Roland Betsch
Ballade am Strom
Roland Betsch

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Richard Aust verließ das Fischerhaus und ging zu Fuß durch die Nacht der Stadt Landau zu. Er mußte durch flachen Kiefernwald, kam über abgeerntete Felder, über dunstige Wiesen und erreichte die ersten Wingert, Ausläufer des Rebenmeeres, das von der Hardt bis herunter in die Ebene brandete.

460 Es roch nach neuem Wein, ein süßlich gäriger Geruch stieg ihm in die Nase, denn in den Fässern rumorte schon der geherbstete Portugieser. Das roch gut, es stieg aus den offenen Kellerlöchern und verströmte in die Nacht. Der Eisenbahner marschierte durch den Weinduft, ihm war sonderbar gehoben zumute, er vergaß die Gefahren, die ihn umgaben, rüstig schritt er aus und wie einer, der sich sicher weiß und der einem frohen Erlebnis entgegengeht.

Als er die Lichter von Landau sah, war es gegen drei Uhr morgens. Er umging die Stadt und kam auf die westlichen Gleisanlagen.

Auf dem Westbahnhof ratterte qualmend ein französischer Regie-Güterzug. Als die Eisenschlange träge vorüberrollte, sprang Richard Aust kurz entschlossen auf einen Wagen mit Bremserhäuschen. Geduckt schlich er zum Sitz und schloß hinter sich die Tür.

Der Zug polterte in die Nacht, Aust schaute durch das zerbrochene Fenster und sah, daß der offene Fünfzehntonner mit Eisenbahnschwellen beladen war. Der ganze Zug fast brachte Reparationsholz nach Westen, Schwellen französischen und belgischen Formates, Masten und Stangen. Die Wälder sanken dahin, ungeheure Flächen wurden kahlgesetzt und niemand kümmerte sich um die Neubestockung, um Windschutz und Frostgefahr. Bäume stürzten und immer wieder Bäume, ungeheuerlich waren die Wunden, die den Forsten geschlagen wurden. Wieder ging der Tod durch die pfälzischen Bergwälder und war ohne Gnade.

Richard Aust mußte immerfort an seinen Vetter Christoph denken. Sie waren alle Nachkommen der gleichen Wälderfamilie; jener Aust, die Förster gewesen waren in den Haingeraidewäldern, bis einer von ihnen, sein Großvater Michael, Lokomotivführer geworden war, während der Bruder Peter sich wiederum den Bäumen verschworen hatte. Und Christoph war der Enkel jenes Haingeraideförsters Peter Aust, der mit dem Bruder Michael und der Mutter Gertrud um die fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts zum ersten Male mit der neuerbauten Eisenbahn gefahren war. Heute war die Maschine »Hummel«, die jenen ersten Zügen Bexbach–Rheinschanze–Ludwigshafen vorgespannt gewesen war, noch in einem Museum zu sehen, und sie brauchte sich nicht zu schämen mit ihrem griechischen Schornstein und dem prunkvollen Messinggefunkel. Christoph hatte das wache Blut der Haingeraidenachkommen. Und dieser Mann, der die Tage und Nächte in den freien Wäldern zugebracht hatte, den die Enge bewohnter Räume schon bedrückte, er saß jetzt in einer 461 Gefängnishöhle zwischen Schmutz und Kot und Gestank, die letzte armselige Fensterluke vielleicht noch mit Brettern vernagelt, damit nicht aus Versehen ein Lichtstrahl des Tages sich verirren könnte.

Ungeheuerlich, wieviel Haß ein Menschenherz gebären konnte, rätselhaft, wieviel Rachsucht zwischen den Gedanken ausgebrütet wurde. Welch ein genialer Erfinder war der menschliche Haß.

Als der Zug in Annweiler hielt, verbarg der Flüchtling sich hinter den gestapelten Schwellen. Er kroch wie in eine Höhle hinein, es roch nach Eichenholz, nach Erde und Käfern, ein Traum von rauschender Höhe und sausenden Wipfeln erstand.

Er hörte das welsche Schimpfen der Cheminots, eine Lokomotive pfiff qualvoll heiser, dann polterte der Regiezug über die Weichen, die Lichter des Bahnhofes versanken, das Tal wurde enger, immer näher rückten die Berge heran.

Richard Aust hob den Kopf, die Heimat war nicht mehr weit, schon rollte der Zug am großen Sägewerk vorüber, er sah die gewaltigen Holzstapelplätze.

Das Schwellengeschäft blühte, das Stangengeschäft blühte, im Lohnschnitt schon wurden ungeheure Summen verdient.

Max Huß, Sägewerkbesitzer und Holzhandlung. Wer kannte den reichen Holz-Huß nicht, den Schlaukopf und Draufgänger, den Mann mit allen Wassern gewaschen und in allen Sätteln gerecht! Wer kannte ihn nicht, den freundlichen Lächler mit den nackten, grauen Augen und dem geröteten Gesicht!

Bonjour, monsieur le capitaine, je suis votre ami – –

Fließendes Französisch, jawohl, auch die Gattin beherrschte die westliche Sprache, sie sang wunderschön, es gab herrliche französische Chansons und Berceusen.

O ne te veille pas encore -
- - -
dors, dors, le jour a peine a lui
Bravissimo.

Holz war wichtig, man mußte Holz haben, um liefern zu können, wer sich auf die Hintersüße stellte, für den gab es Holz auf dem Mond, von den Lohnschnittverträgen gar nicht zu reden. Bäume mußten sterben, Bäume und immer wieder Bäume. Hier lag ein Mensch zwischen den Schwellen und fror, denn der kühle Septembermorgen dämmerte grau und elend herauf.

462 Er roch die Eichenlohe und er roch die Heimat, es ging trüb zu unter den Menschen, pfui Teufel.

Er war nachts von einer Eskorte mit einer müde trottenden Herde von Schicksalsgenossen über den Rhein gebracht worden, nur einen Anzug am Leib und ein Bündel auf dem Rücken. Über ein halbes Jahr war verstrichen und es war nichts besser geworden. Vierundzwanzig Stunden hatte man ihm Zeit gelassen, die Wohnung im Stationsgebäude zu räumen, seine Frau und der sechsjährige Knabe hausten in einem Dachzimmer, wo die Wände feucht waren, die alten Dachziegel überm Kopf klapperten und die Mäuse hinter den morschen Holzwänden pfiffen.

Hier lag einer unter den Schwellen und wollte es nicht begreifen, daß es so sonderbar zugehen konnte zwischen Aufgang und Niedergang eines armseligen Lebens. Und wiederum war es beglückend, daß ein armseliges Leben sich so verbissen wehrte gegen die Unterdrückung und gegen die Vergewaltigung des Bodens.

Richard Aust richtete sich auf, denn es war Zeit, den Zug zu verlassen, er rollte schon durch das enge Waldtal, gleich würde der Tunnel kommen, und dann war es nicht mehr weit bis zur Station.

Unbegreiflich war es, daß immer wieder Menschen lebten, die viel Geld verdienten, die reich wurden am Schicksal eines Volkes, einerlei welcher Art dieses Schicksal auch war, ob Aufstieg oder Abstieg, ob Krieg oder Friede, Sieg oder Niederlage. Es gab immer Menschen, deren Geschäftsgeist noch Kapital schlug aus dem letzten Herzblut einer Nation, ja, bei denen die Leichname sich noch gut verzinsten.

He he he, Aust mußte lachen; nicht, daß es nur schlechte Menschen sein mußten oder Geschäftemacher, die ehrlos würden am Mammon; durchaus nicht, man durfte nur nicht sentimental sein. Es ging alles ordnungsmäßig her und verstieß keineswegs gegen die Paragraphen. Es vollzog sich nach einem Gesetz, nach dem Naturgesetz des Kapitals. Das Kapital hatte seine eigene Welt, seine eigene Moral und seine eigenen Gesetze. Wenn einmal einer käme, der die gesamte Naturgeschichte des Kapitals zerbrechen und seine dunkelschlauen Gesetze liquidieren wollte, der müßte, weiß der Teufel, schon ein außergewöhnliches Format haben. Konnte es überhaupt einen solchen Menschen geben, war es nicht Wahnwitz, ihn auch nur zu denken?!

Der Regiezug donnerte in den Tunnel, das Getöse schwoll an, stickig und beizend drang Kohlenrauch in die Lungen.

463 Richard Aust stand schon auf dem schmalen Trittbrett, keine Angst, er war ein Eisenbahner.

Der Qualm stieß ihm entgegen, er hustete und spuckte, manchmal stoben Funken in rasendem Tanz über ihn hinweg. Merkwürdig, in diesem gefährlichen Augenblick, während dieser abenteuerlichen Minuten war der junge Eisenbahner keineswegs beklommen und verzagt. Nein, ein Gefühl inneren Gehobenseins bemächtigte sich seiner, sein Herz schlug hoch und hungrig, die verkniffenen Augen strahlten noch zwischen den schmalen Schlitzen hervor.

Der Mensch hier fühlte, daß er lebte, inbrünstig lebte, dieses Leben erfüllte ihn voll und ganz, weil er es so waghalsig verteidigen mußte.

Funkenschwärme, Qualm, ohrensprengendes Getöse. Herzbruder Tod, es galt wieder einmal, dich in die Enge zu treiben, indem man dich verlachte. Indem man lebte; denn leben hieß gefahrenvoll atmen.

Gefahrenvoll einschlafen, gefahrenvoll aufwachen!

Keine Angst, dies hier war keine Hölle, nur eine kleine Feuerwerkfahrt und Dreckschluckerei. Die Hölle hatte ein anderes Gesicht, er hatte diese Fratze erlebt im Stahlgewitter vor Donaumont und im Priesterwald. Er hatte auch die Hölle erlebt im oberen Morteratschgletscher, als er im Frühjahr auf Schneeschuhen mit einem Franzosen zusammen auf die Bernina wollte; als der Föhn von Süden eingebrochen war und die Hexenküchen Kehraus feierten. Als sie umkehrten und am Seil abfuhren, war der junge Franzmann auf einer Schneebrücke durchgebrochen. He he, er baumelte am Seil, aber der Herrgott meinte es gut, der Spalt war verfirnt. Aust hatte den Kameraden herausgezogen und – – –

Achtung, abspringen!

Aust hielt die linke Hand an der Griffstange, er schwebte in halber Kniebeuge federnd auf dem linken Bein, der Zug polterte durch den Tunnelkopf, es wurde fahl und grau und dämmerig, Böschung und Umrisse von Akazienbäumen tauchten auf. Er schob das rechte Bein vor und beugte sich weit hinaus.

Kurz vorm Vorsignal sprang er ab, seine Füße traten aufs Banquet, es war weich und verludert und grasbewachsen.

Rasch entschlossen warf er sich platt in den Graben und preßte das Gesicht ins Gras, auf daß ihn nicht der Franzmann sähe, der am Zugschluß im Bremserhäuschen saß. Das Gesicht also platt auf die Erde, es roch noch nach Ruß und ranzigem Achsfett, das Gras war feucht vom nächtlichen Tau.

464 Richtig, er hatte den Franzosen aus dem verfirnten Spalt gezogen. Ergebnis: Knöchelfraktur. Er hatte ihn bis zur Bovalhütte gebracht, über das Labyrinth hinweg ihn auf dem Rücken getragen, verfluchte Schinderei, fünf Stunden bis zur Bovalhütte.

Der Regiezug versank und verrollte in der grauen Schlucht der Dämmerung, ein Nebelschleier sank zwischen die Böschung. Aust richtete sich auf und sah, wie das Vorsignal sich hob, wie die runde Scheibe mit dem gelben Licht sichtbar wurde. Drähte klirrten.

Er eilte die Böschung hinauf und kam in den Kiefernwald. Im Niederholz warf er sich ins Heidekraut und schloß eine Weile die Augen, denn er war müde und abgespannt, seine Augen waren trocken und brannten, er hustete Kohlenruß aus.

Eine Viertelstunde nur bis nach Hause, aber um diese Zeit durfte er es nicht wagen, er wäre im Dorf sicher der einzige Mensch gewesen; die Bahnhofwache oder die Sûreté wäre auf ihn aufmerksam geworden, die Kerle durchschnüffelten auch noch die Nächte.

Er fühlte plötzlich den Drang, weiter in den Wald hineinzugehen, aufwärts zu steigen bis zur einsamen Höhe, wo die alten Eichen zwischen dem übermoosten Felsgewirr standen, wo der Himmel weit und hoch wurde, und wo man so tief zu Hause war. Er beschloß hinaufzusteigen und oben den Morgen abzuwarten. Der Berg hieß Sonnenkoppe, er kannte ihn schon viele Jahre, denn er gehörte zu den Jagdgründen seiner Jugend.

Je höher er stieg, um so größer wurde sein Erstaunen, denn das Bergland starrte ihn fremd an, eine häßliche Veränderung war mit ihm vorgegangen, sein Antlitz war bis zur Unkenntlichkeit entstellt.

Über kahle Flächen und Berghänge führte sein Weg, zwischen blühendem Heidekraut und Heidelbeergesträuch ragten die Wurzelstöcke gefällter Bäume heraus, der Boden war zerfurcht, man sah dem Gelände die Hast des Holzabtriebes an. Er starrte von Wunden und Schändungsmalen, einzelne Kiefernstöcke waren aus dem Erdreich gerissen, Wurzelwerk griff verästelt in die Luft, die rote Erde hing am Gefaser. Richard Aust stieg ergriffen weiter aufwärts, seine Augen waren weit geöffnet, er bestaunte den Frevel und eine furchtbare Kälte schlich plötzlich in sein Herz.

Der Kiefernhochwald war kahl geschlagen, auch die Buchen-Kiefernbestände an den Flanken, ein ausgesuchter Hochwaldmischbestand war unter der Axt gefallen. Ringsum starrte ihn das Ödland an, grau 465 und verhangen noch in die Schatten der fliehenden Nacht gebettet, oben aber schon vom ersten Schimmer des Morgens umflossen.

Richard Aust dachte an den großen Eichenbestand und hatte eine düstere Ahnung.

Langsam, müde und zerschlagen stieg er durch das braunrote Heidelbeergesträuch, der Ostwind traf ihn, aber es war kein Rauschen zu vernehmen, weit und breit keine Kronen und Wipfel, kein Blattgewoge flimmerte im Strom des Windes.

Als er auf der Sonnenkoppe ankam, färbte sich der Himmel silbergrau im Osten, hinter Wälderkuppen war ein sanftes Glühen zu sehen, vereinzelt kamen Vogelstimmen aus den Schluchten heraus.

Richard Aust stand in der kahlen Verlassenheit der Höhe, keine Eiche mehr, soweit er schaute, der Kahlhieb reichte bis weit in die Senke hinunter, der Berg war gespenstisch verändert.

Der einsame Mensch stand mit einer unbeschreiblichen Ergriffenheit zwischen dem Getrümmer der Sandsteinfelsen. Er blickte sich um und sah die aufgerissene Erde, die unvernarbten Wurzelstöcke und das Gewirr der Äste. Er sah Rinden und Wurzeln, schwarze Feuerstellen und einige kümmerliche Reste des eingesprengten Niederwaldes mit Kiefernnachwuchs und Hainbuchengesträuch.

Zwischen den Ruinenhalden des Waldes blühte die Septemberheide, hier oben nur spärlich, aber weiter unten, wo der Kiefernhochwald kahl geschlagen war, in verschwenderischer Fülle. Das frühe Licht traf die Blüten und weckte alle schlummernden Farben auf. Alles war feucht von Tau und glänzte flimmerig, die hergewehten Sommerfäden hingen in weißem Gespinst über dem Gesträuch.

Richard Aust war tief bewegt, er fühlte, wie etwas starb in ihm, er wußte nicht, was es war, vielleicht ein Fetzen Erinnerung oder ein Rest herübergeretteter Jugend. Vielleicht auch ein Stück seines Glaubens oder ein Quentlein Gottvertrauen. Etwas starb, er wußte nur nicht, was.

Er stand lange, er nahm den Hut vom Kopf, im Strom des Morgenwindes wehten seine Haare, er beugte das Haupt, es rann aus seinen Augen.

»O Gott!« hauchte er und drehte den Hut zwischen seinen Händen.

Jetzt erst, da es ihm zerstört worden war, wußte er, wie unsagbar er dieses Land liebte, ihm war, das Blut bräche aus seinen Adern und versickerte in dieser geschändeten Erde. Er wurde schwach und elend, ihn fror bis in die Eingeweide hinein, er schauderte zusammen wie im Fieber.

466 Er legte sich zwischen die Felsen, in das rauhe, blühende Heidegesträuch, wieder roch er das Holz und die Käfer und die wunderliche rote Erde.

Er krümmte sich zwischen Fels und Wurzelstock hinein, das üppige Heidegeäst schlug über ihm zusammen.

Er schloß die Augen, aus den geschlossenen Augen heraus weinte er.

Eine Heidelerche sang. –

– Wie lange er gelegen hatte, wußte er nicht, vielleicht war er gar eingeschlafen gewesen; als er sich hochrichtete, weil er ein Geräusch vernommen hatte, sah er einen Menschen mit geschultertem Jagddrilling vor sich stehen.

Der Mann war Max Huß, Sägewerkbesitzer und Holzhändler. Er trug geschnürte hohe Jägerstiefel, einen grünen Lodenanzug und einen Velourhut mit einem wippenden Gamsbart.

Richard Aust sprang auf und stand dem Jäger gegenüber. ›Eine hübsch unliebsame Begegnung‹, dachte er und sann blitzschnell auf einen Ausweg, denn es war gefährlich, diesem Lächler mit dem geröteten Gesicht und den nackten, grauen Augen in die Quere zu kommen.

»Ich hätte nicht erwartet«, sprach Huß langsam und jedes Wort übertrieben dehnend, »ausgerechnet Ihnen hier zu begegnen.«

»Das gleiche könnte ich zu Ihnen sagen, Herr Huß«, antwortete Aust schlagfertig und klopfte die hängengebliebenen Heideblüten aus seinen Kleidern.

»So, und warum nicht? Ich habe das Gefühl, in vollem Umfange Herr meiner Entschlüsse zu sein.«

»Gewiß, aber es ist mir ganz neu, daß Sie hier Jagdrechte besitzen. Sind denn hier nicht Staatswaldungen gewesen –«, er schaute sich um in der Runde, »– ich sage ausdrücklich gewesen, und wurde die Jagd nicht – –?«

»Gewesen, jawohl, in der Pfalz sind einmal Staatsforsten gewesen!«

»Sie sind es noch immer.«

Huß lächelte, dann pfiff er durch die Zähne, seine grauen Augen funkelten boshaft in das Lächeln hinein.

»Sie sind von den Franzosen beschlagnahmt, das müßte Ihnen doch eigentlich bekannt sein. Wir leben im passiven Widerstand, auch das können Sie nicht vergessen haben.«

»Nein, das habe ich nicht vergessen.« Er schaute an seinen 467 zerknüllten Kleidern herunter, er betrachtete den Kohlenschmutz an seinen Händen, gewiß war er auch voll Dreck und Ruß im Gesicht. Er dachte an seine Frau und an sein Kind, an den Rhein und an das Erlengebüsch, er dachte an den Regiezug und an das fröstelnde Leben überhaupt. Nein, er hatte das nicht vergessen. Schließlich war er auch nicht zum Richter über diesen Menschen bestellt und hatte kein Recht, Auskünfte von ihm zu verlangen. Das beste, er machte sich auf und davon. Da fiel ihm aber sein Vetter Christoph ein, der im Landauer Gefängnis saß, ein unabwendbarer Groll stieg in ihm hoch.

»Ist es wahr«, sprach er trocken und kalt, »daß mein Vetter Christoph im französischen Militärgefängnis sitzt?«

Huß zuckte zusammen und drehte ruckartig den Kopf, daß der Gamsbart zitterte.

»Er wird das selbst verschuldet haben. Es ist töricht, sich gegen die Ordonnanzen der Besatzungsbehörden aufzulehnen. Ja, ich sage Ihnen, der ganze passive Widerstand ist töricht. Er ruiniert nicht nur das einheimische Holzgeschäft, sondern die gesamte pfälzische Industrie überhaupt.«

»Darüber können wir vielleicht heute noch nicht entscheiden.«

»So, warum denn nicht? Haben wir vielleicht etwas erreicht?«

»Oft muß man schaurig tief hinabsteigen, Herr Huß, um die jenseitige Höhe wieder gewinnen zu können.«

»Das ist Romantik. Die Wirklichkeit hat ein anderes Gesicht. Die Franzosen beuten unsere Wälder aus, und wir schauen zu.«

»Daran sollen sich auch pfälzische Sägewerkbesitzer mästen. Vielleicht ist Ihnen die berüchtigte Pfänderpolitik nicht unwillkommen.«

»Mein Herr«, sprach Huß schärfer und wechselte die Maske. »Sie sind nicht im Bilde. Wir arbeiten im Lohnschnitt, wir sind privat keineswegs über unser Kontingent hinaus eingedeckt. Vergessen Sie nicht, daß wir mit den Reparationslieferungen im Rückstand waren. Wir haben die Verträge nicht erfüllt.«

»Nichts ist dem Franzosen erwünschter; ein erfüllter Vertrag würde seine Pläne durchkreuzen. Ein paar tausend Schwellen und Telegraphenmasten, mit denen wir im Rückstand waren, gaben den Anlaß zur Ruhrtragödie und zur pfälzischen Schamlosigkeit. Ein paar tausend fehlende Eisenbahnschwellen haben zur Folge, daß eine Nation den Ehrbegriff verliert.«

»Sagen Sie das nicht zu laut hier, es gibt zu viele unsichtbare Ohren. Und glauben Sie, wir pfälzischen Sägemüller tun unser 468 möglichstes, um vom pfälzischen Wald zu retten, was zu retten ist. Ich laufe mir die Beine ab, um die gefährlichen Holzhiebe zu verhindern. Man hat, das muß ich mit bitterem Geschmack sagen, bei der Hohen Irko in Koblenz fast mehr Verständnis dafür, als in München drüben, den Namen Berlin will ich gar nicht aussprechen. Mir blutet das Herz – –«

»Ha ha ha!«

Huß unterbrach sich und schaute tückisch aus den Augenecken.

»Mir blutet das Herz, sage ich, wenn ich sehe, wie bei uns der Wald vor die Hunde kommt und wie die Wackes die besten Bodenklassen über die Grenze bringen. Was tut man in München, bitte, was tut man bei den Bierbäuchen? Nichts, rein gar nichts. Der passive Widerstand verbietet uns, Holz von den Franzosen zu kaufen, wir haben die Hände in den Hosentaschen und schauen zu, wie unsere schönsten Starkhölzer der großartigen Pfänderpolitik zum Opfer fallen.«

»Man sagt Ihnen im Rechtsrheinischen nach, Sie hätten durch elsässische Strohmänner – –«

»Geschwätz, nichts als Geschwätz. Ich habe Lohnschnittverträge, sonst nichts. Und wenn wir weiter passiven Widerstand spielen, dann blasen wir hier alle bald auf dem letzten Loch. Höchste Zeit, daß wir dieses gefährliche Gesellschaftsspiel aufgeben. Ich brauche Holz, verstehen Sie mich, ich bin ein nüchterner Geschäftsmann und kein romantischer Schwärmer. Ich brauche Holz, sonst verrecke ich, von drüben kriege ich keins, also sollte man mir nicht verwehren, daß ich es von den Franzmännern kaufe.«

»Das sollen Sie auch getan haben.«

»Wer das sagt, ist ein Verleumder.«

»Man sieht Sie zu oft in Koblenz.«

»Aber nur im vaterländischen Interesse.«

»Oh, sprechen Sie das Wort nicht aus, mit ihm wird allzuviel Schindluder getrieben.«

»Ich habe ein Recht, es auszusprechen.«

Er trat einen Schritt auf den Eisenbahner zu, er nickte heftig mit dem Kopf und schob den Drilling fester auf die Schulter. »Wir kämpfen um unsere Existenz, wir ringen nach Luft, mein Herr, wir sind nicht pensionsberechtigt, wie Sie. Wir hängen in der Luft, buchstäblich in der Luft, ma foi, mein Bruder kann jede Stunde umkippen.«

»Ihr Bruder hat zuviel Schamgefühl, er geht an seiner 469 Anständigkeit zugrunde. Ihr Bruder, Max Huß, ist aus der Art geschlagen, die Natur hat sich einen Scherz erlaubt.«

»Was soll das heißen?«

»Er hat kein Talent zum Schachspiel hinter den Kulissen, ich kenne ihn zu gut. Ihr Vater hat ihn nie gewollt.«

»Mein Vater war ein Ehrenmann.«

»Er ist tot, wir wollen vergessen, daß er uns an die Franzosen verkauft hätte. Er war eines gewissen Generals guter Kumpan.«

»Sie nehmen den Mund verflucht voll, ich vermute, Sie sind bei Ihrem Bruder in die Lehre gegangen. Die Zeitungsschreiber soll der Teufel holen.«

»Mein Bruder ist kein Zeitungsschreiber.«

»Dann ein Journalist. Meinetwegen.«

»Auch das nicht. Ich habe aber noch einen Vetter. Der besitzt hier, wo wir augenblicklich stehen, gewisse Rechte. Er ist Forstmeister.«

»Gewesen!«

»Er würde sich wundern, wenn er Sie hier mit dem Drilling sähe.«

»Die Jagd ist augenblicklich französisch, ich habe die Erlaubnis –«

»Auf den Bock zu gehen. Um das ungehindert zu können, mußten Sie wohl vorher erst meinen Vetter verkaufen!?«

»Wer behauptet das?«

»Einer, der keine Märchen auftischt.«

»Wie will er das beweisen? Christoph Aust hat sich zu Unbesonnenheiten hinreißen lassen. Er hat Nummernbücher und Schlagregister verbrannt und sich geweigert, Auskünfte zu geben, die man von ihm verlangt hat.«

»Wenn er Holzlisten verbrannt hat, dann bestimmt nicht in seinem Interesse. Er will nichts, als den bedrohten Wald schützen.«

»Das tue ich nicht weniger.«

Ihre Stimmen wuchsen, sie redeten sich in eine bittere Erregung hinein, Aust trat auf den Sägemüller zu und schob die Unterlippe verächtlich vor.

»Sie haben ihn ans Messer geliefert.«

Max Huß ballte die Fäuste.

»Hüten Sie sich, Richard Aust! Es wäre vorteilhafter für Sie, wenn Sie mich zum Freunde hätten.«

»Der Freund in Ihnen kann mir gefährlicher sein als der Feind. Ich weiß, was ich heutzutage von meinem Feind zu halten habe, nicht aber weiß ich es von gewissen Freunden. Es gibt sonderbare Freunde, 470 und die Not eines Landes färbt wunderlich verschieden auf den Charakter ab.«

Max Huß schmunzelte, er zog die nackten Augendeckel hoch, sein rundes Gesicht mit der etwas platten Nase glänzte rot.

»Sie sind doch ein ausgewiesener Eisenbahner, oder täusche ich mich?«

»Nein, Sie täuschen sich nicht.«

»Ich muß mich aber wundern, daß Sie im besetzten Gebiet herumstrolchen.«

»Ich strolche nicht herum, das tun andere, die jetzt mit der Flinte durch das Ödland streifen und in jeder Kreatur ein Freiwild sehen.«

»Das Freiwild sind Sie, mein Herr.«

»Sagen Sie nicht immer ›mein Herr‹, es wird einem übel davon.«

»Das Freiwild sind Sie, wiederhole ich. Sie haben kein Recht, auf diesem Platz zu stehen. Ich wette, Sie haben einen gefälschten Paß, das ist jetzt so Mode, lassen Sie sich nicht erwischen.«

»Wer sagt Ihnen, daß ich einen falschen Paß habe?«

»Lehren Sie einen alten Affen nicht Fratzen schneiden. Sie sind heute nacht über den Rhein, Gott weiß, was für dunkle Absichten Sie haben!«

»Ich habe eine Frau und ein Kind, die in einer Dachstube hausen.«

»Bitte, keine Sentimentalitäten. Sie kommen von der Abwehrstelle. Ist Ihnen bekannt, daß man diese Herren höheren Ortes in Berlin gar nicht wünscht? Auch Sie leisten dem Vaterland einen zweifelhaften Dienst, wenn Sie als Spion in Ihre Heimat kommen. Genau genommen, wäre es meine verdammte Pflicht – –«

Richard Aust erschrak, nun wurde es gefährlich, der Holzhändler schlug einen bedenklichen Purzelbaum. Eine Schurkerei, die er vorhatte, wälzte er auf das sogenannte nationale Pflichtgefühl ab.

»Ich gehe, Max Huß. Es ist gut so, ich weiß, was ich von Ihnen zu erwarten habe.«

Er wollte gehen, aber der Sägemüller hielt ihn am Ärmel zurück.

»Ta ta ta, nun schütten Sie mal das Kind nicht mit dem Bad aus. Was Sie von mir zu erwarten haben? Nichts, rein gar nichts. Glauben Sie, ich bin ein Unmensch? Sachte, sachte, man hat noch seine Gefühle im Leib. Ich bin mir vollauf bewußt, welche Opfer Sie für das Vaterland bringen. Nur, das Vaterland wird es Ihnen schlecht danken.«

471 Richard Aust schaute in den Himmel. Es war hell geworden, hinter den Wäldern stieg die Sonne herauf, er fühlte etwas wie Wärme.

»Ich gehe, Max Huß, ich habe nicht lange Zeit.«

»Na, meinetwegen, ich will Sie nicht halten. Übrigens komme ich morgen zum Comité Directeur des Forêts, ich will sehen, ob ich etwas für Ihren Vetter tun kann.«

Der Eisenbahner verzog das Gesicht, die Mundwinkel schoben sich nach unten, er sah, wie der andere lächelte und mit dem Bein wippte.

»Die Katze frißt den Sperling, Herr Huß, das ist ein Naturgesetz. Ich verlange nichts Widernatürliches von Ihnen.«

Er ging durch die blühende Heide davon. Der Holzhändler schaute ihm nach.

Er wippte immer noch mit dem Bein, er hüstelte und pfiff durch die Zähne.

Romantische Seelen. Abwehr und Widerstand. Rollkommandos und aktivistische Torheiten.

Regiezüge in die Lust sprengen und Waffen über den Rhein schmuggeln. Schwarmgeister und Feuerseelen, sonderbare Gewächse des Herrgotts.

Dort stapfte einer über die kahlgeschlagene Kuppe, jetzt stand er schattenhaft gegen den Himmel, um ihn blühte die Heide. Wirrköpfe und Landsknechtnaturen.

Hier ging es doch um ganz andere Dinge, um nüchterne Zahlenschlachten ging es, um Geld und immer wieder um Geld. Um das nüchterne Geschäft ging es. Deutschland hatte den Krieg verloren und mußte zahlen. Was man in den Fängen hatte, wurde ausgequetscht, die Alliierten waren nicht gemütvoll.

Ehrbegriffe und Herz und Gemüt, sacré nom de Dieu!

Ha ha ha, Ritterlichkeit und fair play, damned in the hell!

Und im besonderen ging es hier um ganz gewöhnliche Eisenbahnschwellen für die Wiederaufbaugebiete. Um Kiefern und Eichen und Buchenschwellen im belgischen und französischen Format. Um Masten ging es und Stangen.

Wieviel Schwellen, sagen wir mal beispielsweise, um nur eine einzige Lieferung zu nennen? Na also, ohne Gewähr, nur so ungefähr für eine einzige Kommission 124 000 Schwellen, 16 000 Masten und 60 000 Kubikmeter Schnittware. Nur eine einzige Teillieferung, wie schon gesagt.

Passiver Widerstand, den Firmen war verboten, auf französische 472 Rechnung zu kaufen oder zu verkaufen. Die Gatter sollten stillstehen, es drohte noch die Beschlagnahme der Werke, eine Armee von französischen Forstbeamten, Holzarbeitern und Holzfachleuten war aufmarschiert. Die Kubikmeterzahl stieg schon in die Millionen.

Der Wald wurde geplündert, geschändet und ausgeraubt. Vielleicht Waldnutzung nach bayrischem Muster? Zum Totlachen. Durchforsten etwa im Hochwaldbetrieb, die Wipfeldürren heraus, Vorsicht auf die Überhälter? Ha ha ha, Kahlhieb und französische Hauordnung.

Land zwischen den Völkern.

Vogelfreier Wald.

Max Huß lächelte nicht mehr, er war allein, man spielte nicht vor sich selber Komödie. Es gab nichts zu lächeln, es war alles verflucht ernst. Wenn man jetzt die Ohren nicht steif hielt, geriet man in den Latrinenbezirk. Die Bilanzen wackelten, die Gatter wurden rostig, die Spatzen bauten in die Kamine.

Abwehr. Widerstand. Schwarmgeister.

Aber wie denn, bitte – – per saldo? Per saldo, meine Herrschaften!

Er stapfte durch das Gesträuch, stolperte über Wurzelwerk und Astgestrüpp.

Wo war denn der ausgewiesene Eisenbahner?

Fort, nicht mehr zu sehen.

Auch der Bock war längst über den Wechsel.

Die Sonne stieg höher, die Heide glühte, Huß sah es nicht.

 


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