, als wollte er eine Thüre aufschließen und der Schlüssel ging nicht.
Die in der vordersten Reihe bereiteten sich schon vor, die Ohren zu schützen.
Aber es kam anders. Der Fall war zu ausgedehnt. Denn der Direktor hätte vierzig Ohren drehen müssen.
Eine Maschine wäre nötig gewesen.
Er plante Schlimmeres.
Plötzlich donnerte er: Rhm! Sämtliche Schlüssel auf die Bank gelegt!
Die Schlüssel klapperten herauf.
– Rhm! Primus, die Schlüssel einsammeln!
Es geschah.
– Rhm! Hat die erste Selekta auch gestohlen?
Kein Athemzug im ganzen Raume.
– Rhm. Ich frage: Hat . . .
– Ja! (Die guten Jungen lispelten das wie kleine Mädchen.)
– Ach, rhm, das ist ja wirklich . . . ich sage: Das ist . . . in der That . . . rhm! Primus!
Der Primus erhob sich und neigte das lilienblasse Haupt.
– Geh in die erste Selekta und bitte den Herrn Doktor Box, er soll die Schlüssel einsammeln lassen.
Der Primus fegte davon, froh, aus dem Bannkreis dieser rollenden Augen zu kommen.
Wir folgen ihm.
Doktor Box, ein Pädagoge voll Humor, hatte eben einen Witz zum Besten gegeben, und die großen Selektaner wollten sich vor Lachen ausschütten, als der Abgesandte des Zorns seine Botschaft ausrichtete.
Rups, wie brach da das fröhliche Gelächter ab.
Nur Doktor Box blieb fröhlich, und er sprach: Die adolescentuli sollen ihre werten Schlüssel auf die Bank der Wissenschaften und schönen Künste legen! Thuts, meine Lieben, thuts! Mir scheint: Es stinkt in irgend einem Schranke? Oder in allen?
Da klingelte es, und schon erschien auch der Direktor auf der Schwelle.
– Haben Sie die Schlüssel, Herr Kollege?
– Hier sind sie. Was ist denn geschehen, Herr Direktor?
– Sie haben, rhm, Diebe zu Schülern, Herr Kollege!
– Na, ich danke!
– Es verläßt niemand das Zimmer! Beide Selekten haben Zimmerarrest bis auf Weiteres.
In der zweiten Selekta wurde der Zimmerarrest damit eingeleitet, daß man den Unglücklichen, der den Apfel hatte fallen lassen, gemeinschaftlich durchprügelte.
Das ist die Art, wie sich die Verzweiflung des Volkes gerne entlädt.
In der ersten Selekta ging ein Gemunkel von Verrat, und man hatte natürlich die zweite Selekta im Verdacht. Schon war man daran, über die Strafen zu beratschlagen, die hier am Platze waren, da wurde Fliczek durch den Inspektor herausgerufen.
– Der Hund! Die Petze! So ein Schuft! Also der Czeche! Natürlich: Der Czeche!
Die entrüstete Schaar ahnte nicht, daß ihnen in dem beschimpften Böhmen ein Blitzableiter erstanden war.
Die Lehrerconferenz, vor deren Beschluß die beiden Selekten zitterten, befaßte sich einstweilen gar nicht mit dem Raubzug auf die Äpfel, sondern mit einem viel gräulicheren Faktum: Mit »der unglaublichen sittlichen Verworfenheit dieses entarten Burschen da«, wie der Direktor sich in gehobener Rede ausdrückte, indem er auf Fliczek wies.
– Wir werden uns nachher mit einer Vergehung zu befassen haben, die leider den beiden Selekten, wie es allen Anschein hat, ausnahmslos zur Last fällt, mit einer Vergehung, die schlimm, rhm, sehr schlimm ist, die wir aber im Vergleich mit der Büberei dieses Menschen noch gelinde ansehen dürfen. Wir können, vielleicht, rhm, ich sage: vielleicht, annehmen, daß dieses Vergehen der Selektaner mehr ein übermütiger Jungenstreich als ein Beweis für böse Lust ist. Aber hier, rhm, hier, meine Herren Kollegen, hier ist sittliche Verlumptheit! Hier ist, rhm, Seuchenstoff gefährlichster Art! Hier ist geil wucherndes Unkraut!
Der Vizedirektor, der die Steigerungstendenz im Stile des Direktors kannte, erlaubte sich, einzuwerfen, ob es nicht wohl angebracht sei, den Fliczek einstweilen hinauszuschicken.
– Rhm, ja, ja wohl, hinaus mit diesem Burschen! Aber unter Bedeckung! Hinaus, sag ich, Fliczek!
Fliczek ging.
– Es ist keine Frage, meine Herren, daß wir, rhm, daß wir diesen gefährlichen Buben entlassen müssen. Dank der Anzeige des Kollegen Wippe, der nicht blos als echter Vater, sondern auch als pflichtbewußter Pädagoge gehandelt hat, und von dem wir nie etwas anderes erwartet haben, ist die Unzucht, rhm, ich sage die Unzucht . . .
– Bitte, Herr Direktor, nicht wol eben dies, denn so weit wage ich meine Tochter nicht mit anzuschuldigen . . ., wimmerte Herr Wippe.
– Ich sage doch: Unzucht, ohne daß ich das Gräßlichste anzunehmen verzweifelt genug wäre. Denn schon der Gedanke, nächtlicher Weile . . . aber genug! Wir haben, rhm, die Pflicht, auch den Gedanken zu töten, der . . . Aber genug und gleichviel! Wir wissen, daß dieser Bube auf Schleichwegen gewesen ist, und nicht zum ersten Male, auf Schleichwegen, sage ich, rhm, die keinesfalls unschuldiger Natur waren. Er selbst hat es nicht zu leugnen gewagt. Sein Auge – oh, aber, rhm, genug! Wir müssen ihn dimittiren. Kollege Wippe hat sich in rühmenswerter Aufwallung entschlossen, seine Tochter, über deren Anteil an dem Entsetzlichen nicht wir zu befinden haben, noch heute aus dem Hause zu thun, und es muß auch dieser Bursche heute noch das Institut verlassen. Wir schenken unser ganzes Bedauern dem schwer getroffenen Vormund des Verworfenen, aber, rhm, wir müssen das Interesse unserer Anstalt über Alles stellen. Ich zweifle nicht, daß Sie Alle einer Meinung mit mir sind.
Sie waren alle einer Meinung.
Für die Entscheidung über den Raubzug der Selektaner war dieser Fall Fliczek ungemein günstig. Zum größten Erstaunen der Delinquenten erfolgte nur ein vierwöchentlicher Zimmerarrest und die Bestimmung, daß die Selektanerarbeitsstunden nicht mehr abends, sondern früh stattzufinden hätten. Das war freilich recht bitter, aber, da man sich natürlich auf sehr viel Schlimmeres gefaßt gemacht hatte, so durfte man es mit einem halbwegs angenehmen Gefühle tragen.
Gruselig und unheimlich wirkte das Verschwinden Fliczeks. Aber am unheimlichsten auf Willibald. Es muß gesagt werden: Er hatte eine fürchterliche Angst.
Er war ja der Einzige, der den Zusammenhang ahnte. Aber: Hing denn nicht er selber auch damit zusammen?
Kein Zweifel: Josephine war erwischt worden und hatte Fliczek genannt.
Und ihn nicht?
Das that ihm einesteils wohl, aber andernteils hatte er die Empfindung, als ob er da nicht ganz als voll betrachtet worden sei. Doch das Schlimmste war: Josephine war fort.
Und jetzt fing er erst recht an, Verse zu machen.