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Gegen elf Uhr morgens trat der Capitaine Marcel Foreste, Commissaire militaire de la gare Bergweiler, auf den Bahnsteig und schaute dem abfahrenden Regiezug nach. Außer einigen Poilus war niemand ausgestiegen, der Bahnsteig war leer, der Zug war leer, auch die Kasse mit den Regiefranken war leer, der Zug schien wahrhaftig nur zu seinem persönlichen Vergnügen zu fahren. Der Cheminot mit der goldbetreßten Mütze und der schwarzen, schmierigen Joppe nahm das Ausfahrtsignal zurück, die Drähte klirrten. Er gab schon die Einfahrt für den Gegenzug frei, ging dann ins Büro und schrieb die Zeit ins Fahrbuch.
Marcel Foreste kam hinterher, gelangweilt schlug er mit der 473 Reitpeitsche auf die gelben, hohen Schnürstiefel, zündete eine Zigarette an und verfluchte die Eintönigkeit des Dienstes. Die Telegraphenapparate klapperten, ein widerwärtiges Geräusch für ihn. Das Telephon rasselte, die Strecke meldete die Durchfahrt des Zuges.
Capitaine Foreste, der Südfranzose mit dem quittengelben Gesicht, dem schwarzen Schnurrbärtchen und den dunklen, ovalen Augen, empfand als niederträchtig, was zu tun er hier gezwungen war. Es schien ihm nicht erstrebenswert, in diesem verdreckten und verkommenen Bahnhof zu sitzen, in der Wohnung eines ausgewiesenen Eisenbahners mit zusammengestoppeltem Mobiliar zu hausen und den öden Regiebetrieb zu überwachen. Er war erst wenige Tage hierher kommandiert, sein Vorgänger war nach Mainz gekommen, es war alles so haarsträubend sinnlos.
Und außerdem war es verächtlich und unwürdig, einen geschlagenen Feind, der sich nicht mehr wehren konnte, so gemein zu behandeln.
Kannibalen, fi donc. Die große Nation. Hatten die Menschen denn kein Schamgefühl mehr?
Er ging in den Wartesaal, er stieß den Zigarettenrauch erregt durch die Nase, die Peitsche fuhr sausend durch die Luft.
Mon dieu, wie es hier stank, ein Gemisch häßlicher Gerüche. Papierfetzen und Speisereste lagen auf dem Boden, vollgespuckt, wohin man schaute, schmutzige Fenster, ein zerschlagener Ofen, beschmierte Bänke und Tische, überall Zigarettenstummel, fi donc.
Fi donc!! Er wandte sich angewidert ab, er ekelte sich vor allem, was er sah und roch, nein, er taugte nicht zum Besatzungsoffizier, ihm war zum Kotzen zumute. Er empfand etwas unsagbar Schales und Niedriges, bei Gott, dies war die erbärmlichste Seite des Krieges, ein schändliches Finale.
Der Regiezug aus Richtung Zweibrücken meldete, wieder klirrten Drähte, durch die Wände hindurch hörte der Offizier die Telegraphenapparate mit ihrem zänkischen Geschwätz.
Durch einen offenen Türspalt konnte er die marokkanische Wache sehen. Sie lungerten auf den Bänken herum, einer sang, was kein Europäer verstand, ein gedehntes, leierndes und schwermütiges Lied. Es roch wie in einer Menagerie.
Nichts als ein trüber Schlußakt, das Ehrgefühl verkam, das Schamgefühl verkam, Rheinlandpolitik, ich sterbe vor Ekel.
Marcel Foreste starrte auf die Plakate, die zwischen den herabgerissenen Tapeten an die Wände geklebt waren.
474 Venez chez nous. Côte d'Azur. Chamonix.
Chamonix.
Foreste schloß die Augen, er ging über eine silberne Brücke. Der Schmutz versank, der Gestank zerstob, die Schamlosigkeit wich, der Offizier sah plötzlich den Gletscher und den Fels, den glitzernden Firn und die maßlos einsame Höhe.
Welch eine Reinheit, – – Seil und Pickel, Schneeschuh und Seehundfell, Bergkameradschaft – – fern, unerreichbar fern.
Er verließ den Wartesaal und dachte, ›die größte Gefahr des Siegers wäre, daß er sein Schamgefühl verlöre.‹ Die Septembersonne stieg über die kahlgeschlagene Bergkuppe, es wurde warm und hell und die Vögel sangen immer noch.
Foreste ging in den Wald, den sandigen Weg stieg er aufwärts, es roch nach Kiefernharz, Gespinst zog durch die Luft, die Bäume atmeten und das Heidekraut blühte. Der Offizier blieb stehen und schaute durch eine Lichtung ins Tal hinunter. Es war alles so unsagbar feierlich, er sah den roten Sand, die Kiefern und die Heide, den Septemberhimmel und den Wolkenkranz im Süden. Er stellte sich vor, wie dieser Erdball mit seiner Reinheit und mit seinem Schmutz, mit seiner Schönheit und Verkommenheit, mit seinen Gipfeln und Abgründen und mit seinen unersättlichen Menschentrieben durch den Raum gewirbelt wurde, nichts als eine krause Schöpfungslaune, ein amüsanter Einfall zwischen der Geburt zweier Zentralgestirne.
»Mais les hommes!« rief Foreste laut und griff sich mit beiden Händen an die Schläfen, »les hommes!!«
Er wollte weitergehen, da sah er eine junge Frau zwischen dem Kiefernjungholz auftauchen.
Eine schlanke, blasse Frau mit dunkelblonden, gescheitelten Haaren, einem rundlichen Gesicht und einer kleinen Nase, die ein wenig unternehmungslustig nach oben strebte. Die Frau führte einen etwa sechsjährigen Knaben an der Hand.
»O Gott«, hörte der Offizier die Frau leise sagen, dann sah er, wie ihr Gesicht vollends die Farbe verlor, sie blieb stehen, zog den Knaben fester an sich und hielt angstvoll die flache Hand vor den Mund.
Der Franzose trat näher und lächelte.
»Sie sind erschrocken, madame?«
»Ja, ich bin – erschrocken.«
Sie faßte jetzt mit der Hand nach der Brust, als wollte sie das 475 stürmische Klopfen des Herzens beschwichtigen. Sie schaute nach rückwärts und suchte nach einem Halt.
»Mir ist so – sonderbar«, hauchte sie, dann fühlte sie, wie ihr schwindelig wurde.
Einen Augenblick stand sie wie in einem Nebel, aber der Nebel zerrann, der Offizier hatte sie in den Armen und ließ sie ins Heidekraut niedergleiten.
Sie lag zwischen den Blüten, mit geschlossenen Augen, der Knabe stand scheu zur Seite mit weit geöffneten Augen.
»Mein Vater ist fort«, sprach der Knabe stotternd, »mein Vater ist nicht hier. Ich habe solche Angst.«
»Du brauchst keine Angst zu haben, es sind keine Wölfe hier.«
Er fuhr dem Knaben über den Scheitel.
Dann beugte er sich zu der Frau nieder, sie hatte immer noch die Augen geschlossen. Er sah, daß sie schön war, voll Liebreiz und ganz von Fremdheit umgeben. Er nahm sie in die Arme, um sie aufzurichten, und als er sie in den Armen hielt, durchlief ihn ein seliger Schauer, eine unaussprechliche Wärme strömte auf ihn über, eine Weile war ihr Kopf ganz an seine Brust gesunken.
Sie schlug die Augen auf, er sah, daß sie blau waren und weit über ihn hinausschauten. Er sah auch, daß die Lippen blutleer waren und trocken vom Schreck und von der Schwäche.
Sie richtete sich auf und schaute sich ängstlich um, als sie nichts Verdächtiges entdeckte, atmete sie erleichtert auf. Und als der Franzose lachte, da lächelte sie auch, es war nur ein scheues Lächeln, aber es nahm sich wie Befreiung aus.
»Ich will weitergehen«, sprach sie zögernd und wollte aufstehen, er faßte sie aber am Arm und hielt sie zurück.
»Bleiben Sie, madame. Es ist gut, wenn Sie sich noch eine kleine Weile ausruhen. Wie heißt der Knabe?«
»Peter.«
»Peter? Oh, très bien, Pierre, ein schöner Name.«
»Ja, sein Onkel heißt Peter, sein Großvater heißt Peter, und sein Urahne hieß auch Peter, den haben die Franzosen erschlagen.«
»Erschlagen? Oh, madame!«
»Ja, das waren Soldaten vom Kaiser Napoleon. Sie kommen immer wieder, das nimmt kein Ende.«
Er wandte ihr den Kopf zu und schaute sie mit funkelnden Augen an.
476 »Muß das sein, madame?« rief er erregt. »Ist denn der Haß ein Gesetz?«
Sie antwortete nicht, sie schaute ihn von der Seite an und dachte, ›er müßte wohl krank sein oder aber sein Spiel mit ihr treiben, weil er so sonderbar daherredete, wie einer, der verabscheute, was im Lande vor sich ging. Rätselhafter Mensch mit Träumeraugen, gar kein Soldat wie die andern. Er sprach auch fließend deutsch, das reine Wunder mit Käppi und Reitpeitsche.‹ Sie sah, daß er das Kreuz der Ehrenlegion besaß.
»Auch der Krieg nimmt kein Ende. Leben wir vielleicht im Frieden? Wir darben und hungern und frieren, und die Angst sitzt uns Tag und Nacht in der Kehle. Warum leben wir denn überhaupt?«
»Die Völker haben den Verstand verloren. Hören Sie gut, was ich sage: die Völker, nicht die Menschen.«
»Sie sprechen wie ein Deutscher.«
»Südfranzose, madame. Aber ich habe viele Jahre in Deutschland studiert. In München. Ich kann deutsch sprechen ausgezeichnet, ich kann auch sagen Haus und Hans, nix Aus und Ans. Ha ha ha.« Er lachte fröhlich und wandte sich dem Knaben zu.
»Attention, ich will dir beweisen, was ich kann.«
Er hob den Zeigefinger und sprach nun fast wie eine Kasperlefigur, jedes Wort einzeln betonend: »Hinter Hansens Hasen-Haus, hängen hundert Hasen heraus. Hundert Hasen hängen heraus, hinter Hansens Hasen-Haus. Na, ist das gutt oder ist es nix gutt?«
Wieder lachte er laut hinaus, nahm das Käppi vom Kopf und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn.
»Und wo ist der Vater, Knabe Peter?« fragte er plötzlich unvermittelt und runzelte ein wenig die Stirn, daß die Frau schon wieder erschrak. Sie zog den Jungen am Arm und schaute den Capitaine sorgenvoll an.
»Mein Mann ist nicht hier.«
Sie strich die Haare aus der Stirn und senkte den Kopf, von unten heraus schaute sie sich spähend um, ihr Blick verriet fast, was in ihr vorging.
»Mein Mann ist überm Rhein«, sprach sie hastig, »mein Mann ist ausgewiesen.«
»Oh, das tut mir aber leid, das ist schade, ma foi.«
»Ja, und ich möchte jetzt gehen.«
Sie erhob sich, man merkte ihr an, daß sie plötzlich Eile hatte, aus 477 der gefährlichen Nachbarschaft des Franzosen zu kommen. Sie drückte sich scheu beiseite, nahm den Knaben bei der Hand und nickte dem Offizier mit einem verzerrten Lächeln zu.
»Ich bin nicht schuld, madame, bitte sind Sie nicht böse auf mich.«
Er stand aufrecht zwischen den jungen Kiefern, sein Blick glitt wohlgefällig über ihre Gestalt, es drängte ihn, irgend etwas Tröstliches zu sagen.
»Wenn ich etwas tun kann für Ihren Mann, dann will ich das –« er preßte beide Hände gegen die Brust – »avec tout mon coeur, madame.«
Er stand unbeweglich, als sie mit dem Knaben den übersonnten Sandweg hinunterging.
Foreste blieb noch eine Weile oben, er setzte sich in die Heide, atmete den harzigen Duft der Kiefern ein und sah im Geiste immer noch die stille und schöne Frau mit dem Knaben. Der Gedanke an sie hatte fast etwas Friedliches, man vergaß, daß sich die Völker haßten, ein einzelner Mensch hatte vermocht, eine verborgene Andacht zu verbreiten.
Foreste fühlte, daß er nicht hierher gehörte, daß er ein Fremdling war, in räuberischer Absicht als Vertreter seiner Nation gekommen. Der Mensch aber in ihm hatte ganz andere Vorstellungen, er fand es verächtlich, was geschah, weil es an Wehrlosen geschah.
Das war die große Gefahr, die hinter dem Siegreichen stand, daß er die Würde verlor, daß der Haß und die Rachsucht ihn blendeten, daß er sich beschmutzte an seinem Triumph.
Foreste erhob sich, ihn quälten schwarze Gedanken, er war ein guter Soldat, aber ein schlechter Sklavenhalter.
Er ging den Sandweg hinunter ins Tal.
Es gab einen sonderbaren Ausgleich in der Welt, Gott duldete keine Herrschsucht auf längere Sicht. Gott schlug auch den Sieger, er nahm ihm die Menschenwürde.
Als Foreste zum Bahnhof kam, hörte er, daß man in der Nacht einen Dynamitanschlag auf den Straßburger Regie-Expreß gemacht hatte. Einige Menschen waren dabei ums Leben gekommen. Foreste zuckte die Achseln und lächelte. Nicht zu fassen, wie zäh diese Deutschen waren, sie setzten ihr Leben ein für eine nutzlose Sache. Waren schon leergeblutet und zuckten immer noch. Sterbend schon, schlugen sie noch um sich, im Verlöschen blieben sie wehrhaft und Soldaten.
Soldaten bis in die Gruft. Was für Menschen, was für ein Volk!
478 Foreste unterschrieb einige Ordonnanzen.
Zwangsmaßnahmen und Repressalien, Verbote und Sperren, Besatzungslasten und Pfänderausnützung, verkappte Geschäftemacher und Separatistenmitgliedskarten, eine trübe und schmutzige Flut übler Machenschaften, eine Bankerotterklärung der Vernunft. Hier saß ein Offizier und mußte Krämergeschäfte erledigen.
Gegend Abend kam Monsieur Batouche, ein Beamter der Sûreté, und berichtete, er habe Meldung, daß ein ausgewiesener Eisenbahner sich in der Gegend herumtreibe, vermutlich würde er beim Einbruch der Dunkelheit in ein Haus einschleichen.
»Die Verkehrssperre ist verschärft«, sprach der Gendarm.
»Das weiß ich. Melden Sie sich hier um neun Uhr. Ist Ihnen die Wohnung bekannt? Wer soll es denn sein?«
»Der Vorstand dieser Station.«
Um neun Uhr ging Foreste mit dem Sicherheitsbeamten und zwei Marokkanern zu einem niederen Haus am Ausgang des Dorfes. Der Gendarm klopfte heftig gegen das Tor.
Eine alte Frau, zitternd und frierend, öffnete.
»Haben Sie keine Angst«, sprach der Capitaine, »wohnt bei Ihnen die Frau eines ausgewiesenen Eisenbahners?«
»Ja, Herr, aber in der Mansarde.«
Foreste wandte sich zu seinen Begleitern.
»Zwei Mann hinten, ein Mann vorn das Haus bewachen. Ich gehe allein hinauf.«
Er kam, zwischen Kisten und Kasten, Hausrat und Gerümpel sich durchwindend, vor eine niedere Tür. Wieder griff er nach der Pistole, zögerte tief atmend und klopfte.
Er trat dann rasch entschlossen in eine spärlich beleuchtete Dachkammer und schloß sofort hinter sich die Tür.
»Kontrolle der Sûreté, madame.«
Er prallte zurück und nahm die Hand vom Gürtel, er hörte plötzlich und überraschend sein Herz klopfen.
Am Tisch, im Schein einer Petroleumlampe, stand die junge Frau, die er im Wald mit dem Knaben getroffen hatte.
Sie stand furchtsam, aber aufrecht, das Haar ein wenig in Unordnung, die Augen voll ihm zugewandt, den Mund halb geöffnet. Mit einem Arm stützte sie sich auf den Tisch, die Hand fuhr nervös zitternd durch das aufgelockerte Haar.
»Was wollen Sie von mir?«
479 Capitaine Foreste machte einige Schritte auf sie zu, er überlegte blitzschnell, was zu tun wäre, eine Horde von Gedanken bestürmte ihn.
»Madame«, sprach er mit gedämpfter Stimme, »hier steht nicht einer, hier stehen zwei vor Ihnen. Der französische Offizier, der seine Pflicht tun muß, und der Mensch, der diese Pflicht im Augenblick verwünscht. Machen Sie es dem Menschen nicht schwer, madame.«
»Was – – wollen – – Sie von – – mir?!«
Foreste schaute sich im Zimmer um. Dies war kein Zimmer, es war eine elende Höhle. Zwei Betten und ein Tisch, Stühle und kümmerlicher Hausrat. Ein Petroleumkocher. Nacktes Dachgebälk und alte Ziegeln.
»Hören Sie, madame, antworten Sie nur auf das, was ich frage. Antworten Sie sonst nichts.«
»Ich weiß nicht – – was ich antworten soll.«
»Befindet sich Ihr Mann hier im Hause?«
»Mein Mann ist nicht hier.«
»Ich müßte ihn verhaften. Verstehen Sie mich, madame, ich müßte ihn verhaften, ich bin französischer Offizier.«
»Ich verstehe es.«
»Wenn Sie sagen, daß Ihr Mann nicht hier ist, dann kann ich ihn auch nicht verhaften.«
Er trat zu dem kleinen Bett und sah den schlafenden Knaben, er beugte sich nieder und hörte die gleichmäßig tiefen Atemzüge.
Langsam wandte er sich ab, blieb vor der Frau stehen und schaute sie lange an. Er sah, wie sie erschrak und scheu zurückwich, er sah auch die Erregung in dem schönen Antlitz und den Mund mit den geworfenen roten Lippen. Im Wald oben war dieses Gesicht anders gewesen, verschlossener und erstarrter, die Lippen trocken und blutleer.
Jetzt war das Gesicht wie eine aufgeschlossene Blüte, schön auch in der Furcht und im bangen Flackern der blauen Augen.
»Ein Rätsel ist der Mensch«, sprach der Offizier und hob eine Hand vor die Stirn. »Haben Sie keine Angst, ich werde nichts tun, was verwerflich ist. Der Mensch in mir, madame, streift alles ab, was zwischen uns ist. Ich weiß nicht, warum ich so vor Ihnen stehe.«
Er schaute an ihr vorbei nach der Wand, die Augen wurden größer, sein Kopf schob sich vor, er fühlte, wie das Blut in ihm zurückwich, verdammt, er hatte das Käppi noch auf dem Kopf. Er nahm es ab und griff wieder mit der flachen Hand nach der Stirn.
480 An der rohen Holzwand hing ein Bild, eine Photographie in einem billigen Goldrahmen.
Der Capitaine Marcel Foreste trat auf das Bild zu, er nahm es staunend von der Wand und schaute es an, als ob es ein Wunder wäre.
»Wie kommt das Bild zu Ihnen?«
Auf der Photographie sah man eine verschneite Hochgebirgshütte, davor zwei Menschen, der eine hatte den Arm um die Schultern des andern gelegt. An der Hüttenwand lehnten Schneeschuhe, den Hintergrund bildeten Gletscher, Fels und einsame Gipfel. Unter dem Bild
Brüder im Fels
Bovalhütte 11. 3. 1912
»Qu'est ce que c'est, madame?«
Ihm war, er träumte, als er das Bild in Händen hielt.
»Mein Mann ist Bergsteiger und Skiläufer.«
Foreste kam aus einer Ferne zurück, sein Blick traf voll unbeschreiblichen Erstaunens die zitternde Frau.
»Das bin ich auch, madame. Dieser auf dem Bild ist Ihr Mann?«
»Ja, das ist mein Mann, und – –«
Plötzlich fiel es ihr ein, es kam überraschend und wie ein Blendlicht. Sie forschte in den Zügen des Franzosen und wußte mit einemmal, warum ihr etwas so sonderbar vertraut erschienen war in den Zügen des Fremden, als sie ihn oben im Wald gesehen hatte.
»Sie sind – – der – – andere?!«
»Der andere.«
Mit beiden Händen hielt er das Bild und starrte darauf, eine Brücke wölbte sich in die Vergangenheit hinüber. In der öden Dachkammer, wo er als Häscher stand, wurden die Gestalten bewegter Tage lebendig, aus dem Unrat des Hasses brach es auf wie eine verschüttete Pflanze.
»Dann sind Sie Marcel Foreste?«
»Ihr Mann – ist – – Richard Aust!«
Der Franzose sprach nicht weiter, er hatte Mühe, sich zurechtzufinden, er stand im gelben Licht der Lampe und fühlte, wie eine qualvolle Scham in ihm hochkam.
»Ihr Mann hat mich aus dem Gletscher getragen, ich weiß nicht, ob Sie das begreifen. Auf seinem Rücken hat er mich aus der weißen Hölle gebracht. Ihr Mann hat mir das Leben gerettet!«
481 »Das ist nur Kameradschaft und Pflicht, Sie hätten es gewiß nicht anders gemacht.«
»Dank, madame, daß Sie an mich glauben.«
Er hing das Bild an die Wand zurück, senkte den Kopf und überlegte. Langsam kam er auf die Frau zu und blieb mit niedergeschlagenem Blick vor ihr stehen.
»Sagen Sie mir, wie Sie heißen, madame.«
»Ich heiße Maria.«
Er hob den Blick und schaute ihr voll in die Augen.
»Maria, Madonna Maria!«
Stille. Die Atemzüge des Knaben waren vernehmbar.
›Madonna Maria‹, dachte der Franzose.
»Sie haben ein kleines Buch geschrieben, das heißt ›Tage und Nächte im Fels‹. Das Buch haben Sie meinem Mann gewidmet.«
»Wir haben viele gemeinsame Bergfahrten gemacht.«
»Mein Mann hat einen Bruder, der ist Journalist, er hat das Buch für uns ins Deutsche übersetzt, ich habe es auch gelesen.«
»Oh, das ist gut, Sie haben es selbst gelesen? Und wo ist der Bruder?«
»Überm Rhein. Und sein Vetter ist Forstmeister, er sitzt in Landau im Militärgefängnis.«
Der Satz traf ihn wie ein unsichtbarer Hieb, er zuckte zusammen, eine Beklemmung kam über ihn.
»Ich habe mir in vielen Jahren immer gewünscht, ich dürfte einmal wieder mit Ihrem Mann zusammen sein. Wenn Gott lebt, dann soll er verhindern, daß ich ihm jetzt begegne.«
Er machte eine rasche Bewegung, hob die Hand und sprach: »Der Freund fragt Sie, Maria: ist Ihr Mann hier gewesen?«
Sie senkte den Kopf und schwieg.
»Ich weiß genug, auch wenn Sie nicht antworten. Nehmen Sie meine Hand und glauben Sie mir: ich will tun, was ich kann, um ihm nicht gegenüberstehen zu müssen.«
Sie griff nach der Hand, die Angst brach aus ihren Augen, ihre Stimme war verändert.
»Und wenn Sie ihm gegenüberstehen, Marcel Foreste?«
»Dann will ich daran denken, daß ich das Ehrenkleid des französischen Soldaten trage, und daß wir einmal Brüder gewesen sind im Fels.«
Er ging eilig und schloß hinter sich die niedere Tür.
482 Die Taschenlampe blitzte auf.
Er leuchtete ins Gebälk hinauf, er blieb vor der steilen Treppe stehen.
Welch eine Behausung, aus dem Haß geboren. Faules Gebälk und Unrat der Jahrzehnte, Spinnweb und Staub und bedrückende Enge. Übler Geruch von Moder und altem Gerät, von Rauch und Feuchte, die in den Winkeln festgenistet saß.
Hier wohnte die Frau eines Menschen, mit dem er in die Reinheit der Gipfel gestiegen war, mit dem er oben gestanden hatte auf den höchsten Ausläufern der Erde, nichts über sich als den Himmel und die Trunkenheit der einsamen Höhe.
Über sich Gott und in sich Gott.
Und hier eine Höhle, nichts als eine jämmerliche Höhle.
Er polterte die abgetretenen Holztreppen hinunter.
›Madonna Maria‹, dachte er verworren.
›Madonna Maria.‹
Als er durch das Tor ins Freie trat, waren die Marokkaner fort; auch der Beamte der Sûreté war fort.
Capitaine Marcel Foreste hatte eine trübe Ahnung.
Er ging mit schleppenden Schritten, das Grauen schlich unsichtbar an seiner Seite. Ganz erfüllt war er von Ekel und Abscheu. Nein, er taugte nicht zum Besatzungsoffizier.