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Es stand schlecht um die Pfalz am Rhein in den letzten Dezembertagen des Jahres 1923. Das Volk feierte ein schwarzes Weihnachtsfest, der Blick in das neue Jahr war wenig trostvoll. Deutschland war krank und erniedrigt.
War Deutschland tot?!
(In diesen Tagen ging unter einigen Aufrechten die Parole Max Emanuel um.)
Zuletzt, wenn alle andern Kräfte kapituliert hatten, blieb noch die Seele eines Volkes. Erst wenn die Seele starb, war ein Volk verloren.
Wie stand es um Deutschlands Seele?!
(Um die Parole Max Emanuel kristallisierte sich eine heldische Tat.)
Ein Weg der Leiden mußte zu Ende gegangen werden durch die Schwärze vieler Nächte und das Wirrsal vieler Verzweiflungen. Denn erst am Ende des Weges war jenes geheimnisvolle Tor, das sich märchenähnlich auftuen würde, um die Lichtkaskaden der neuen Zeit hereinzulassen.
Anfang Januar 1924 kam eine unheilvolle Botschaft aus Koblenz. Der Präsident der Rheinlandkommission Tirard hatte bereits Gesetze und amtliche Verordnungen der Autonomen Pfalz offiziell registriert. Innerhalb zehn Tagen also würden diese Verordnungen Gesetzeskraft erlangen, deutlicher gesprochen, die neu gebildete Regierung der Autonomen Pfalz würde die Anerkennung der Irko finden.
Die Gefahr war groß, die endgültige Lostrennung der Pfalz vom Deutschen Reich stand unmittelbar bevor. Weder Verhandlungen, noch Proteste konnten Rettung bringen, die Welt war durch erpreßte Loyalitätserklärungen der pfälzischen Gemeinden hinters Licht geführt, man sah in der neuen Republik den Willen des pfälzischen Volkes. Daß dieses Volk geknebelt und gefesselt war und unter der Knute zweier Machthaber stand, wußte man nicht, dafür sorgten die Nachrichtenbüros der Agence Havas und der Mittelrheinischen Korrespondenz.
591 Nein, mit Wort und Rede, mit Tinte und Stempel war nichts mehr auszurichten.
Einzig und allein die Tat konnte noch eine entscheidende Wendung bringen.
Aber die Tat forderte ein Teil von der Seele eines Volkes.
Wie stand es um Deutschlands Seele?!
(Parole Max Emanuel!)
Schon am Ende des Jahres 1923 versuchten die Heinzelmännchen und Bleysoldaten über ihre eigene Republik hinauszugreifen, die Regierung Heinz wollte unter dem Schutz Frankreichs ihren Machtbereich auf Hessen und Nassau ausdehnen, die Soldaten des Pfälzischen Rheinschutzes wurden zu erhöhter Bereitschaft aufgerufen. Es bildete sich eine Nordfranken-Legion, in gespenstischem Schattenspiel kehrten die Zeiten eines Eickmeyer um 1792 wieder. Die Werber gingen und warben für die republikanische Wehr; die halb Verhungerten und Verelendeten des Landes stöberten sie auf und lockten sie in ihre Lumpenarmee der Freiheit. Zwei Franken im Tag, bei Auflösung der Legion ein Anzug, ein Paar Stiefel, vier Paar Socken, Unterkleidung und hundert Goldmark. Und im Aufruf war zu lesen: »Ihr werdet der Schrecken eurer Feinde, der Stolz eures Vaterlandes und die Bewunderung eurer Nachkommenschaft sein.«
Die Methode von 1792 stieg aus dem sündhaften Grab, die Riesenhand vom Westen formte sich zur Kralle und wartete, bis sie zupacken könnte.
Es stand schlecht um des Generals petit Palatinat.
(Es stand gut um die Pfalz, als es an ihre Seele ging. Wer kannte die Rechtsauskunftstelle für pfälzische Ausgewiesene in Heidelberg? Hatte schon einmal jemand von den Pistolenschützen des Bundes Oberland gehört? Ein gewisser Doktor Weiß lebte auch noch. Es lebten auch noch andere Männer.)
Die Alliierten distanzierten sich von Frankreichs Gewaltpolitik. Amerika verließ den Rhein, Belgien bekam Skrupel und neigte der Verständigung zu, England war ein Gegner des Separatismus.
Frankreich stand allein und hatte freie Hand. Der kleine General verstand seinen eigenen Frevel nicht mehr. Er schwänzelte mit der Reitpeitsche durch die Straßen, ein Machthaber, hinter dem die Kolonialregimenter standen. Er zeigte sich öffentlich, um die Furcht zu bannen, die ihn Tag und Nacht nicht verließ. Das Gespenst dieser Furcht war sein übelster Begleiter, er beging törichte Handlungen, 592 um die Furcht Lüge zu strafen. Am 7. Januar 1924 hatte er ein lustiges Erlebnis in der Kreisstadt Speyer. Er sah spielende Kinder auf der Straße, sie sangen leiernd einen Vers, den er nicht verstand. Er trat zu einem fünfjährigen Knaben und fragte: »Was für eine kleine Chanson du 'aben gesungen? Na, allez tout de suite, was 'aben du gesungen?«
Der Knabe lachte ihn an und sprach dem kleinen General den Vers
»Der Heinz Orbis
Hat kei Ruh, bis er g'storb is!«
Der General antwortete nicht, er ging weiter, was für verfluchte Gedanken, wohin er schaute, überall wuchsen Schatten aus dem Erdboden.
Wie hatte der Junge gesagt? 'einz Orbis 'at nix Ruh, bis er – –
(Die sorgfältig vorbereitete Tat erforderte einen Beobachtungstrupp, einen Deckungstrupp, einen Sperrtrupp und einen Schußtrupp.)
Der Marquis d'Orbis hatte schon vor einiger Zeit sein Kabinett vom Regierungsgebäude nach dem Hotel Wittelsbacher-Hof verlegt. Es waren schwere und bedeutungsvolle Zeiten, man konnte nicht ohne Alkohol leben, verständlich, durchaus verständlich. Eiskümmel. Franz Josef Heinz, der Bauernpräsident aus dem Dorfe Orbis, der Mann mit dem rötlichen Spitzbart, den kalten Augen und der sonderbaren Pelzmütze, war nicht feige. Er wußte, daß er einen abgeschmackten Begleiter hatte, einen hageren und bleichen Gesellen, der sich sehr aufdringlich benahm und lästig war wie eine bösartige Fliege. Der düstere Weggenosse, der die letzte Quittung des Lebens ausstellte, war schon zu einem Schatten geworden, er konnte sich nicht mehr von ihm lösen, das beste, mit ihm Bruderschaft zu trinken. Eiskümmel war ein belebendes Getränk, der Präsident trank gerne Eiskümmel.
In seinem Zimmer im Wittelsbacher-Hof stand eine Flasche auf dem Schreibtisch.
Eiskümmel. Eis war kühl und belebte.
(Auch die Wasser des Altrheins waren vereist. Der Frost hing in den kahlen Weiden und Erlen. Das braune Schilf rauschte im nächtlichen Wind. Klar und kalt und unheimlich lebendig trieb draußen der freie Strom vorüber. Das Land war verschneit, im klirrenden Röhricht schrie das Wildgeflügel, die Bleßhühner, die Haubentaucher, die Krickenten und die nordischen Wanderenten. Auch der Silberreiher 593 strich wie eine Wolke über das Schilfgewoge, und ganz im Verborgenen lebte der weiße Wildschwan, unendlich einsam und menschenfern. Tief waren die Nächte und unersättlich in der Schwärze des Schlafes. Über Frost und Schnee und krachendem Eisgeschiebe lagen schwerelos die gefürchteten Rheinnebel. Wer solcher Nächte bedurfte, um eine Tat zu vollbringen, hatte es nicht leicht, Gott sei mit ihm!)
Eiskümmel brachte einen Menschen auf sonderbare Gedanken. Wenn einer dasaß und plötzlich Gesichte hatte, dann mußte er schon ein Kerl sein, um vor seinen Gesichten nicht die Flucht zu ergreifen.
Eine Frau im Rheinland, tolles Gewächs, wollte den Tod aus den Augen herauslesen, was für Verschrobenheiten. Was war schon der Tod, à votre santé
Der Banditenpräsident griff nach einem Bleistift und bekritzelte langsam, als ob er zeichnete, ein Blatt Papier.
Heute ist der Präsident
Heinz Orbis
plötzlich aus dem Leben geschieden.
Die Beerdigung findet – – –
Und so weiter. Er lachte, ha ha ha, das nahm sich sonderbar aus, aber da fehlte noch etwas, nein, so war es noch nicht vollständig. Was fehlte denn, was, zum Teufel, mußte noch hinzugefügt werden?!
Gesichte. Er überlegte. Hing es mit den Gesichten zusammen, mußte man seine Visionen in einem einzigen Satz, in einer läppischen Redewendung einfangen?
Er zerriß den Fetzen und schrieb auf ein anderes Blatt:
Heute ist der Präsident
Heinz Orbis
plötzlich, aber nicht unerwartet, aus dem Leben geschieden.
Er zog bedächtig und spielerisch, wie ein Kind fast, einen dicken schwarzen Strich um die Worte, er rahmte sie ein mit unbeholfener plumper Hand, und dann hielt er das Blatt weit von sich, der Arm war ausgestreckt, er las, als ob er weitsichtig wäre, die eigentümlich lebendigen Zeilen.
Aha, nun sah es schon besser aus. Ganz verrückt, es kam manchmal auf Kleinigkeiten an. Nicht unerwartet, da lag der Hund begraben.
Was denn, er hatte doch heute abend einen Doktor Weiß 594 kennengelernt! Ein nicht sehr redseliger, aber harter Bursche, er war wegen eines Kirchenstreites in Speyer. Bagatelle. Konsistorium, jeder wollte den lieben Gott für sich allein haben. Richtig, dieser Doktor Weiß gefiel ihm, er war ein Mann. Man hätte Pferde mit ihm stehlen können, warum machte der Bursche in Kirchengeschwätz! Was dieser Doktor Weiß redete, hatte Hand und Fuß; und trinken konnte er, Höllengestank, der sonderbare Heilige wurde überhaupt nicht betrunken.
Langsam, nachdenklich und grüblerisch erhob sich der Präsident vom Schreibtischsessel und trat vor den Spiegel.
Was denn?! Er hatte einen roten Fleck auf der Stirn, ein kreisrundes, verdächtiges Mal.
Er wollte den Fleck wegwischen, aber der Fleck blieb. Er wischte mit dem Taschentuch, der Fleck blieb. Plötzlich war der Fleck verschwunden, es war die reine Hexerei. Ha ha ha, zuviel Eiskümmel, Herr Präsident!
(Max Emanuel. Fünfundzwanzig Männer. Scharfschützen mit Mauserpistolen. Es wird wiederholt: Beobachtungstrupp. Deckungstrupp. Sperrtrupp. Schußtrupp. Es war alles bereit, wer wußte um die ungeheure Spannung hinter den Kulissen?! Vier Mann Beobachtungstrupp unter dem Kommando des Doktor Weiß hatten die Aufgabe, im Gastraum des Hotels bestimmte Plätze einzunehmen, die ihnen einen genauen Überblick gaben und ermöglichten, daß alle Gäste in Schach gehalten werden konnten. Vier Mann Sperrtrupp mit der Aufgabe, während der Tat die Innenräume des Hotels nach außen abzuriegeln. Sechs Mann Deckungstrupp, der in der Nähe der Rheinhausener Fähre aus dem Badischen übergesetzt werden sollte, um durch eine Furt des Altrheins bei der Insel Floßgrün nach Speyer zu gelangen. Dieser Trupp hatte den Rückzug zu decken. Ein Schußtrupp, vier Pistolenschützen des Bundes Oberland, geführt von Doktor Weiß, sollten abends um neun Uhr dreißig Minuten die auf besonderen Tischskizzen bezeichneten Separatisten erschießen. Die vier Mann haben den Gastraum zu betreten und sich dem Präsidenten zu nähern. Wenn einer unter ihnen sich mit dem Taschentuch über die Stirn wischt, ist dies das Zeichen, daß sie ihr Ziel erkannt haben. Parole Max Emanuel.)
Der Marquis d'Orbis kam in den Gastraum und setzte sich an den Tisch zu seinen Kabinettsmitgliedern. Es waren noch mehr Gäste anwesend. Auch zwei französische Offiziere. Auch ein englischer 595 Journalist. Er saß allein am Tisch, aber einer der Offiziere kannte ihn von Koblenz her. Am Präsidententisch saß doch tatsächlich wieder Doktor Weiß, die Pfaffenseele war auch nicht totzukriegen.
Ob er denn nun endgültig seinen frommen Streit beigelegt habe, fragte der Präsident und trank einen Kümmel mit ihm.
Nein, die heilige Sache sei immer noch nicht erledigt, meinte Doktor Weiß.
»Ha ha, in solchen Zeiten auch noch schmutzige Pfaffenwäsche.«
»Wir brauchen ein großes Reinemachen, Herr Präsident, Sie müssen uns dabei helfen, wir sind auf Ihre Unterstützung angewiesen.«
Der Präsident Heinz wollte es nicht begreifen, daß ein Mann wie Doktor Weiß sich mit solchem lächerlichen Klatsch abgab.
»Sie halten keine überflüssigen Reden, man muß Ihnen jedes Wort förmlich herausquetschen, aber Sie machen mir den Eindruck, als gingen Sie dem Teufel vor die Schmiede. Wir zwei könnten Kumpane werden.«
»Wenn es sein muß, Herr Präsident.«
Der Präsident, nicht mehr ganz nüchtern, boxte ihn belustigt in die Seite, verflucht, die Knöchel waren auf etwas Hartes gestoßen. Er betrachtete seine großen Hände.
›Das war meine Mauserpistole‹, dachte Doktor Weiß, ›so was könnte einmal schief gehen, es hängt oft an Kleinigkeiten. Neun Uhr fünfundzwanzig.‹
»Diese Hände haben viel gearbeitet«, sprach der Präsident mit einem sonderbar rührseligen Pathos, »aber ich habe ihnen jetzt die ewige Ruhe versprochen.«
»Den Händen?« fragte Doktor Weiß und ließ die Gläser füllen.
»Was meinen Sie damit? Ich habe Sie nicht recht verstanden.«
Der am Tisch sitzende separatistische Pressechef machte eine anzügliche Bemerkung. Er war feige, ihm war nicht wohl in dieser Republik, man konnte plötzlich seiner eigenen Leiche gegenüberstehen.
»Wie spät ist es denn eigentlich?« Doktor Weiß lenkte ab, er zog die Uhr.
»Neun Uhr sechsunddreißig.«
»Donnerwetter, und um zehn Uhr ist Feierabend.« Doktor Weiß klappte den Uhrendeckel zu und zog die Weste herunter.
»Eigentlich bin ich müde«, sprach er und machte Schlitze aus seinen Augen.
596 (In Wirklichkeit beobachtete er das Lokal. Vier Mann saßen an ihren Tischen bereit, genau wie die Vorschrift lautete. Das Erscheinen eines Sperrtruppmannes im Kutscherzimmer nebenan hätte das Zeichen sein sollen, daß alle Beteiligten auf ihrem Posten standen. Wo blieb der Mann?!)
»Man ist überarbeitet«, sprach der Präsident, »wir sind alle müde, jawohl, wir sind alle müde, man sieht schon weiße Mäuse. Stellen Sie sich mal vor, es ist keine halbe Stunde her, da betrachte ich mich oben im Spiegel, was meinen Sie, mitten auf der Stirn habe ich einen roten Fleck, einen kreisrunden roten Fleck. Ich will den Fleck fortwischen, er weicht nicht. Ich reibe nur so drauflos, nom d'un chien, denke ich und wische mir mit dem Taschentuch über die Stirn –«
(›Taschentuch über die Stirn‹, blitzte es durch Doktor Weiß' Gedanken. ›Taschentuch, wo blieb der Mann, der sich mit dem Taschentuch über die Stirn wischte?!‹)
»– – da ist der Fleck verschwunden!«
Doktor Weiß atmete tief. »Da haben Sie Glück gehabt, Herr Präsident.«
»Warum meinen Sie das? Sind Sie abergläubisch?«
»Wenn der Fleck geblieben wäre – –«
(Als er diese Worte sprach, wußte Doktor Weiß, daß der Anschlag mißglückt war. Irgend etwas hatte nicht funktioniert. Was denn? Neun Uhr achtundvierzig. Was denn, es war schon eine Tat, hier zu sitzen und eine solche Nervenprobe durchzuhalten. Was denn also, verflucht noch einmal, warum war der Mann nicht gekommen? Er überlegte in rasender Gedankenfolge, ob sie es nicht allein ausführen sollten, jetzt, in diesem Augenblick. Da saßen die Verräter am Tisch, es kam nur auf blitzschnell entschlossenes Handeln an. Er schaute flüchtig nach seinen vier Kameraden, seine Hand tastete unauffällig nach der Pistole. Unfaßbar, der Mann zitterte nicht, er blieb kalt und beherrscht. Er wollte in die Tasche greifen – – –)
Da rückte der Präsident Heinz Orbis mit dem Stuhl, die übrigen folgten, sie brachen auf.
»Hoffentlich haben Sie morgen mehr Glück«, sprach der Präsident im Weggehen zu Doktor Weiß, »nun ja, es ist manchmal langwierig, wenn es um Religion und jenseitige Dinge geht.« Er lachte verschlagen.
»Man darf die Nerven nicht verlieren, Herr Präsident«, rief Doktor Weiß ihm nach.
597 (Der Deckungstrupp hatte im Altrhein bei der Insel Floßgrün die Orientierung verloren. Nachdem sie aus dem Badischen über den Rhein gekommen waren, irrten sie im Nebel umher und fanden die Furt nicht. Die überschwemmte Schilfniederung, die vereisten Altwässer und die undurchdringliche Finsternis brachten ein sorgfältig vorbereitetes Unternehmen zum Scheitern. Es gelang dem Deckungstrupp auch nicht, eine Verbindung mit den Speyerer Kameraden herzustellen. Einige brachen im Eis des Altrheins ein, schreiende Wildenten flogen auf, die Gefahr einer Alarmierung der französischen Brückenwache lag nahe. Das Unternehmen mußte abgebrochen werden. Doktor Weiß fiel die Aufgabe zu, am andern Morgen, umlauert von Gefahren, zwischen Franzosen und Separatisten, Spitzeln, Sûreté-Beamten, Geheimagenten und Kriminalbeamten, bei den Speyerer Gruppen seiner Leute die Waffen einzusammeln, um sie in einem Hotelschrank auf seinem Zimmer bis zum kommenden Abend zu verstecken. Denn ein neuer Plan war in der gleichen Nacht noch ausgearbeitet worden. Diesmal wurde die Übersetzstelle rheinabwärts gewählt. Dort stand das Wirtshaus Herrenteich. Der Wirt machte nicht viele Worte, er nahm seine Ordre entgegen: abends sechs Mann ans pfälzische Ufer übersetzen, gegen 10 Uhr 30 fünfundzwanzig Mann zurückholen. Parole Max Emanuel.)
An diesem Tag, nachmittags gegen vier Uhr, hatte der Präsident Heinz ein Unterredung mit dem Sägewerksbesitzer Max Huß, einem recht betriebsamen Mann, der zusammen mit einem Verbandsvorsitzenden fortwährend im Interesse der Erhaltung der pfälzischen Wälder auf Reisen war und sich ein Bein ausriß, um den Vermittler zwischen dem Comité Directeur des Forêts und der Forstkammer zu spielen. Dieser Huß hatte auch bei den Ventes am 30. November 1923 beträchtliche Mengen stehendes Holz gesteigert und seine Bestände zum Teil genutzt, angeblich weil in den Versteigerungsbestimmungen stand, das Holz müßte innerhalb von sechs Monaten geschlagen sein, und er mit den Hieben nicht in die Vegetation hineinkommen wollte.
Der Präsident Heinz hatte vordem auch schon einmal Holz von den Franzosen gekauft, er mußte also Verständnis haben für die Nöte der pfälzischen Sägewerksindustrie. Es wäre somit gut, überlegte Max Huß, wenn man jetzt sein Mäntelchen im separatistischen Wind flattern ließe und sich mit dem Präsidenten auf vertraulichen Fuß stellte.
598 Worum handelte es sich denn eigentlich, hatte der Mann immer noch nicht genug Holz?!
Es handelte sich um die Coupes supplémentaires. Die französische Ordonnanz 135 der Irko hatte schon früher das Comité des Forêts beauftragt, wenn nötig, außer den anberaumten Hieben sogenannte Ergänzungshiebe vornehmen zu lassen. Gegen Ende des Jahres 1923 waren solche C.-S.-Hiebe von den Franzosen beschlossen worden, und zwar 600 Tausend Festmeter, wovon 350 Tausend Festmeter den bereits fürchterlich geschändeten pfälzischen Wäldern entnommen werden sollten. Das Holz aus diesen C.-S.-Hieben war den Zweckorganisationen der französischen Sinistrierten unmittelbar zuzuführen und sollte in Deutschland aufgearbeitet werden, aber nur von leistungsfähigen Firmen.
»Das heißt«, sprach der Präsident, »Sie wollen sich bei den C.-S.-Hieben irgendwie beteiligen?«
»Ich werde mich beteiligen müssen, mir liegt der Wald am Herzen, ich will schonen, wo es etwas zu schonen gibt.«
Er führte sein freundliches Lächeln ins Treffen, das nackte Gesicht glänzte, ein Wunder, daß der Mann nicht weinen konnte, wenn es darauf ankam, einen guten Eindruck zu machen.
»Der Raubbau in der Forstwirtschaft ist maßlos, die Franzosen haben aus unseren deutschen Wäldern bis jetzt schon zwei Millionen Festmeter herausgehauen. Die Ruhrbesetzung geschah wegen des lächerlichen Fehlbetrages von 20 000 Festmeter Holz und 130 000 Telegraphenstangen.«
»Was wollen Sie denn damit sagen?«
»Daß es auf die 350 000 Festmeter Stammholz aus den C.-S.-Hieben nicht mehr ankommt.«
»Ha ha ha, eine vorzügliche Logik. Überhaupt, warum kommen Sie zu mir, das ist eine Angelegenheit der französischen Pfänderpolitik.«
»Ich möchte erreichen, daß man uns Linksrheinischen das Holz aus dem unbesetzten Deutschland liefert.«
»Und dann?«
»Dann könnten diese 350 000 vorläufig auf dem Stock bleiben.«
»Sie meinen, wir haben dann das rechtsrheinische Holz und unseres dazu? Sie sind ein Fuchs.«
»Die Bayern lassen sich nicht darauf ein.«
»Da haben sie vielleicht nicht ganz unrecht. Mein lieber Mann, 599 so gut kenne ich die Franzosen auch: das Holz, das aus dem Rechtsrheinischen kommt, ist für die Zwoggel verloren. Ich höre da übrigens, daß eine rechtsrheinische Großfirma sich verdächtig bemüht, mit den Franzosen ins Geschäft zu kommen.«
»Die Firma hat aber auch linksrheinische Gatter und Imprägnieranstalten. Wenn wir Pfälzer bei den C.-S.-Verkäufen nicht Gewehr bei Fuß stehen, wird sie uns die fetten Brocken vor der Nase wegschnappen.«
»Alles recht, aber um Himmels willen, was habe denn ich mit der ganzen Geschichte zu tun?«
Er stand vom Stuhl auf und ging aufgeregt hin und her. Es war rein des Teufels, jeder lag ihm mit seinen Krämerseelenangelegenheiten im Ohr, er hatte wichtigere Dinge im Kopf, zum Henker mit dem Holzgeschäft!
»Es handelt sich nur um den Rechtsstandpunkt, Herr Präsident.«
»Welchen Rechtsstandpunkt denn?«
»Kurz gesagt: dürfen wir Pfälzer mit den Franzosen direkte Verträge abschließen, oder müssen wir erst aus Berlin und München die Genehmigung haben?«
»Genehmigung, welche Genehmigung denn? Die Pfalz ist autonom!«
»Im Verband des – – Reiches?!«
»Schwätzen Sie doch keinen Unsinn! Wir werden am 12. Februar in Koblenz offiziell registriert. Heute ist der 9. Januar. Wollen Sie denn Verträge abschließen?«
»Die Sache ist so; ich kann mit den Franzosen einen Vertrag abschließen, um Masten und Grubenholz für die Sinistrierten zu liefern. Dafür wird mir im Austausch stehendes Holz in pfälzischen Staatsforsten übereignet. Diese Schläge auf dem Stock, die bis Ende 1927 zu meiner Verfügung bleiben, werden mir innerhalb von vier Wochen nach Vertragsabschluß durch den leitenden Forstausschuß überwiesen.«
»Das scheint mir kein schlechtes Geschäft zu sein, wenn man mit den französischen Forstbeamten auf gutem Fuß steht. Machen denn da alle pfälzischen Sägewerke mit?«
Max Huß gab keine Antwort.
»Ich meine, ob alle – –«
»Bei den C.-S.-Verträgen nicht, aber die rechtsrheinische Firma läuft schon als Favorit.«
600 »Und warum machen die andern nicht mit?«
»Es bestehen die rechtlichen Bedenken, die mich zu Ihnen getrieben haben, Herr Präsident.«
»Welche Bedenken?«
»Es – es – – wären gewissermaßen – – Geheimverträge.«
»Aha, davon sollen die drüben nichts wissen?!«
»Unsere Notlage, Herr Präsident. Es ist nicht nötig, daß wir das übereignete Holz einschlagen, wir können es auch auf dem Stock lassen. Wir haben Zeit bis Ende 1927.«
Heinz reckte die Arme, er dachte an seine schlimmen Nächte.
»Das ist eine lange Zeit, ich will so weit nicht schauen, mir ist ein Monat schon eine endlose Galgenfrist.«
»Galgenfrist?!«
»Nichts davon, man hat sonderbare Vorstellungen und Wahnbilder.«
Er kam auf den Holzhändler zu.
»Schauen Sie mal in meine Augen. Schauen Sie nur mal genau hinein. Fällt Ihnen etwas auf, sehen Sie etwas Außergewöhnliches?«
»Ich sehe nichts.«
»Sie sehen nichts?! Es gibt Frauenzimmer – – trinken Sie einen Eiskümmel und lassen Sie mich mit Ihrem verfluchten Holzschwindel in Ruhe! Trinken Sie, à votre!«
»A votre Wenn der pfälzische Wald vor die Hunde geht, ich bin nicht schuld daran.«
»Bewahre, ein Lamm wie Sie. Ihr Vater war doch – – na ja, Sie wissen, was ich meine! Ha ha, gegen die Akrobaten ist kein Kraut gewachsen. Gehen Sie, Max Huß, ich bin Ihnen wohlgesinnt. Nirgends stinkt das Geld so, wie bei uns, ich habe kein Verständnis für Ihre Rechtsbegriffe, ich habe andere Pläne, glauben Sie mir, ich habe ganz andere Pläne. Lassen Sie mich mit Ihren Wäldern in Frieden, man hat mir schon einmal vorgeworfen, ich hätte die pfälzischen Kartoffeln französisch gemacht, ich will nicht auch noch den Wald auf dem Gewissen haben.«
»Es kommt mir nur darauf an – –«
»Ich weiß schon, Sie brauchen eine Rückendeckung, Sie sind ein Akrobat. Ihr Vater ist auch einer gewesen. Sie werden nicht glauben, daß ich schlecht informiert sei. Ich weiß auch von den Coupes supplémentaires, sie gehören, genau genommen – –«
601 »– – in die Kategorie der Micumverträge. Nachdem der passive Widerstand abgeblasen wurde, ist das deutsche Recht außer Kraft und in Suspension.«
Der Präsident hob die Stimme: »Sie meinen, seit wir autonom sind?!«
Max Huß zögerte mit der Antwort, er neigte den Kopf schief und blinzelte mißtrauisch.
»Ich meine«, sprach er endlich vorsichtig, »angenommen den unmöglichen Fall, wir würden nicht autonom bleiben – –«
Der Präsident ließ sich in den Sessel fallen und schlug beide Fäuste auf den Schreibtisch.
»Das Unmögliche wollen wir nicht annehmen, Holzhändler!«
»Ich will nicht zuviel gesagt haben, Herr Präsident, aber es gibt Wunder im Leben.«
Heinz schrie den Sägemüller an.
»Was wollen Sie denn von mir, sagen Sie mir in drei Teufels Namen, was Sie von mir wollen?«
»Daß Sie zur Kenntnis nehmen, sonst nichts!«
»Was denn aber? Ihre Wunder vielleicht?«
»Daß unter Umständen solche Geheimverträge abgeschlossen werden müssen, wollen wir nicht Gefahr laufen, daß man unsere Werke samt den Vorräten beschlagnahmt. Fernerhin, daß diese C.-S.-Verträge rechtsgültige Verträge einzig und allein nach dem Recht der Besatzungsmächte sind. Das deutsche Recht kann durch die Verträge nicht verletzt werden.«
»Sie sind kein mutiger Mann, Holzhändler Huß, Sie wollen zuviel gedeckt sein, Sie wollen durch alle Maschen schlüpfen, dabei sind Sie schlau wie ein alter Rotfuchs. Wenn ich mich so hinter Stacheldraht und Selbstschüsse verschanzen wollte, ich brauchte meine ganze Rheinarmee zum persönlichen Schutz.«
»Sie stecken nicht in der besten Haut, Herr Präsident, man muß Sie bewundern. Ich glaube manchmal, Sie können mehr als Brot essen.«
»Lassen Sie das und gehen Sie, ich muß allein sein. Ich werde alle Besucher abweisen lassen, ich bin in schlechter Laune, ich weiß schon selbst nicht mehr, ob ich das Gute oder das Böse will. Gehen Sie, mir ist manchmal so, als ob ich die Hände aus diesem Spiel hätte lassen sollen.«
Er sprang auf, ging ungestüm zur Tür und öffnete selbst. Er atmete auf, als der Holzhändler draußen war.
602 »Ich bin für niemanden zu sprechen«, rief er ins Vorzimmer hinaus, wo sein Adjutant saß, »auch nicht für Kabinettsmitglieder!«
Er schlug die Tür zu und schloß ab. Eine Weile stand er starr und betrachtete seine Hände. Er spreizte die Finger, innen und außen musterte er die groben Hände.
»Es klebt mir schon zuviel Blut an diesen Händen.« –
Er ging an diesem Abend später in den Gastraum des Wittelsbacher-Hof, am Präsidententisch saßen schon drei seiner Kabinettsmitglieder. Etwas später erschien auch Doktor Weiß, anscheinend etwas verstimmt, denn er setzte sich an einen besonderen Tisch, stand dann wieder auf und ging hinaus, – –
(Er gab auf der Toilette seine letzte Disposition und händigte einem Meldegänger des Schußtrupps eine Planskizze des Präsidententisches aus.)
– – kam aber bald wieder zurück und schien plötzlich in bester Laune. Es waren vielleicht dreißig Gäste anwesend. Etwa um 9 Uhr 20 kam der englische Journalist. Er zögerte noch, ob er sich zum Präsidenten setzen sollte, um sich einige Informationen zu holen, besann sich aber dann doch eines andern
(Welcher Entschluß sein Leben rettete)
und nahm gegenüber dem Präsidententisch Platz.
»Herr Doktor Weiß«, rief der Präsident, »Ihr Geschäft ist viel zu aufreibend, mit Politik und Religion und Unsterblichkeit sich herumschlagen, ruiniert die Nerven. Sie sollten in Holz machen, ich kann Ihnen sagen, da war ein Sägemehlfritze bei mir, der kann den Rachen nicht vollkriegen. Holz und immer nur Holz, Berge von Holz, ganze Wälder holzt er ab, dabei spielt er den Moralhelden und sucht nach Rechtsgründen.«
Dem Pressechef der Separatisten war nicht wohl in seiner Haut, vielleicht hatte er eine dumpfe Ahnung, als ob hier nicht alles mit rechten Dingen zuginge. Er stand auf und verließ das Lokal, Doktor Weiß sprang ihm noch nach und wollte ihn zurückhalten. Vergebens.
(›Wenn man Fische im Netz hat‹, dachte Doktor Weiß, ›schlüpft manchmal einer in letzter Minute durch die Maschen, man kann es nicht ändern‹.)
In diesem Augenblick, 9 Uhr 28, betraten vier junge Leute langsam und so, als ob sie einen Platz suchten, den Gastraum.
»Holz und immer nur Holz«, lachte der Präsident, der Verräter, der Mann mit dem rötlichen Bart und der Pelzmütze, der Marquis 603 d'Orbis, der Handlanger des kleinen Generals, der verlorene Sohn seiner Erde, der Bauernrebell, »immer nur Holz und zuletzt braucht auch er nur ein paar armselige Bretter, um sich einen Sarg – – –!«
Er brach seine Rede ab und fuhr zusammen. An seinem Tisch stand ein sonderbarer Mensch, der zog jetzt sein Taschentuch und wischte sich über die Stirn.
Wer war der Mann, wollte er sich mit dem Taschentuch den roten Fleck von der Stirn – –?!
Mit Doktor Weiß geht in dieser Sekunde eine unheimliche Verwandlung vor. Er schnellt vom Tisch hoch, zieht eine Pistole und donnert in den Saal: »Hände hoch, es gilt nur den Separatisten!«
Schon dröhnen die Schüsse.
Der Präsident springt auf und will sich den Angreifern entgegenwerfen, er fühlt es brennend heiß – –
»Der rote – Fleck – –«
Ein zweiter Schuß trifft ihn. Er taumelt.
Mit beiden Armen greift er in die Luft, dreht sich einmal im Kreise und schlägt nach rückwärts zu Boden.
Zwei seiner Kabinettsmitglieder fallen.
Tumult. Schreie. Entsetzen. Blutlachen. Menschen mit hochgehobenen Armen. Schüsse draußen, Tumult draußen.
Eine Stimme, laut und hart und klar:
»Meine Damen und Herren, wir bitten um Entschuldigung für den Schrecken. Es war der einzige Weg, mit den Verrätern, die unser Vaterland verraten haben, aufzuräumen. Es bleibt jetzt alles im Lokal. Wir gehen zur Regierung und räumen auch dort auf und kommen wieder. Das Lokal wird verdunkelt, wir lassen Posten zurück. Wer den Wittelsbacher-Hof verläßt, wird erschossen!«
Dunkel.
Eine glimmende Zigarette.
Einer der Separatisten hat noch einen Rest von Leben.
Er stöhnt, immer weniger, verlöschend.
Jetzt ist er tot. – –
– – Hol über!
Hoool üüüber!!
Zur Zeit der Befreiungskriege, um die Jahreswende 1813/14, als das russische Korps Sacken über den Rhein ging, saß einmal nachts ein Fährmann bei Speyer am Wasser. Da kam eine verhüllte Gestalt und begehrte ans badische Ufer übergesetzt zu werden. Drüben 604 entstiegen dem Nachen wunderbarerweise mehrere verhüllte Gestalten. Später hörte der Fährmann vom badischen Ufer rufen: Hol über! Wieder bestieg die düstere Schar den Nachen, und der Fährmann brachte sie über den Rhein. Als sie ausstiegen, gaben sie dem Fährmann seinen Lohn. Unter ihren schwarzen Mänteln sah man Schwert, Panzer und Schild funkeln. Der Fährmann betrachtete seinen Lohn und sah, daß es Goldmünzen waren mit den Bildnissen der toten Kaiser. Der Fährmann soll die Erscheinung so gedeutet haben: die alten Kaiser im Dom waren lebendig geworden, um Deutschland beizustehen, das Joch der Fremdherrschaft abzuschütteln. Zuletzt ist der geschlagene Napoleon durch die Wälder der Haingeraide gekommen, er hat in Lautern übernachtet und im Bett Barbarossas geschlafen. – –
(Hol über!
Hoool üüüber!!
In der Nacht des 9. Januar 1924 setzte unterhalb Speyer beim alten Gasthaus Herrenteich das Boot dreimal über den Rhein.
Die Nacht war unheimlich belebt von Hupengedröhn, Sirenengeheul, Scheinwerferlicht und französischen Militärstreifen.
Dreimal setzte das Boot über den Rhein, im Aufruhr, im Nebel, in der Kälte und im Antlitz des Todes.
Aber der Rhein trieb mit unbeschreiblicher Feierlichkeit dahin. Der Rhein sang, es war wie eine Ballade.
Zwei waren geblieben auf dem Felde.
Wiesmann.
Hellinger.)