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Zwei Tage später kam im Galopp ein Reiter über die Ebene bei Neustadt. Er ritt einen prachtvollen Fuchs, trug einen grauen Soldatenmantel ohne Achselstücke und eine Fuchspelzmütze, die tief in die Stirn gezogen war. Als der Reiter zwischen die Weinberge kam, zügelte er das Pferd, denn die schmalen Wege waren schlecht und holperig, und Schneeverwehungen verwischten oft die Grenze zwischen Weg und Wingertzeilen.
Es schneite in einem dichten, wirbelnden Gestöber, das Gebirge war verhängt, schon die nächste Umgebung lag im Grau des winterlichen Wetters.
Zwischen Neustadt und Landau befand sich an einer Straßenkreuzung ein kleines Weinwirtshaus, dort stieg der Reiter ab und band das Pferd an einen Eisenring, der in die Wand eingelassen war.
Es wurde auch schon die Tür geöffnet und heraus kam stürmisch und froh bewegt ein junger Mensch, ein Knabe fast. Er war siebzehn Jahre alt, seine Augen glühten, als er auf den Reiter zutrat und beide Hände ausstreckte.
»Ihr seid halb eingeschneit; kommt herein, ich will Euer Pferd so lange in den Stall bringen.«
»Du weißt, daß ich nicht lange bleiben darf, es ist auch zu gefährlich und es darf mich niemand sehen. Ist der Vater zu Hause?«
»Ja, und Mutter auch; aber kommt nur rasch herein.«
28 Der Reiter schüttelte den Schnee ab, während der junge Mensch das Pferd in den Hof führte.
Es fing zu wehen an, der Schnee fiel immer dichter, der Wind fuhr pfeifend um das Haus.
Der Reiter trat in die kleine Gaststube. Als er die Fuchspelzmütze vom Kopf nahm, quoll blondes Haar in herrlicher Fülle hervor, ein Gesicht voll Liebreiz und Anmut offenbarte sich, ein Paar leuchtende blaue Augen hielten Umschau und ein weicher, blühender Mund lächelte den Wirt an, der aus der hinteren Tür hervortrat.
Jetzt erst zeigte sich, daß der Reiter eine Frau war, jung und voll temperamentvoller Schönheit, selbst die rauhe Soldatenkleidung vermochte nichts von der Jugendfrische ihres weiblichen Wesens zu tilgen.
»Gnädige Frau«, sprach der Wirt, »Ihr seid wieder geritten? Will die Unruhe kein Ende nehmen?«
»Wir werden noch lange reiten müssen. Und ich glaube, wir werden immer wieder reiten müssen, auch unsere Kinder und Kindeskinder.«
»Gott helfe Euch, gnädige Frau.«
Der Sohn kam zur Tür herein, er trat auf die junge Frau zu und schaute sie glücklich an.
»Ich freue mich, daß Ihr gekommen seid.«
»Du freust dich?«
»Ja, ich habe auf Euch gewartet. Tag und Nacht habe ich gewartet.«
»Es bedeutet nichts Leichtes für dich, wenn ich komme.«
»Nichts ist mir schwer genug, wenn ich es für Euch tun darf.«
»Du sollst es aber nicht für mich tun, du sollst es für alle tun.«
Er schwieg und senkte den Kopf.
»Wenn Ihr es wünscht, dann will ich es auch für alle tun.«
»Du sollst nach Landau hinein. Wirst du das fertig bringen?«
»Ich habe es schon einmal fertig gebracht.«
»Er bringt sich noch um Kopf und Kragen«, sprach der Vater besorgt und legte die Hand ums Kinn. »Wollt Ihr einen Tee, gnädige Frau?«
»Bringt etwas Warmes, es kann auch eine Suppe sein.«
Der Wirt ging in den niederen Küchenraum, an der Tür blieb er noch einmal stehen, schaute seinen Sohn an und schüttelte den Kopf.
»Ich habe drei verloren, gnädige Frau, er ist der Letzte.«
Er schloß die Tür.
»Du hast gehört, was der Vater gesagt hat. Willst du es diesmal wieder tun?«
»Wie könnt Ihr fragen!«
29 »Es ist gefährlich.«
»Was wäre ich vor Euch, wenn Jeder es fertig brächte.«
Die Frau knöpfte den grauen Mantel auf und brachte ein Paket zum Vorschein.
»Dies sind tausend Flugblätter, die vom Sturz Napoleons berichten, ich habe sie in Speyer geholt, du sollst sie nach Landau hineinschmuggeln. Was sagst du dazu?«
»Gebt her.«
»Wird es nicht zu gefahrvoll für dich sein?«
»Habt keine Sorge. Gott ist mit mir und – der Gedanke an Euch.«
»Knabe.« Sie lächelte ihn an.
»Ich bin kein Knabe mehr.«
»Du weißt nicht einmal, wer ich bin.«
»Danach frage ich nicht. Gebt mir das Paket.«
»Es ist viel, was du tust.«
»Es ist nichts.«
»Du wirfst dein Leben fort?«
»Ich werde nicht sterben, das weiß ich. Sind die Russen schon überm Rhein?«
»Ich habe von einzelnen Streifen gehört. Kosakenregimenter sind auf der badischen Rheinseite.«
»Die Franzosen sind überall auf dem Rückzug, durch die Wälder flüchten sie nach Frankreich. Wir haben hier vor acht Tagen die letzten Franzmänner gesehen, aber in Neustadt sollen sie noch sein.«
Er schaute die Frau fragend an, ein seltsamer Zweifel lag in seinen Augen.
»Glaubt Ihr, daß Napoleon untergehen kann?«
»Auch der Größte kann stürzen über Nacht.«
»Aber Napoleon?!«
»Auch Napoleon.«
Er spielte unruhig mit den Händen, etwas schien ihn noch zu bedrücken, er quälte sich damit herum.
»Jetzt werden die Russen ins Land kommen?« fragte er zögernd und kaute auf den Lippen.
»Als unsere Befreier.«
Er schaute sie an und antwortete nicht, er drehte unruhig den Kopf und zog die Schultern hoch.
»Warum fragst du nach den Russen?«
»Ich habe Furcht«, erwiderte er.
30 »Furcht hast du?!«
»Nicht für mich, oh, ich fürchte mich nicht vor den Gänseaugen.«
»Nicht für dich? Für wen denn sonst?«
»Für Euch, gnädige Frau.«
Er senkte den Kopf, eine leichte Röte schwamm in sein Gesicht, er wurde verlegen und wandte sich unwillig ab.
»Du brauchst dich nicht um mich zu sorgen.«
Er sprach es leise und mehr zu sich selbst: »Nachts ist mir das schon so erschienen, ich weiß selbst nicht, wie. Als ob eine Gefahr für Euch – nichts davon, nichts. Gebt mir das Paket!«
Sie gab ihm das Paket mit den Flugblättern.
Der Wirt brachte den Tee.
Sie tranken beide, die junge Frau und der Knabe.
Sie saßen schweigend alle drei, einmal kam die Frau des Wirtes herein und setzte sich zu ihnen an den Tisch.
»Kommt jetzt wirklich die Freiheit?« fragte sie.
»Freiheit«, sprach die Frau im grauen Soldatenmantel, »Freiheit, was ist das? Ich glaube, wir wissen es alle nicht.«
Nach einer halben Stunde brachen sie auf.
Der junge Mensch zog einen schweren Mantel an und stülpte eine Mütze über Kopf und Ohren.
Er verbarg das Paket unterm Mantel und ging wortlos hinaus.
»Er ist der Letzte«, sprach wiederum der Wirt, die Mutter stand starr, aber gläubig. Ohne Tränen stand sie, denn sie hatte, wie viele in diesem Land, das Weinen verlernt.
Draußen brachte der junge Mensch das gesattelte Pferd. Sie trat vor ihn hin.
»Gott sei mit dir«, sprach sie still und lächelte ihn an. Er nahm ihre Hand und kniete vor ihr nieder in den Schnee, ganz gefangen von seiner Jugend und von der Unbändigkeit seines Herzens.
»Was tust du, stehe auf. Du bist noch ein Knabe.«
Er stand vor ihr und schaute sie an, sie sah die Tränen in seinen Augen glänzen.
Da nahm sie seinen Kopf in beide Hände und küßte ihn auf den Mund.
Er stand verwirrt und blutübergossen, er zitterte und bebte, er schämte sich seiner Tränen.
»Ich könnte sterben für Euch«, sprach er.
Sie legte den Arm um ihn und schaute ihn noch einmal an.
31 »Nicht für mich, für etwas Großes mußt du sterben können. Leb wohl.«
Sie stieg in den Sattel und ritt in das Schneetreiben hinein. Er schaute ihr nach, sie versank wie ein Schatten in der grauen Wand.