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Einige weinten am Strande und einige auf dem Schiffe. Der dritte Januarabend dieses Jahres 972 war mild. Die Lichterschnüre des Bukéolon spiegelten in ruhigen Wassern. Sie hatten gewollt, daß ich nachts ausführe, damit mir die Trennung leichter würde. Aber ich spürte nicht mehr, daß ich Abschied nahm. Anastasia Dalassena hatte ihren Arm um meine Schulter gelegt, als ob sie mich in Schutz nehmen müsse. Niketas Kurkuas hielt sich in unserer Nähe. Die Deutschen, unter Führung des Erzbischofs Gero von Köln, standen abseits, gegen die Mitte der Staatstrireme, die mich nach Italien bringen sollte. Nur der Graf Hugo von der Wetterau, der mir als Verbindungsoffizier beigegeben war, hatte sich zu unserer Gruppe gesellt. Ich liebte ihn, weil er schön, lautlos und gütig war. Auch Anastasia und Niketas liebten ihn.
Als das Zeichen zur Abfahrt gegeben wurde, als der Trommelschlag den Takt der Ruder anzeigte und die Tuben im Wehen der weißen Seidenbanner die kaiserliche Hymne anstimmten, wollte mich Anastasia vom Bord des Hinterdeckes fortziehen. Aber ich wehrte ihr und blieb an der Balustrade lehnen. Ich winkte nicht zurück gegen die aufgehobenen Hände. Ich stand teilnahmslos, der Welt enthoben, in der ich bis zu dieser Stunde gelebt hatte, mir selbst enthoben – und unverbunden auch der Welt, in die mein Schicksal mich verwies. Ich stand, wie wenn ich zwischen Meer und Himmel schwebte, ein Etwas, das sich erst begreifen lernen mußte. Ich weiß nicht, wie lange ich so stand. Als ich mich umwandte, war das Zittern der Lichterschnüre im Wasser verschwunden. Über mir funkelte das Firmament so nahe, als ob ich die Sterne greifen könne, und die Brise strich mir um die Schläfen. Ich fühlte, daß ich hungrig war, und befahl, daß man die Abendmahlzeit richte. Mit starkem Wein und viel Musik. Anastasia sah mich aus erschrockenen Augen an. Niketas lächelte mir zu – und nahm mir den Abendmantel von den Schultern, ehe wir die goldbestäubten Treppenstufen in die unteren Schiffsräume hinabstiegen ... Goldstaub wie in der Magnaura von Byzanz? Hatten sie vergessen, daß die Fahrt nach Westen ging?
Ich bat den Erzbischof und den Grafen Hugo an meine Tafel. Sie waren beide ein wenig befangen. Hatten sie erwartet, daß ich auch, wie die am Ufer, weinen würde? Leo Akritas, der Sekretär des Niketas, las uns nach Tisch Gedichte von Bakchylides aus der eben erschienenen Anthologie des Konstantinos Kephalós vor. Dann eine sehr lustige Szene aus einer Komödie des Menander von Kōs. Niemand von dem deutschen Geleite, außer Gero von Köln und Graf Hugo, verstand Griechisch. Von dem meinen verstand nur Niketas so viel Deutsch, als er durch mich wußte. Ich selbst hatte es schon seit dem Juni des Jahres 971 gelernt, nachdem ich Tsimiskes meine Einwilligung zu der Heirat mit dem deutschen Kaiser gegeben hatte. Auf dem Schiffe, so war ausgemacht worden, würde mich Gero unterrichten. Auch würde er fortfahren, mich über Lage und Politik des Reiches aufzuklären, wie er es schon zwei Monate lang in Byzanz getan hatte. Es war ihm entgangen, daß ich manchmal über seine Ausführungen lächelte. Wie hätte er wissen können, daß ich die Akten des byzantinischen Außenamtes nicht nur gelesen, sondern studiert hatte? Ich gab mein Geheimnis nicht preis und ließ ihn reden. Er wußte viel und war von guter Bildung. Aber er vergaß in seinem Eifer manchmal den überprüfenden Geist der Byzantinerin. Ich hätte ihm Fragen stellen und ihn verwirren können. Wozu? Er meinte es gut für seinen Kaiser und sein Vaterland. Er war überzeugt, das Beste zu tun. Auch für mich. Manchmal hatte Hugo von der Wetterau den Vorträgen Geros beigewohnt. Ich hatte ihn niemals lächeln gesehen. Aber ich wußte, daß er im Inneren lächelte, wenn Gero in einen väterlichen Ton verfiel. Einmal, als ich Hugos Ansicht über die Kaiserin Adelheid befragte, schien Gero fast beleidigt: Über diese Frau gäbe es nur eine Meinung: daß sie die fürstlichste Fürstin des Abendlandes sei und jenseits aller Fragestellungen stehe. Also, sagte ich mir, muß man ihr mit großer Vorsicht begegnen. Tsimiskes hat recht. Ob Hugo Weisungen erhalten hatte, sich auszuschweigen? Er bestätigte niemals Geros Darlegungen. Er tat den ihm vorgeschriebenen Dienst gewissenhaft, doch ohne Beflissenheit. Gero war immer der Beflissene. Ob viele Deutsche sind wie er? Gero war Westfale, Hugo Franke. Ich hatte schon in Byzanz begonnen, über Stammesunterschiede nachzudenken. Gero war groß, fast hager, und von lichtem Blond. Hugo war dunkelblond, schlank, doch von mittlerer Gestalt. Er hatte ebenmäßige Hände und graue Augen innerlichen Lichtes. Von ihnen lebte sein Gesicht. Und von der Anmut seines Mundes. Ich liebte es, diesen ruhenden Mund zu betrachten, der keine bösen Dinge sagen konnte wie der meine – und doch zu spotten wußte in den Winkeln.
Als man den Sorbet vor dem Schlafengehen brachte, ließ ich lydische Lieder spielen, welche Gero »fremdartig« fand, Hugo »ergreifend«. Danach armenische aus der Gegend des Wansees. Und schließlich phrygische von Sarpedon von Synnada. Gero verstand sie nicht, Hugo summte sie schon in der zweiten Strophe nach. Bald sang er sie mit seiner dunklen Stimme. Er hatte die Gabe, sich verzaubern zu lassen, ohne sich zu verlieren. Plötzlich schoß es mir durch den Sinn: Was würde der Kaiser zu diesen Liedern sagen?
Als alle gegangen waren, stieg ich mit Anastasia und Niketas noch einmal auf das Deck empor.
Unsäglich standen Nacht und Meer, mit ungeheurem Duft von Salz und Tang. Der Gürtel des Orion flammte gegen Osten.
Lange lag ich später vor dem Bilde der Theotokos ... Und schlief dann traumlos bis in den hohen Morgen.
Es war der Wunsch des Kaisers Tsimiskes gewesen, daß diese Reise in das Abendland mit vielen Landungen unternommen würde. Ich solle meine Heimat kennen, ehe ich sie verließe, und die Heimat solle wissen, was diese Reise für die Welt bedeute. Es war schon ein Geschwader vorausgefahren, um meine Aufenthalte in den Häfen anzukündigen: in Lesbos, Chios, Euboia, Sunion, Athen, Salamis, Kythera-Platanistos, Kap Matapán, Zakynthos, Kerkyra und Taras ... Wie sie aufstiegen aus der Bläue, die weißen Städte! So weiß, daß das Auge sich mit der Hand beschatten mußte, um ihre Helle zu ertragen. Und wie sie oft geborgen lagen in der Steineichenkühle ihrer abendlichen Berge, von denen das Licht in pfauengrünen Wassern niederfloß! Immer kamen die Kinder in Sonntagskleidern und mit Veilchensträußen an Bord, die Schiffer und die Fischer sangen von den Uferstraßen zu der Trireme herauf, die Prozessionen segneten die Ausfahrt nach der kurzen Rast, und hundert Segel gaben das Geleit bis weit ins Meer hinaus ... Byzanz ... Byzanz ... Dies alles war Byzanz: dieses Gold und dieses Türkis – und immer wieder: dieses Weiß der nie zuvor betretenen Küsten, über denen Hellas stehengeblieben ist ...
Wird eine Welt uns erst lebendig, wenn wir sie verlassen? Gedanke, o wie oft gedacht und tränenlos umweint auf dieser Fahrt in die Bestimmung! Soviel Schönheit, nur gestreift in ihrem Duft – und dann in die Erinnerung verwiesen? Jede Ausfahrt nur ein wehes Verhaftetbleiben dem, das verlassen werden muß ohne Wiederkehr ... O Byzanz – o mein Leben ... Sollte ich schwach werden, weil mich die Schönheit überfiel?
Stundenlang lag ich im Halbdunkel der Kabine und wollte nicht sehen. Und andere Stunden lang wieder hing ich am Geländer des Schiffes. Weiß ich euch noch, ihr oleanderroten Abenddämmerungen und ihr hyazinthgrauen Morgenfrühen? Ja, ich weiß euch noch, aber ich kann euch nicht mehr sagen und nicht mehr auseinanderhalten, denn ihr seid eingegangen als ein Zuviel in einen Weg der Entscheidung, der es verbot, daß ich mich ganz an euch verlöre. Ich konnte euch nur wittern – aber ich konnte ahnen, daß ihr in mir aufgespeichert bliebet als eine Quelle der Sehnsucht, vielleicht für eine lange Nacht.
Einen Mittag aber weiß ich noch, als ob er gestern gewesen wäre ... Nicht Mytilene schenkte ihn, wo ich dem Schatten der Sappho begegnete, nicht die Hügelfalten der nespelumdufteten Chios, nicht Euboias flimmernde Küste mit dem Gesang der lässig anlaufenden Wellen, nicht Sunions kalkweiße Einsamkeiten noch der Glanz der Akropolis über dem fahnendurchwehten Athen ... Schon hatten wir die Platanenwälder von Kythera im Erwachen des Tages umfahren und Richtung auf Matapán genommen. Dort war es, daß sich das Licht meinem Leben vermählte, die Überklarheit als das Undurchdringliche ... Ich starrte auf die steilen, kahlen Hänge – und konnte nicht begreifen ... Was war noch Licht und was war Ding? Was war noch Luft und was noch Erde? Wo fing die Woge an und wo der Äther über dem glühenden Strand? Ich ließ die Trireme an den engen Fischerhafen anfahren. Ein paar Boote lagen auf dem Wasser. Kinder schliefen im Sand. Kein Baum, keine Blume im unteren Dorf. In einer rosa-silbernen Hügelfalte die Säule einer Zypresse, und weiter vorn zwei lichte Pappelwipfel. Wäsche – von keinem Hauche bewegt – trocknete auf den Dächern ... Dann war ein Gesang im Feuer der Stunde. Von ferne, aus einem Schattenwinkel am Meer, aus einer schläfrigen Barke, die nicht zu sehen war ... Ich lauschte, erschrak fast ...
O Lied von den Gestaden Homers, Gesang, der die Jahrtausende wiegt ...
Ich lag in meinem Faltestuhl auf dem Vorderdeck des Schiffes. Anastasia und Niketas saßen am Boden. Hugo lehnte am Geländer, aufgelösten Gesichtes: der einzige, der mir in dieser Stunde nahe war. Ein wenig Luft regte sich, wie vom Vorüberflug einer weißen Möwe, und verging. Der Gesang verstummte und hob von neuem an, endlos, stand über dem Meere wie das Licht ...
Da ließ sich der Erzbischof Gero zum Vortrag melden. Hugo warf den Kopf herum, als ob er nicht recht verstanden hätte. Niketas zog die linke Braue hoch. Ich hätte Gero, der schon am Ausgang der Schiffstreppe erschienen war, mit der Peitsche über die Schultern fahren können. Ich sah ihn an: Nein, dieser Mann konnte nicht begreifen, daß es sich nicht ziemte, das Über-Leuchtende mit dem Unfug des Geschehens anzugehen. Er fühlte nicht, obwohl er noch jung war. Er verstand nicht, warum das Schiff schon über zwei Stunden in dem Glaste dieser windlosen Bucht lag ... Ich ließ ihn bis dicht vor mich kommen: Ob er über die schwäbisch-welfische Dynastie des Königreichs Burgund sprechen dürfe ... Ja, sobald ich ihn dazu bitten lasse. Aber das werde auf dieser Fahrt nicht mehr geschehen. Hellas sei wichtiger. Es warteten auf uns noch Ithaka, Kerkyra und Tarent. Er möge sich, wie immer, bei der Abendmahlzeit an meinem Tische einfinden ...
Er stand wie vor den Kopf geschlagen. Ich hatte ihm Grenzen gezeigt, die er überwunden glaubte. »Principiis obsta«, hatte mir Tsimiskes ans Herz gelegt. Ich war die Prinzessin Skleros und würde die Kaiserin des Abendlandes sein. Dies genügte, um eine Haltung einzunehmen und Maßstäbe anzulegen ...
Gero ließ sich an den beiden folgenden Tagen für die Abendmahlzeiten entschuldigen. Als wir auf der Höhe des messenischen Vorgebirges Kyparission lagen, erschien er wieder, entschuldigte sich und erklärte, er habe in dieser einen Mittagsstunde am Kap Matapán mehr gelernt als in vielen Wochen. Ich begriff die Schwere seines westfälischen Blutes, die ihm selbst zur Last werden mußte, und bat ihn, im Umgang mit mir mehr von Fall zu Fall und von Stunde zu Stunde zu denken – wie es sich überhaupt im Umgang mit Frauen gezieme. Es schien mir, er habe diese letzte Bemerkung nicht ganz verstanden, und ich fragte mich, was er überhaupt von Frauen wisse – und was es mit Frauen da drüben für eine Bewandtnis habe. Sollte Tsimiskes wirklich recht haben?
Wir lasen in den nächsten Tagen einige Gesänge der ›Odyssee‹. Ich ging an Land in Ithaka, saß einen Nachmittag in Tulpenwiesen und sah hinunter auf das Meer des großen Dulders: Zu welchem Schicksal zog ich aus? Zu welcher Fahrt und Irrfahrt durch ein ganzes Leben?
Noch immer saß ich, als schon der Abend von den Bergen stieg und nur die Kuppen noch im feuchten Kupfer woben. Hatte ich geträumt durch alle diese Wochen stiller Fahrt? Kein Sturm hatte uns jemals überfallen, keine Wolke uns in Regen gehüllt. Morgen würden wir im Lande der Phäaken sein, die Saiten des Demodokos im Silber der Oliven hören ... Und dann? ... Ja, ich weinte. Zum ersten- und zum letztenmal auf dieser Reise in das Unwiderrufliche. Ich weinte auf den Hügeln von Ithaka, indessen schon die ersten Sterne auftauchten und die Berghyazinthen zu duften begannen. Esel, mit Gemüsekörben beladen, zogen gegen die langsam entschlummernde Stadt. Die weißen Mandelbäume blühten durch die Dämmerung bis weit hinaus gegen den aufsteigenden Rauch der Gehöfte. Unten im Hafen lag das Schiff mit schon entzündeten Lampen ...
»Πολλῶν δ' ἀνθρώπων ἲδεν ἄστεα καὶ νόον ἔγνω,
Πολλὰ δ'ὃ ỷ ἐν πόντῳ πάθεν ἄλγεα ὃν κατὰ θυμόν.«
Wozu, Theotokos – wozu?
Taras – Tarent ... Verschwunden, wie nie gewesen, jede Bangigkeit. Ein pfirsichroter Saum, lag die Stadt eines Morgens über dem violetten Meere. Der Schaum sprühte mir ins Gesicht, als ich am Buge der Anfahrt zusah. Auch dies war noch Byzanz – und dennoch schon ein Fremdes, ein Neues, das den Traum verbot und in Zukunft wies.
Nun mußte ich mich der Aufgabe entsinnen, zu der ich ausgesandt worden war, überzeugend sein in jedem Blick, in jedem Wort: die Frau aus der Magnaura, die Fürstin, die der Basileus zur Mittlerin ausersehen hatte. Ich mußte Schiff und Fahrt vergessen vor der Stunde.
Der Gouverneur kam mir auf der Admiralstrireme der Seefestung entgegengefahren. Der Empfang war laut und kalt. Befohlen. Den kaiserlichen Befehl nicht auszuführen konnte den Kopf kosten. Tarent stand gegen die Westpolitik des Kaisers Tsimiskes, weil es den Deutschen mißtraute. Ich spürte, daß man mich bemitleidete, nicht an die Möglichkeit des Ausgleichs glaubte. Die Offiziere waren ungern in der abgelegenen Stadt. Viele von ihnen hatten in Byzanz Dienst getan, gehörten vornehmen Familien an und waren an die Verwöhnungen der Weltstadt gewöhnt. Sie langweilten sich. Einigen schien es sinnlos, für die süditalischen Themen soviel Gold hinauszuwerfen, ohne daß es sich verzinste. Ein Jugendfreund des Niketas ließ anfragen, ob ich keine Verwendung für ihn in meinem byzantinischen Hofstaat habe. Er gefiel mir nicht, obwohl er als klug und unterrichtet galt. Dies genügte mir nicht. Der Mensch war wichtig, nicht diese oder jene seiner Eigenschaften.
Die Bevölkerung erschien mir sehr arm und gleichgültig gegen ihr Schicksal. Erzbischof Gero behauptete, sie sei durch eine unsinnige Besteuerung ausgesogen und würde wahrscheinlich unter deutscher Herrschaft aufatmen. Vielleicht sogar unter sarazenischer. Ich wollte Gold verteilen lassen. Aber Gero riet mir ab: Es werde den Weg in andere Taschen finden als die der Armen. Ich verlangte vom Gouverneur Bescheid über die Armenpflege. Er wich mir aus: Man könne die Zustände in einer ununterbrochen durch Krieg heimgesuchten Theme nicht mit den geordneten Verhältnissen in Byzanz vergleichen. Ich bestand auf meinem Verlangen. Am Abend wurde unter meinen Augen im Namen des Basileus Tsimiskes an zweihundert Bedürftige Gold verteilt. Ich hatte mich geweigert, an dem Bankett teilzunehmen, ehe der Armen gedacht sei.
Am nächsten Nachmittag machte ich einen Ausflug nach Metapont. Man sollte nie von der Griechin Theophano Skleros sagen können, daß sie versäumt habe, der Sterbestadt des Pythagoras den schuldigen Besuch abzustatten.
Ich hatte beschlossen, einige Tage im Zauber der »Ewig-Leuchtenden« zu bleiben. Es war Ende Februar. Die Tage waren warm wie im April. Die Mimosenhaine dufteten auf Strand und Schiff herüber, das Meer lag blau und still, nur morgens früh und gegen Sonnenuntergang von silbernen Winden überflittert. Ich fuhr an der Küste entlang, stieg aus, wo es mir gefiel, verweilte, solange ich wollte – schuf mir die letzte Sammlung vor dem Aufbruch. Der Erzbischof Gero war mir zum Freunde geworden. Er hielt mir keine Vorträge mehr, aber er unterrichtete mich – ohne Pathos und der Wahrheit gemäß – über Dinge, die es zu wissen galt. Erst nun erkannte ich seinen Wert. Sein Leben war: Gehorchen und Dienen. So wie ein Herr gehorcht und dient, nach sächsischer Auffassung.
Sechs Tage nach meiner Ankunft waren alle Vorbereitungen auf der Appischen Straße beendet. Ich hatte den Aufbruch für den Abend angeordnet, da der Vollmond die Straßen erhellte. Die Reise ging langsam durch das blühende Land. Pfirsiche, Mandeln, so weit das Auge schweifte. Steineichen- und Pinienwälder, Ölbaumgärten, flache Talmulden, mild-verlaufende Hügel. Dann höhere Berge, Tannensäume, rieselnde Frühlingswasser in Weidetriften, abziehende, goldgefütterte Wolken über aufgerissenen Horizonten, wandernde Schafherden. Matera – Venosa – und schließlich die Grenze: das beginnende » Reich«. Schon in Bovino hatte uns die Nachricht erreicht, daß die kaiserlichen Geleitzüge, der des Vaters und der des Sohnes, von Benevent gegen die Paßhöhe von Ariano di Puglia aufgebrochen seien – und uns an dieser Stelle am Sonntag um die Mittagsstunde erwarteten ...
Obwohl ich wußte, daß diese Grenzüberschreitung mein Schicksal bedeutete, war ich ruhig, ja fast teilnahmslos, als wir uns dem Maste näherten, auf dem die Fahne der Ottonen neben der des Herzogs von Benevent und Capua wehte. Man hatte mich in Prunkgewänder kleiden wollen, aber ich hatte laut gelacht und geantwortet, einer Reisenden zieme ein Reisekleid. Es war kühl an jenem Sonntag, trotz des blanken Sonnenlichtes. Denn es war bis tief herunter im Gebirge Schnee gefallen und liegengeblieben. So zog ich den Zobel an, den mir die Kaiserin Theodora geschenkt hatte, und setzte den »Offizierhut« mit dem chinesischen Schleier auf, den ich am Bosporos bei heftigem Wind zu tragen pflegte. Ich wollte überraschen, ja ich wollte vielleicht sogar erschrecken, um mich später über die Lösung der Spannung freuen zu können. Aber es wurde mir gar keine Zeit gelassen, geplante Wirkungen zu errechnen. Denn ich fand mich plötzlich von einem hellen Jubel umtost: Von den Hügeln herunter ertönten Zurufe auf deutsch und griechisch. Rüstungen blitzten hell im blauen Licht, Banner knisterten in der sprühenden Schneeluft, Hörner und Zimbeln riefen. Aus der vordersten Gruppe von Rittern kamen zwei Männer auf mich zu, der eine mittelgroß, breitschultrig und blaß: Bischof Dietrich von Metz, der Vetter des Kaisers und sein Beauftragter – der andere schlank und strahlend wie der Erzengel Michaël: der Enkel des Kaisers, Liudolfs Sohn Otto, der gleichaltrige Stiefneffe und Freund des mir zugedachten Gatten ... Er verneigte sich gegen mich, suchte hinter dem dünnen Schleier mein Gesicht, suchte meine Augen, lächelte, als er sie gefunden hatte, zog meine Hand an seine Lippen und führte mich gegen den Bischof Dietrich, der mich im Namen des Reiches willkommen hieß. Als ich den Schleier zurückschlug, brachen neue Jubelrufe aus. Ich stand und schaute ... Welche wundervolle, unbefangene deutsche Jugend drängte da gegen mich vor ... Alle wollten sehen, und ich wollte sehen ... War diese Jugend das Reich? Wieder schien es mir, ich sei aus mir enthoben – ich schwebe zwischen diesem leichtgefrorenen Boden und dem blanken Äther ...
Dietrich bot mir seinen Arm ... In einer Ausbuchtung der Straße war das kaiserliche Zelt errichtet. Feuerbecken brannten. Der Mundschenk reichte mir in Ottos goldnem Becher den Begrüßungstrunk, in Schnee gekühlten Wein von Markobrunn, und deutsches Roggenbrot, mit einigen Körnern Salz bestreut ...
Die Urkunden wurden ausgetauscht, die Pässe an das byzantinische Geleit zurückgegeben, und die roten Damastvorhänge geschlossen vor dem beginnenden Mittagsmahl, an dem nur teilnahmen: der Bischof Dietrich von Metz und Liudolfs Sohn als Beauftragte der beiden deutschen Kaiser, der Bischof von Chalkedon als Beauftragter des Basileus, der Erzbischof Gero von Köln, Niketas Kurkuas, Anastasia Dalassena und der Graf Hugo von der Wetterau. Ich hatte Freude an diesem starken deutschen Wein. Freude auch an dem lichten Saitenspiel, in dem ich keine phrygischen, keine lydischen und keine äolischen Kadenzen zu entdecken vermochte.
Erst als ich mich von den Byzantinern verabschiedete, verlor sich meine Leichtigkeit. Ich besann mich darauf, daß dies ja nur das Vorspiel sei und die Entscheidung Gottes über mich in Rom nach dreizehn Tagereisen fallen werde.
Die Ankunft in Rom aber – am 20. März –, der »feierliche« Einzug in die Stadt, der Empfang im kaiserlichen Palast: dies war die Wirklichkeit, ermüdend, herzlos, langweilig. Eine sich nach alten Überkommenheiten und starren Regeln abwickelnde Staatshandlung, eine Schaustellung für die Welt: »Siehe, Welt, was ich, Rex Germanorum, Dux Saxonum, Caesar Imperii Romanorum, erreicht habe!«
Alle Blicke richteten sich auf mich: auf die große Unbekannte in dem Spiel der kommenden Jahre. Ich wußte, ich würde diese große Unbekannte lange bleiben müssen. Denn wie hätte ich in kurzer Zeit die Welt durchschauen sollen, in die ich eingetreten war? Wie eine Auswahl unter diesen Menschen treffen, die durch geheime Sippengesetze in Zuneigung oder Abneigung miteinander verstrickt waren, oft genug wohl kaum ihre eignen Anlagen kannten und ohne jene Voraussetzungen lebten, die mir am Herzen lagen? Ich konnte mich nur ganz auf mich selbst stellen – mich ganz in die eigne Kraft zurückziehen und mich Stunde um Stunde daran erinnern, warum ich den Weg in das Abendland angetreten hatte. Wie war ich schon jetzt Tsimiskes dafür dankbar, daß er die Mitführung eines byzantinischen Hofstaates zur Voraussetzung des Ehevertrages gemacht hatte! Denn wer konnte wissen, ob mir jemals dieser junge Kaiser auch nur einen kleinen Teil der Heimat ersetzen würde, die ich aufgegeben hatte? Ich konnte gewiß nicht sagen, daß ich enttäuscht gewesen wäre, als ich ihn zu Gesicht bekam ... Er war ein gutgewachsener junger Mann mit hübschen Gesichtszügen und blonden Haaren, die manchmal einen rötlichen Schimmer annehmen konnten. Aber seine Augen waren keineswegs blau, wie man mir gesagt hatte, sondern hellbraun, sehr lebendig und von beweglichem Geiste zeugend. Es fehlte ihm jenes Strahlende, das um Liudolfs Sohn war – und es fehlte ihm auch jene unbestimmbare Anmut, die den Grafen Hugo umspielte. Auch das Fürstliche fehlte ihm: dagegen nicht das Ritterliche, welches den Grundzug seines Wesens auszumachen schien. Er war sehr befangen, wenn er mit mir sprach, errötete oft und sah mich manchmal ein paar Sekunden lang schweigend an, als ob er noch nicht begreifen könne, daß ich wirklich die Frau sei, die er abends mit großer Zartheit in die Arme schloß. Er hat mir den Übergang leicht gemacht, mich ohne Heftigkeit genommen, sehr knabenhaft und wie in Dankbarkeit. Gewiß, dies war schon Bindung, aber es war nicht »die« Bindung – und ließ der Seele viel an Raum zum Träumen ...
Niketas und Anastasia waren mir nicht ferner –, sie waren mir nähergerückt, seit ich die Gattin Ottos war. Die Gespräche mit ihnen wurden mir zu einem Glück, wenn mir die vielen Veranstaltungen des Hofes einmal Zeit zum Gespräche ließen. Es ging nicht an, daß ich mich jetzt schon zurückzog. Es wäre besonders von der Kaiserin Adelheid als eine Kränkung empfunden worden, und ich hatte gewiß keine Veranlassung, durch Pflichtverletzung zu kränken. Diese ersten Frühlingswochen waren eine große Last. Sie waren mühevoll wie jeder Anfang. Ich mußte Rom und die Römer kennenlernen, ich mußte die vielen Verwandten und Fürsten kennenlernen, die mit ihren Damen zu den Hochzeitsfeierlichkeiten gekommen waren. Es war der Wunsch des alten Kaisers – und ganz besonders Adelheids – gewesen, daß diese »byzantinische Heirat«, wie sie sagten, so sichtbar und so glanzvoll als möglich der Welt vor Augen geführt werde. Groß waren – gewiß – die Geschenke und die Summen, die ich mitgebracht hatte, aber groß und kaiserlich auch war die Gegengabe: die ganze Provinz Istrien, die Grafschaft Pescara, die Abtei Nivelles, die Landsitze Walcheren und Wicheren, aus den Königsgütern die Höfe Boppard, Tiel, Herford, Tilleda und Nordhausen aus dem Besitz der verstorbenen Königin Mathilde waren am Tage der Eheschließung mein Eigentum geworden. Man hatte nicht gegeizt und die Reliquien des heiligen Pantaleon, welche als kostbarstes Gut meiner Mitgift die Reise von Byzanz in das Abendland mit mir gemacht hatten, reichlich aufgewogen.
Der Kaiser Otto I. verhielt sich genau so zu mir, wie es Tsimiskes vorausgesagt hatte. Aber er blieb mir fremd. Auch zwischen Vater und Sohn herrschte keine Beziehung, die über das Übliche hinausgegangen wäre. Die Kaiserin Adelheid erkannte rasch, daß sie keinen Einfluß auf mich gewinnen könne. Ich wäre natürlich glücklich gewesen, mit ihr auf gutem Fuße zu stehen, aber das Matronenhafte, das immer Augustale dieser erst Vierzigjährigen war meiner eignen Natur so ferne, daß es mich stumm machte. Ihr Einfluß auf ihren Gatten war gering, auf ihren Sohn erdrückend. Er fügte sich – damals – jedem ihrer Wünsche, welche Befehlen glichen. Sogar um seine Kleidung bekümmerte sie sich. Otto hatte wenig Sinn für Etikette. Er liebte das Einfache, aber Kostbare. Den Sinn der seidnen Wäsche brauchte ihm niemand zu erschließen. Auch nicht die Freude an Lavendel- und Rosmarinwasser.
Von allen deutschen Frauen am Hofe gefiel mir am besten die Herzogin Beatrix von Oberlothringen, die Schwester des Herzogs Hugo Kapet von Franzien und die jugendliche Gattin des alten Herzogs Friedrich von Metz-Bar-le-Duc. Sie zeigte männlichen Verstand und männliche Haltung. Sie gab sich mit Beherrschtheit, blieb gleichgültig gegen Hofgeschwätz, verfügte über eine klare Sprache und hielt Abstand zu den Dingen. Auf einer Ausfahrt in die Campagna, zu der sie mich eingeladen hatte, ließ sie sich über Byzanz berichten. Ich konnte meine erste politische Aufgabe erfüllen. Ich erfüllte sie der Wahrheit gemäß. Ich stellte keine Fragen an sie über den deutschen oder französischen Hof, vermied überhaupt Vertraulichkeit. Ich kehrte auch nicht die Kaiserin heraus. Aber ich war die Frau des Kaisers, heute noch des zweiten, morgen des ersten Mannes im Reich – im Abendland.
Man machte in diesen römischen Tagen ziemlich viel her von einem fünfundzwanzigjährigen Mönch, Gerbert von Aurillac, der in Begleitung des französischen Sondergesandten Gerannus zu den Hochzeitsfeierlichkeiten nach Rom gekommen war. Er galt als ein Ausbund von Wissen und Klugheit. Otto I. hatte ihm einen Lehrstuhl für Mathematik und Musik angeboten, aber Gerbert hatte abgelehnt mit der Begründung, daß er für eine solche Aufgabe noch nicht reif sei. Eine solche Bescheidenheit – vorausgesetzt, daß sie echt gewesen sei – hätte für ihn gesprochen. Ich ließ ihn mir vorstellen und fand, was ich erwartet hatte: den Mann bescheidenster Herkunft, der, von Ehrgeiz zerfressen, unter allen Umständen hochkommen will: einen sehr eitlen, sehr unterwürfigen, sich mit jeder Geste, jedem Wort selbst empfehlenden Menschen, einen jener »Vertreter geistiger Werte«, wie wir sie zur Genüge in Byzanz herumlaufen und die Gunst hoher Herren erschleichen sehen. Ein einziges fesselte mich an ihm: das stechende Feuer der enggestellten, schwarzen Augen, welche die Stärke in diesem schwächlichen Körper zu sein schienen. Auch diese Augen kannten wir in Byzanz, und ich fragte mich, woher sie wohl in das Gesicht dieses Mönches gekommen seien, dessen Geburtsort ein kleines aquitanisches Nest war. Er sagte mir, daß ihm sein Herr, der Erzbischof Adalbero von Reims, die Leitung der Reimser Domschule anvertraut habe. Also wird er wohl gewußt haben, warum er das Angebot des Kaisers mit einer edlen Begründung zunächst einmal abwies. Ich entließ ihn mit der Zusicherung, daß ich mich – bei Gelegenheit – seiner erinnern werde. Der Kniefall, den er beim Abschied machte, mißglückte, weil sich sein Schuh in der Soutane verfing. Ich wandte mich rasch mit einer Frage an Niketas. Hugo von der Wetterau, der, an einer Säule lehnend, der Audienz beigewohnt hatte, sah mir von der Seite in die Augen ... Schließlich, als Gerbert verschwunden war, lachten wir alle auf. Es war, seit meiner Ankunft in Rom, das erstemal, daß ich das Lachen meiner Jugend wieder an mir selbst hörte. Nicht aus Spott über diesen unbeholfenen Mönch war es ausgebrochen, sondern aus Freude an dem bösen Dämon der »Situationen«. So, wie es auch ausbricht, wenn einer, der allzu rasch in ein Zimmer gelangen will, die Treppe herauffällt. Vielleicht bringt er eine Königskrone. Aber man muß lachen.
Ein anderer Mann der Kirche, dem ich damals begegnete, war Adelheids Freund und Berater, der Abt Majolus von Cluny. Schon wenige Tage nach meiner Krönung hatte mir Adelheid von der Clunyschen Reformbewegung gesprochen. Sie glaubte offenbar, daß wir uns in dieser geistlichen Frage begegnen könnten. Aber ich mußte ihr – mit der gleichen Bescheidenheit wie Gerbert – sagen, daß ich für so schwierige Probleme noch nicht reif sei, zumal mir jede Kenntnis der im Abendlande herrschenden Zustände auf dem Gebiet der Kirche fehle. Das entsprach – nach allen durch Tsimiskes empfangenen Belehrungen – zwar nicht der Wahrheit, aber es verschloß einen Weg, den ich zunächst nicht zu gehen gedachte.
Majolus war damals 62 Jahre alt, ein Mann von königlichem Aussehen, groß, dunkel, ungebeugten Rückens. Von Kopf bis zu Fuß ein Herr, lebend von der Flamme einer Überzeugung. Ein Diener Gottes und des Geistes. Ehrwürdig und verehrungswürdig. Er hatte es verstanden, seinen reformatorischen Bestrebungen den kaiserlichen Hof, vor allem aber die Kaiserin Adelheid zu gewinnen. Die Dynastie bedurfte der Stütze des Klerus. Sie tat also alles, was die ethische Stellung der Geistlichkeit soweit heben konnte, als ihr diese Hebung nützlich war. Majolus aber wollte viel mehr: Er wollte, durch strengste Zucht und Auswahl, der Geistlichkeit ein Absolutum an Macht sichern und fand für diesen Plan eine begeisterte, wenn auch kurzsichtige Helferin in der Kaiserin Adelheid. Es war nicht allzu schwer, den Grund für diese Haltung der Vierzigjährigen zu finden: Sie glich durch ihre leidenschaftliche Hingabe an eine religiöse Aufgabe Enttäuschungen aus, die ihr Gefühlsleben in der Ehe mit einem um zwanzig Jahre älteren Mann erlitten hatte, welcher ganz der Politik verschrieben war. Gefährlicher Ausgleich, vor allem auch, weil übertriebener. Die Art, wie sie mit Majolus in der Öffentlichkeit auftrat, grenzte oft genug an das Lächerliche. Sie liebte es, ihm ihren Arm zu bieten und als seine demütig-ergebene Schülerin, aber in den kostbarsten Kleidern, dahinzuschreiten. Majolus war schwerhörig, was die Kaiserin veranlaßte, sehr laut zu ihm zu sprechen. Es wurde dadurch der Eindruck erweckt, daß ihre oft sehr salbungsvollen Gespräche mit dem heiligen Mann, der einem Patriarchen des Alten Testamentes glich, für Zuhörer berechnet seien. Der verzogenen Münder gab es natürlich viele, wenn die beiden in einem Säulengang oder Saal vorübergewallt waren ...
Niemals aber hätte ich mich auf eine so bezaubernde Verspottung dieses Gebarens gefaßt gemacht, wie ich sie eines Abends in meinem Wohnzimmer erlebte. Wir waren zu sechst: der junge Kaiser, sein Stiefneffe Otto, dem ich den griechischen Namen Glaukós – der »Strahlende« – gegeben hatte, Anastasia Dalassena, Niketas Kurkuas, Hugo von der Wetterau und ich selbst. Wir hatten im Brunnenhof unter blühenden Orangenbäumen zu Nacht gegessen. Die Herren hatten viel von dem kostbaren Chios getrunken, den mir Tsimiskes mitgegeben hatte, und eine Aufhellung ihres gesamten Wesens an sich erfahren, welche gewiß nicht alltäglich war. Natürlich mußte das Gespräch auf die Hofleute und ihre Eigenarten kommen. Es war gerade der Name des Majolus gefallen, als wir uns anschickten, in das Innere des Hauses zu gehen, da von den Albanerbergen eine Kühle niederstrich. Otto lachte. Glaukós lachte – die beiden sahen sich wie Schuljungen an, die einen Streich im Kopfe haben, und baten uns, in meinem Wohnzimmer auf ihr Wiederkommen zu warten, die Diener aber ins Bett zu schicken, nachdem sie den Sorbet gerichtet hätten. Was geschah? Wir sahen im Schein der wenigen Kerzen, die den großen Raum erhellten, plötzlich – Adelheid und Majolus aus meinem anschließenden Schlafzimmer in das Halbdunkel treten ... Otto hatte sich eines meiner Schleppkleider angezogen, Glaukós eine braunseidne Decke wie eine Mönchskutte umgeschlungen, ein weißes Tuch als Bart angebunden und eine Stange zum Schließen der oberen Vorhänge als Bischofsstab in die Hand genommen. Otto bot ihm seinen linken Arm, und die beiden begannen mit feierlichen Schritten den Raum zu durchmessen ... »Ich hoffe«, sagte Adelheid-Otto, »die Früchte in den Weinbergen des Herrn werden dieses Jahr besonders gut gedeihen, ehrwürdiger Vater.« – »Darf ich Eure Erlauchte Majestät bitten, die göttliche Stimme ein wenig mehr zu erheben? Es ist mir nach dem Ratschluß Unseres Herrn leider nicht mehr vergönnt, das nur leise gesagte Wort zu verstehen.« – »Verzeiht, ehrwürdiger Vater, meine Gedankenlosigkeit. Ich sagte: Ich hoffe, die Trauben in den Weinbergen des Herrn werden dieses Jahr besonders gut gedeihen.« – »O ja, meine geliebte Tochter, ich hoffe es auch! Ich habe mir schon vor einigen Tagen ein Fuder von dem herrlichen Burgunder gesichert, der sich Clos de Vougeot nennt. Man braucht auf seine alten Tage manchmal eine solche Herzensstärkung, und man zahlt dafür auch gerne, was man einen prezzo nennt ... Zwanzig Byzantiner, das Fuder! Welches Glück, daß man in der Jugend ein wenig gespart hat!« – »Verzeiht, ehrwürdiger Vater, Euer leidend Gehör hat Euch noch nicht richtig meine Worte übermittelt! Ihr gedenkt der irdischen Trauben, ich aber sprach von den himmlischen!« – »O ja, Erlauchteste, die Trauben Eures Vaterlandes Burgund sind wahrhaft himmlisch ... Ich will ein Gebet für sie sagen lassen, damit sie nichts von ihrer berauschenden Kraft verlieren! Denn was wäre das Leben in diesem irdischen Tränental, wenn man es nicht manchmal im Weine Eurer Heimat vergessen und im Vergessen das Paradies vorausfühlen könnte.«
Wir lachten nicht, wir schluchzten beinahe. Otto und Glaukós hatten sich an den Armen gefaßt und tanzten nach Art der sächsischen Bauern eine Runde, daß der Fußboden dröhnte und die Kerzenflammen schwankten. Dann aber tanzten wir alle und sangen durcheinander, bis wir so müde waren, daß wir uns in die Sessel fallen ließen.
Unvergeßlicher Abend! Unsere Jugend hatte uns aufgerufen, und wir hatten ihr gegeben, was ihr gebührte. Wir hatten uns befreit von allem, was uns vorgeschrieben war, und waren nur gewesen, was wir waren: Menschen, die sich nichts vormachen ließen, Blut, das in der Zeit der Blüte steht.
In dieser Nacht wurde meine Liebe zu dem Kaiser geboren. Wir jagten nach den Glühwürmern, die aus dem Garten in das Schlafzimmer geflogen kamen, wir fingen das Mondlicht mit den Händen über der Bettdecke und schenkten uns alle Zärtlichkeiten, die unsre Jugend zu schenken vermochte ...
Niemand – außer unseren schweigenden Freunden – begriff, was uns geschehen war. Wir selber begriffen es kaum. Denn wir standen nun im Glück – und Glück verzichtet auf Ergründung. Glück ist nur Gegenwart.
Wir lebten und erlebten Rom in diesem Glück. Alle Paläste und Gärten, alle Kirchen und alle Tempel. Wir fuhren tagelang in das Land hinaus, bis hinauf in Waldschluchten der Sabinerberge, bis hinunter an die einsamen Gestade des Meeres bei Nettuno. Wir saßen stundenlang in den glühenden Abenddämmerungen der Campagna, am liebsten beim Grabe der Cäcilia Metella – und wir verträumten halbe Nächte bei den rieselnden Brunnen in den Gärten des Aventin. Da die Last der Herrschaft noch nicht auf unsren jungen Schultern lag – warum sollten wir nicht als Unbeschwerte leben und Gott für seine Geschenke danken, indem wir sie nutzten?
Der Kaiser war ein ausgezeichneter Führer durch die versunkene römische Welt. Er wußte viel, und was er wußte, ganz. Diese Vielfalt seiner Kenntnisse wurde nun lebendig in ihm, weil er sie übermitteln durfte. Sie schlug Wurzeln in mir, weitete den Umkreis meines Denkens, indem sie mir Vergleiche gab, bereitete mich vor auf meine Aufgabe, indem sie mich in eine ungeahnte Freude hob. Man nannte uns »die Fröhlichen«. Mit welchem schöneren Worte hätte man uns nennen können?
Nun war die letzte Furcht in mir vor jenem Unergründlichen geschwunden, das Deutschland heißt. Ich wußte zwar: es gab dort keine Städte wie Rom und Byzanz, es gab keine Meeresbläue und keine Oleanderhaine, es gab keinen Lorbeer und keine Palmen, es gab keine Gesänge aus Orangengärten, es gab keine Tempelsäulen im lauen Mond, keine Zypressen an flimmernden Hügeln und keine Ölbäume über heißen Mauern ... Aber es gab die Gewißheit, daß dort erst Entfaltung beginne, der Wille heraufwachse und das Werk zu vollbringen sei, sobald mich Gott zu ihm berufe ... Ich war nicht mehr allein, da ich als Liebende und als Geliebte die Schneeberge überschreiten würde. Das große Gesicht meiner Zukunft würde erst beim Niederschreiten aus dem Glanz der Firnen beginnen ...