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Das Gewicht einer Wirklichkeit nicht zu erkennen ist die Todsünde des Staatsmannes. Nikephoros Phokas glaubte allen Ernstes, das Byzanz des 10. Jahrhunderts, welches auf Kleinasien, den Balkan und die süditalischen Themen beschränkt war, könne es sich noch erlauben, auf drei oder vier Schauplätzen zugleich Krieg zu führen, Augenblickserfolge davonzutragen, Länder zu erobern, die nicht zu halten waren, und in einer sinnlosen Zersplitterung der Kräfte das Vermögen des Volkes zu vergeuden. Er konnte sich nicht von dem Wahn befreien, das auf ein Sechstel seines einstigen Besitzes zusammengeschmolzene Reich müsse noch als das Erbe des Imperium Romanum in Erscheinung treten. Die neuerstandene deutsche Weltmacht schien für ihn nicht da zu sein. Wenn sein Verstand vielleicht eben noch dazu ausreichte, den Umfang der sarazenischen Gefahr zu erkennen, so würde er doch niemals begriffen haben, daß es für Byzanz noch einmal eine germanische Gefahr geben könne, schlimmer als die des 4. und 5. Jahrhunderts. Das Imperium werde immer mit den Germanen fertig werden, lautete die gedankenlose Antwort, solange es noch Männer gebe, in denen der »echte römische Geist« noch lebendig sei! Daß zu einem solchen Geist ein römisches Volk und zu einem solchen Volk eine römische Sprache gehöre, das übersah dieser Schwätzer! Er bedachte nicht, daß seit dem 7. Jahrhundert auch die Staatssprache griechisch geworden war, daß die (notwendige) Politik der isaurischen Soldaten-Kaiser dem byzantinischen Staat fast einen asiatischen Stempel aufgedrückt hatte – und das »römische Erbe« tatsächlich und zwangsläufig zum zweiten Male einer germanischen Dynastie zugefallen war, der sächsischen, genau wie vor zweihundert Jahren der fränkischen. Er wollte nicht über den Westen unterrichtet sein. Militärische Triumphe waren ihm wichtiger als staatsmännische Arbeit. Sein Geist war mönchisch-anarchisch, fern jedem planmäßigen Denken. Trotz aller Siege verblutete langsam Byzanz.
In Deutschland aber war ein Mann zur Macht emporgestiegen, der wußte, was er wollte, prüfte, was er wagen durfte, und wagte, was er durchzuführen vermochte – jedoch an jeder Stelle haltmachte, wo er seine Möglichkeiten erschöpft sah ... Die Politik des Kaisers Otto I. ist die Politik der wahren Macht, aber nicht die der Gewalt oder der Spiegelfechterei. Diesem Kaiser muß Größe zugesprochen werden, weil ihm die Sache immer wichtiger war als seine Person, die hoffnungsvolle Zukunft immer wertvoller als die glänzende Gegenwart.
Als die »Res publica Christianorum« mit ihrem »Gubernans« an der Spitze – also die Karolingische Ordnung – zerfiel, weil das germanische Sippengefühl sich nicht von dem Grundsatz der Reichsteilung unter die Söhne loslösen konnte, mußte es zweifelhaft bleiben, ob sich noch einmal eine ähnliche Einheit im Westen bilden würde. Was war geschehen, als man etwa 900 schrieb? Das westfränkische, das burgundische, das langobardische Reich waren aus dem karolingischen Ring ausgebrochen, die beiden letzten sogar unter nichtkarolingischen Dynastien. In Deutschland hatte das gleiche Bedürfnis nach Unabhängigkeit die von Karl dem Großen beseitigten Stammesherzöge wieder auf den Plan gerufen. Da Byzanz keine mit dynastischen Erbrechten ausgestatteten Stammesfürsten kennt, sondern nur die plutokratische Kaste der ΣΥΓΚΛΗΤΙΚΟÍ, der Latifundienbesitzer, ist es nicht ganz leicht für uns, zu verstehen, daß nach deutscher (und auch französischer) Auffassung der »König« (rex) nur ein Gleicher unter Gleichen sei (primus inter pares). Es bliebe für uns unvorstellbar, daß sich mit dem Basileus irgendein »Fürst« auch nur vergleichen oder um irgend etwas rechten könne. Das politische Werk Karls des Großen oder Ottos I. muß also in den Augen jedes byzantinischen Staatsmannes um so bedeutender erscheinen, als es die Überwindung eines Zustandes dauernder (innerer oder äußerer) Rebellion Gleichberechtigter darstellt. Das Gefühl für eine hierarchische Ordnung ist der germanischen Natur fremd. Gelingt es also einem deutschen Herrscher, eine der hierarchischen ähnliche Staatsform zu errichten, so hat er Außerordentliches geleistet.
Ein anderes ist zu beachten. Der Westen kennt nicht »Volk« in unserem östlichen Sinn, kennt nicht die durcheinandergewürfelte Masse, welche – auf ihre Art – eine Herrschaft ausübt. Kein Basileus kann sie beiseite schieben, keiner sich der Stillung ihrer Instinkte widersetzen ... Wie wären Hagia Sophia, Zirkus und Lupanar im Westen als das denkbar, was sie im Osten sind? Sichtbar, als Mehrzahl, sind im Westen nur die Kasten der Feudalen und der Kleriker. Das »Volk« zählt nicht – oder noch nicht. Der Kaufmann beginnt eben, sich Geltung zu verschaffen. Wer nicht begreift, denke sich aus Byzanz die Basare oder Faktoreien fort ... Was bliebe Byzanz, Stadt und Staat?
Durch das gesamte 9. Jahrhundert hat der karolingische Verfall gedauert. Als sich Byzanz von schweren Erschütterungen eben aufraffte, zerbröckelte das westliche Kaisertum. In Deutschland wurden die Stammesherzöge allmächtig: die von Sachsen, Franken, Bayern, Schwaben, Lothringen. Dem Herzog Heinrich von Sachsen gelang es, den deutschen Staatenbund zusammenzuschließen und als »König« über ihn zu herrschen. Aus diesem »Bund« erwuchs das Reich unter Abschwächung des Bundesgedankens. Das war die erste Aufgabe Ottos, des Sohnes Heinrichs. Vielleicht die größte. Sie verlangte einen übermenschlichen Glauben und einen übermenschlichen Willen ... Wie wird man über seinesgleichen Herr?
Ein westlicher Herrscher kann nicht die roten Schuhe, das Sinnbild seines hierarchischen Ranges, an die Füße ziehen und im selben Augenblick zum Vertreter Gottes werden wie der Basileus. Seine Herrschaft ist er selbst. Seine Herrschaft ist seine »virtus«. Durch diese »virtus« erreichte Heinrich das erste Ziel, Otto das zweite und dritte. Das vierte, in dem das Quadrat sich schlösse, bleibt den Nachfolgern vorbehalten. Heinrichs inneres Ziel war das deutsche Königtum. Ihm galten seine Liebe und sein Glaube. Wir sind der Meinung, daß die Deutschen diesem Manne nicht an Dank und Bewunderung zollen, was ihm gebührt. Er arbeitete ohne viel Aufhebens. Auch seinen Kriegen fehlte die Unterstreichung. Er kämpfte nicht länger noch härter, als es zur Erreichung des gesetzten Zieles nötig war. Er liebte den Vergleich: wie seine kluge Politik mit dem hochfahrenden Bayernherzog Arnulf zeigte, welcher Ansprüche auf die deutsche Königskrone erhob. Als er – trotz aller Abneigung gegen Papst und Klerus – am Ende seines Lebens doch noch Italien in seine Berechnungen einbeziehen mußte, geschah dies nur, um die Erhaltung seines deutschen Werkes zu sichern.
Bayern erhob auch Anspruch auf die italisch-langobardische Krone. Eberhard, Arnulfs Sohn, erhielt sie. Sie bedeutete die Kaiserkrone. Trug diese ein bayrisch-langobardischer König, so war die deutsche Einheit abermals zerrissen. Eberhard wurde von seinem Gegenkönig Hugo geschlagen und mußte seine Pläne aufgeben. Die Frage des deutsch-römischen Kaisertumes blieb ungelöst. Aber sie wartete auf Lösung. Schon waren die Spieler – unwissend um ihre Aufgabe – auf dem Weg: König Otto I. von Deutschland und Prinzessin Adelheid von Burgund. Nach fünfzehn Jahren erst – von Heinrichs Tode (936) an gerechnet – war die Stunde der Erfüllung fällig. Es mußten vorher andere Wege gegangen werden.
Nicht diese Wege selbst erwecken unsere Aufmerksamkeit. Es scheint uns wichtiger, die Voraussetzungen einer Politik zu ergründen, als Tatsachen zu verzeichnen. Die Tatsachen selbst sind einförmig und wenig lehrreich: auch wenn sie entscheidende Bedeutung haben. Wer es unternimmt, Geschichte zu schreiben, soll den Beweggründen nachgehen. Dann bleibt er dem Menschen nahe, der Geschichte macht. Auf was aber – außer auf das Göttliche – käme es in unserem Leben an, wenn nicht auf das Menschliche? Den Byzantiner fesselt in der Natur des ersten Otto das Vorherrschen eines autokratischen Prinzipes. Dieser Fürst hatte erkannt, daß eine föderalistische Stammes-Ordnung die Schaffung eines machtvollen Staates verhindert. Er war durchdrungen von dem Gesetz der Stufung. Nur ein außergewöhnlicher Mensch konnte es zuwege bringen, naturhaft Auseinanderstrebendes in eine bleibende Einheit zu zwingen. Der deutsche König (und spätere Kaiser) war nicht im gleichen Sinne wie der byzantinische Basileus »geheiligt« (ἅγιος, ἱερὀς, δεῖος): der deutsche König war, zu was er sich, kraft seiner Fähigkeiten, zu machen verstand. Und wenn auch ganz gewiß viele das in ihm vorherrschende Gefühl, daß Gott durch ihn wirke, teilten, so war er deswegen noch lange nicht der Statthalter Gottes oder dessen Sinnbild. Wir finden uns zu solchen Erwägungen berechtigt, weil uns die Berichte jener Gesandten, welche im Jahre 945 von Konstantin Porphyrogénetos an den deutschen Hof geschickt wurden, bestätigen, daß schon dieser feinfühlige Basileus die wachsende Bedeutung des deutschen Autokrators erkannte. Wenn er ihm eine gemeinsame Politik gegen die Ungarn, einen Garantiepakt über den süditalischen Besitzstand und byzantinisch-deutsche Heiratspläne »zur freundlichen Erwägung« unterbreiten ließ, so sprach sich darin wohl ein grundsätzlicher Wille nach politischer Annäherung oder Zusammenarbeit aus: jedenfalls aber eine Witterung für politische Wirklichkeiten, die der Stumpfheit eines Nikephoros und seiner Kumpanei ins Gesicht schlägt.
Der innere Feind hat Otto mehr zu schaffen gemacht als der äußere. Seine Eroberungskriege gegen die ostslawischen und nordgermanischen Grenzvölker, seine italischen Feldzüge gegen die langobardischen Usurpatoren oder den Papst, seine französischen zugunsten eines seiner Schwäger, des Herzogs Hugo von Franzien oder des karolingischen Königs Ludwig IV., wiegen leichter als die heimtückischen Kämpfe mit den revoltierenden deutschen Stammesherzögen, worunter sich die eignen Brüder, der eigne Sohn und der eigne Schwiegersohn befanden.
Wir wissen aus unserer eignen Geschichte, daß selbst nächste Verwandtschaft nicht vor erbitterter Feindschaft bewahrt. Aber was bei uns – dank dem hierarchischen Gefüge unseres Staates – viel leichter auf den Palastbezirk der Magnaura beschränkt bleiben und im Dunkel nie zu ergründender Geheimnisse verschwinden kann, ohne daß es das Volk aufscheuchte, das mußte sich in Deutschland durch ein öffentliches Für und Wider austragen: durch jene Parteikriege, welche der Fluch der Deutschen sind, solange wir von Deutschen etwas wissen. Die Dehnbarkeit des germanischen Rechtsgefühles, der Mangel an buchstabenmäßigen Gesetzgebungen gebären jenes ewige Revoltieren »gleichberechtigter« Teilfürsten, an dem sich die Kräfte der Herrscher abnützen.
Das roheste Machtbedürfnis triumphiert über jede höhere staatliche Einsicht. Man wundert sich, daß Otto I. die Aufständischen mit so großer Milde behandelt hat. Geschah dies nur aus politischer Klugheit, oder war er selbst noch nicht ganz frei von der deutschen Vorstellung, daß er – vor seinem Gewissen – doch nur ein »primus inter pares« sei? Es ist unanzweifelbar, daß das Bewußtsein seines Gottesgnadentums ihn nicht von allen Überkommenheiten seines Blutes entbunden hat. Er ist niemals in der Größe seiner staatlichen Aufgaben erstarrt.
Was uns an den inneren Kriegen politisch am meisten zu denken gibt, ist der Umstand, daß deutsche Stammesfürsten sich nicht scheuten, die Hilfe des feindlichen Auslandes in Anspruch zu nehmen, um ihre Forderungen durchzusetzen.
Wir denken zunächst an die Erhebung des Herzogs Heinrich von Sachsen, des Bruders Ottos I., im Jahre 939. Die Ursprünge dieser Revolte sind für uns Byzantiner von besonderer Bedeutung. Otto I. wurde im Jahre 912 geboren, als ältester Sohn des damaligen Herzogs von Sachsen, Heinrich aber im Jahre 921 als ältester Sohn des mittlerweile (919) schon zum deutschen König gewählten Herzogs. Die Mutter der beiden Knaben, Mathilde, neigte zu der Auffassung einiger Hofleute, daß der im »Königtume« geborene »Prinz« Heinrich berechtigtere Ansprüche auf den Thron habe als »Herzog« Otto ... Es läßt sich also feststellen, daß damals schon der urbyzantinische Gedanke der »Porphyrogénesis«, der »Geburt im Purpur«, den Weg an einen deutschen Fürstenhof gefunden hatte: und zwar in einem Augenblicke, wo sich eben gerade zwischen Ost und West Beziehungen wieder anknüpften, wie sie zu Zeiten des Großen Karl schon einmal bestanden hatten ... Es wäre natürlich mehr als erstaunlich gewesen, wenn sich diese Auffassung nach dem Tode des Königs Heinrich (936) bei den deutschen Feudalherren schon durchgesetzt hätte. Sie mußte dem germanischen Empfinden fremd bleiben, und wir möchten annehmen, sie sei nur deshalb als Argument herangezogen worden, weil die Königin Mathilde die Wahl ihres schönen und geschmeidigen Lieblingssohnes durchsetzen wollte. Da die Wahl auf den ernsten und stolzen Otto fiel, war die Voraussetzung zu einem Konflikte gegeben. Heinrichs heftige und verschlagene Natur mußte dazu beitragen, ihn heraufzubeschwören. Ottos beginnende Kämpfe gegen die Stammesherzöge von Franken und Bayern trieben Heinrich an deren Seite. Aber auch der Herzog Giselbert von Lothringen, das zu Deutschland gehörte, schloß sich Ottos Gegnern an. Er ging darauf aus, sein Herzogtum aus der Bindung an das deutsche Königtum zu lösen und als selbständigen Staat zwischen Deutschland und Frankreich bestehen zu lassen. Otto blieb schließlich Herr der Lage. Giselbert und Heinrich mußten als Besiegte bei dem französischen König Ludwig, dem karolingischen Gegenspieler der sächsisch-ottonischen Dynastie, Zuflucht und Beistand suchen. Der Preis für die ihnen zu leistende Hilfe würde die Eingliederung des Herzogtumes Lothringen in den französischen Staat sein ... Das heißt, byzantinisch gesprochen: es wurde begangen das Verbrechen des Hochverrates am Reiche zugunsten persönlicher Vorteile.
Zum ersten Male rückt hier in das engere Feld unserer Beobachtung die Frage des Verhältnisses zwischen Deutschland und Frankreich, also zwischen zwei Ländern, die nur noch vor wenig mehr als hundert Jahren unter Karl III. einen einzigen Staat gebildet hatten. Ist es unser Vorteil, daß sich das heutige Machtverhältnis verschiebe – oder fährt Byzanz am besten, wenn der deutsch-französische Status quo erhalten bleibt?
Ein mit uns befreundetes christliches deutsches Reich wird uns so lange helfen, der sarazenisch-islamitischen Gefahr zu begegnen, als es sich selbst noch – sei es von Süden, sei es von Westen her – dieser Gefahr ausgesetzt weiß. Denn es ist ja keineswegs ausgeschlossen, daß die spanischen Araber noch einmal – wie im dritten Jahrzehnt des achten Jahrhunderts – über die Pyrenäen vorfluten. Gelingt es in einem solchen Falle Frankreich, wie im Jahre 732, die Eindringlinge zurückzutreiben, so wird es in der gesamten christlichen Welt einen Prestigegewinn erzielen, der sein politisches Selbstbewußtsein ins Ungemessene steigern müßte. Da es zwischen Deutschland und Frankreich den Zankapfel der lothringischen Frage gibt, wäre es mehr als wahrscheinlich, daß sich ein französisch-deutscher Krieg entspänne, dessen Folgen, angesichts der Haltung der Herzogtümer, unabsehbar sein könnten. Jedenfalls aber würde er einen Verbrauch deutscher Kräfte darstellen, der uns nicht erwünscht sein könnte.
Gelänge es Frankreich jedoch nicht, die Sarazenen aufzuhalten, ja, käme es zu einer arabischen Überflutung bis gegen die deutschen (burgundisch-lothringischen) Grenzen, so fiele eben Deutschland die Aufgabe der Abwehr zu, die es ohne Zweifel mit der ihm eigentümlichen Gründlichkeit lösen würde. Da es aber – und mit welchem Einsatz! – den Weg einer imperialen Entwicklung beschritten hat, würde sein Machtanspruch noch um ein Beträchtliches größer sein als der Frankreichs. Es würde – darüber kann kein Zweifel bestehen – Frankreich dem Reiche wieder einverleiben, das heißt: die ehemals karolingische Monarchie unter der ottonischen Dynastie wiederherstellen.
Ein dermaßen erstarktes Deutschland aber brauchte, selbst in Italien, keine Rücksicht mehr auf Byzanz zu nehmen. Ja, es könnte sich – nicht durch Bündnis, sondern durch einen einfachen Nichtangriffspakt – mit den Sarazenen dahin einigen, daß es sich einer Eroberung ganz Kleinasiens durch den Islam nicht widersetzen werde, sofern seinem eigenen Ausdehnungsbedürfnis der westliche Teil des byzantinischen Reiches, also der Balkan, überlassen bleibe.
Es ist somit klar, daß die byzantinische Politik auch eine Machterweiterung Deutschlands nicht wünschen (noch dulden) kann. Es erwächst ihr vielmehr die Aufgabe, Frankreich dahin zu bringen, den heutigen Status quo anzuerkennen, sich mit Deutschland zu gemeinsamer Abwehr der Sarazenengefahr bereitzufinden und in die christliche Weltfront gegen den Islam einzureihen.
Was Frankreich die Anerkennung des Status quo, soweit er Lothringen betrifft, erschweren dürfte, ist die Rechnung des Königs auf die innere Uneinheit des deutschen Reiches.
Gewiß: die Verhältnisse sind heute, im Jahre 971, nicht mehr die gleichen wie in jenen dreißiger Jahren, als Otto I. den Trotz der rebellierenden Stammesherzöge brechen und an ihrer Stelle Herzöge (= Reichsbeamte) nach seinem Geschmack einsetzen mußte. Aber auch diese Methode gewährte offenbar keine ausreichende Sicherheit, ja nicht einmal dann, wenn die Ernannten nahe Verwandte des Königs waren. Sein eigener Sohn aus erster Ehe, Liudolf, seit 949 Herzog von Schwaben, und sein Schwiegersohn Konrad, seit 944 Herzog von Lothringen, zettelten im Jahre 953 im Bunde mit einem Sohne des verstorbenen Herzogs Arnulf von Bayern einen Aufstand an, der das deutsche Königtum in höchste Gefahr brachte ... Eine Niederlage folgte der anderen. Zu diesem inneren Unglück gesellte sich das äußere: der Einfall der Ungarn in Bayern, Franken und Lothringen. Es wird berichtet, die Rebellen seien mit ihnen in Verbindung getreten. Es hätten also, zum zweiten Male innerhalb von fünfzehn Jahren, nächste Verwandte des Königs aus Eigensucht gemeinsame Sache mit den Feinden des Reiches gemacht! War es zu verwundern, daß der französische König – allen Verzichterklärungen zum Trotz – die Hoffnung nicht aufgab, deutscher Zwist könne ihm doch noch eines Tages jenes mächtige und reiche Herzogtum Lothringen in die Hände spielen, das von der Nordsee bis nach Burgund reichte? Und ist es nicht zu verstehen, daß gute Kenner der deutschen Verhältnisse den Frieden, welcher seit fünfzehn Jahren im Inneren Deutschlands herrscht, nur der persönlichen Bannkraft des Kaisers zuschreiben?
Das wiedererstandene Imperium der Deutschen umfaßt heute ganz Deutschland bis über die Elbe hinaus und Italien bis an die Grenzen unserer Themen. In enger Anlehnung an das Reich, gebunden durch den Huldigungseid seines Königs Konrad, hält sich Burgund, das von Basel über Genf, die Rhône entlang, bis zum Mittelmeer reicht. In Frankreich übt der Kaiser eine Art Oberaufsicht aus, welche durch langen Familienbrauch zu einer Art Gerechtsame geworden ist. Wir erhoffen das Verschwinden dieser Bevormundung und würden es, nötigenfalls, begünstigen. Denn wir wünschen ein selbständiges Frankreich als westlichen Nachbarn Deutschlands ... Natürlich gibt es an den Nord- und Ostgrenzen des Reiches immer wieder Kämpfe, aber diese Kämpfe erträgt der innere Block ohne Gefährdung. Und die zähe Slawenpolitik des Kaisers schiebt Schutzring auf Schutzring weiter gegen Osten ... Polen und Ungarn öffnen sich den Bestrebungen der deutschen Kirchenpolitik. Wir könnten, wenn wir uns auf sehr kühne Wahrscheinlichkeitsrechnungen einließen, vielleicht den Tag verzeichnen, an dem sich Deutsche und Byzantiner an der Donau die Hand reichen und im Bunde mit Frankreich den christlichen Nordbogen schließen müßten, der als Abdämmung dem islamitischen Südbogen gegenüberstünde.
Aber wir hüten uns vor jeder Prophezeiung. Wir sehen, was wir zu erkennen vermögen, und ziehen unsere Schlüsse für eine sehr begrenzte Zeit. Wo immer wir hinblicken, sehen wir die Unfähigkeit der Menschen, schöpferische Gedanken zu begreifen und im Dienste dieser Gedanken eine tiefere Befriedigung zu finden als in der Verfolgung eigensüchtiger, oftmals wertloser Ziele. Der deutsche Kaiser verdient unsere Bewunderung, weil er sein Leben der Wiedergeburt des Imperium Romanum geopfert hat.
Das Verhältnis des Kaisers zu Papst und Kirche beansprucht die besondere Aufmerksamkeit der byzantinischen Politik. Man müßte mit Blindheit geschlagen sein, wenn man bei Otto I. nicht denselben antiklerikalen Geist am Werke sähe, den schon sein Vater Heinrich bekundet hat. Otto wußte, daß er sein staatsmännisches Werk nur dann würde vollenden und erhalten können, wenn die Kirche nicht in der Lage wäre, innerhalb der Reichsgrenzen Politik auf eigne Faust zu treiben. Aber er wußte ebenso genau, daß er die Würdenträger der Kirche zum Ausbau seines Staates brauchte. Die große Lehre empfing er wohl im Jahre 951, als er, unmittelbar nach der Erkämpfung der langobardischen Krone und nach seiner Vermählung mit der Königinwitwe Adelheid von Italien, bei dem Papste Agapet II. seine Kaiserkrönung in die Wege leitete. Der Papst mußte ihm einen ablehnenden Bescheid zukommen lassen, da er sich nicht stark genug fühlte, die Widerstände des allmächtigen Patricius Alberich von Rom zu brechen. Die Lage Ottos war noch nicht so gesichert, daß er die Krone hätte erzwingen können. Seine Macht reichte damals noch nicht über Oberitalien hinaus. Weder in Tuskien noch in den süditalischen Themen von Spoleto, Capua, Benevent und Salerno war sie anerkannt. Und der von ihm vertriebene langobardische Usurpatorkönig Berengar von Ivrea, welcher Adelheid die ihr zustehende Herrschaft entrissen hatte, verfügte noch über eine beträchtliche Anhängerschaft. Es mußte also zunächst eine Lösung der italischen Frage erzielt werden, bevor man die Frage der Kaiserkrönung wieder aufgreifen konnte: sei es, daß sich Berengar unterwarf und seine Herrschaft als Lehenskönigtum aus der Hand des Kaisers zurückerhielt, sei es, daß er besiegt und damit überhaupt aus dem politischen Spiel ausgeschaltet wurde. Er unterwarf sich mit seinem Sohne Adalbert auf einem nach Augsburg ausgeschriebenen Reichstage, wo er – unter Verzicht auf die Mark Verona – dem Kaiser den Lehnseid leistete. Kaum nach Italien zurückgekehrt, brach er diesen Eid und kämpfte nicht nur gegen den deutschen König, sondern auch gegen den Papst Johann XII., den Sohn (Oktavian) des 954 gestorbenen Patricius Alberich und Enkel der Senatrix Marozia. Dies aber wurde sein Verhängnis. Der Papst rief den deutschen König zu seinem Schutz nach Italien und krönte ihn am 2. Februar 962. Dieser Tag bedeutet, daß zum zweiten Male seit dem Auseinanderfallen des antikischen Imperium Romanum ein König germanischen Blutes die Erbschaft Roms für sich und sein Volk gegen die konstantinisch-byzantinische Überlieferung nicht nur in Anspruch nahm, sondern verwirklichte: und zwar mit solcher Tatkraft und Selbstverständlichkeit, daß ein neuer Weltzustand geschaffen wurde, dessen Gewicht nur Verstockte nicht erkennen wollten. Erst nach erfolgter Krönung wurde dem Papste klar, was er getan hatte. Aber die Würfel waren gefallen: Die Kurie hatte ihre Unabhängigkeit verloren.
Otto I., der die Geduld zu üben wußte, hatte auch gelernt, die Macht des rechten Augenblickes auszunützen. Wer sich jemals so wie ich über die Anmaßung byzantinischer Patriarchen entrüstet hat, wird nicht ohne Genugtuung die Verschlagenheit bewundern, mit welcher der deutsche König diesem kaum zwanzigjährigen Papste den Schuh auf den Nacken setzte. Er bestätigte ihm seinen Besitz und nahm ihn gleichzeitig in seine kaiserliche Obhut, indem er sich als oberster Herr im Kirchenstaate anerkennen ließ. Nichts mehr konnte in Zukunft der »Heilige Vater« unternehmen, ohne zuvor die kaiserliche Erlaubnis einzuholen. Der Kirchenstaat war eine kaiserliche Provinz, und sein Herr, der »Bischof von Rom«, war ein kaiserlicher Beauftragter. Kein Papst mehr durfte fortan geweiht werden ohne kaiserliche Zustimmung. Diese aber wurde erst dann erteilt, wenn der kanonisch gewählte Papst dem Kaiser den Treueid geleistet und die kaiserliche Oberhoheit im »Patrimonium Petri« anerkannt hatte.
Otto I. hat gründliche Arbeit gemacht. Er hat sich die zehn Jahre Wartenmüssens so teuer bezahlen lassen, daß sich von solchem Aderlaß zunächst kein Nachfolger Petri mehr erholen konnte. In Zukunft mußte der Papst jedem Träger der deutschen Krone – also ipso facto jedem Träger der langobardischen – die Kaiserkrönung gewähren, welche zu einer reinen Formsache herabgesunken war ...
Otto I. hatte den Papst in die gleiche Stellung verwiesen wie den Klerus seiner Länder: Er hatte ihn zu einem Diener des Imperiums gemacht. Die Tiara bedeutete nur das höchste Rangabzeichen. An die geistliche Aufgabe des Papstes, als des Statthalters Christi, hatte er nicht gerührt. Denn er selbst war ja gläubiger Christ, wie es alle byzantinischen Kaiser ebenfalls waren. Aber er hatte dem Papste zu verstehen gegeben, daß die Heilige Sache der Christenheit nur dann auch die Sache des Papstes sei, wenn sich der Papst ihrer würdig erweise ... Und den Bischöfen hatte er klargemacht, daß sie ihre geistliche Aufgabe nur dann zu lösen vermöchten, wenn das Reich mit seiner Macht hinter ihnen stehe. Er hatte sie gegen die Anmaßungen der Herzöge ausgespielt, indem er sie mit hohen, ja höchsten Machtbefugnissen ausstattete, also fast zu Reichsbeamten machte, die ihm verpflichtet, aber auch seiner Stützung sicher waren. Er mußte die Gewißheit haben, daß er sich auf den Klerus verlassen könne, falls die Herzöge versagten. Er hatte nach dem Grundsatz des Do ut des gehandelt und war dafür belohnt worden ... Die deutschen Bistümer (und die Klöster) waren Besitz des Reiches. Der deutsche König investierte die Bischöfe. Die kanonische Bischofswahl war nichts anderes als die königliche Billigung des Wahlvorschlags. Somit war der Rahmen gegeben. Daß innerhalb dieses Rahmens noch Raum genug für das Spiel der Intrigen bestand, bedarf keiner Erwähnung. Aber dieses Spiel war zu überschauen. Es konnte unterbunden werden, sobald es kaiserliche Pläne durchkreuzte.
Wo nun muß eines Tages eine solche Politik münden? Wir können als Byzantiner nur sagen: in einer Hierarchie, welche der unseren, wenn nicht der Form, so doch dem Wesen nach, ähnelt. Sich mit Gewalt gegen eine solche Entwicklung im Westen stellen, hieße sich selbst das Wasser abgraben. Und die geistigen Bemühungen des Westens um ihrer Schlichtheit willen verachten oder lächerlich machen, hieße übersehen – es genügt ja, an das arabische Beispiel zu denken –, daß unverbrauchte Völker in einem einzigen Jahrhundert ein Wissen einholen, das überbelastete oft genug nur noch als Bürde erstarrten Bildungsgutes mit sich schleppen ... Wenn Byzanz mit Recht auf seine Kultur stolz ist, so darf es nicht vergessen, was ihm diese Kultur an Verpflichtung auferlegt: die ununterbrochene Erneuerung der übernommenen Werte ... Leben ist »Ῥέουσα Γένηδις«: fließende Wiedergeburt ... Unser Jahrhundert erbringt den Beweis. Eine Welle hellenischer Verjüngung ist über uns hingegangen ... Im Westen aber hebt sich die lateinische Bewußtheit ... Beide Bewegungen laufen im Universum christlichen Lebensgefühles. Wollen Pharisäer und Starrköpfe in Byzanz noch immer den Weg nicht begreifen? Schon Brun, der Bruder Ottos, der Erzbischof von Köln, der »Erzherzog-Statthalter« von Lothringen, hatte ihn vor zwanzig Jahren begriffen und Byzanz in seine Welten einströmen lassen: Sein Kloster, St. Pantaleon in Köln, ist das geistige Sinnbild meines politischen Wollens. Was aber Brun erkannt hatte, erkannte auch Otto. Wer sind die byzantinischen Literaten, die diesen Mann einen Barbaren genannt haben, weil er nicht Lateinisch versteht, weil er außer Deutsch nur etwas Französisch spricht, auch etwas Slawisch, und sich lieber vorlesen läßt, als selber liest? Er hatte seinen Verstand an anderen Dingen zu bilden als an Stilübungen oder dem Skandieren alkäischer Oden! Und er hat bewiesen, welchen Sinn für geistige Werte er in sich trug, als er durch Förderung der Kloster- und Domschulen seinem Volke Wege der Bildung erschloß, die ihm selbst verschlossen geblieben waren, weil ihm sein schwerer Kampf um die Krone keine Zeit für sie ließ ...
Die Übermittlung dieser Werte konnte im Westen nur durch die Kirche geschehen. Einen gebildeten Laienstand gab es noch nicht in Deutschland, denn der sich eben entfaltende Kaufmannsstand war noch nicht reich genug, um seinen Überfluß in geistiges Gut zu verwandeln. Er hatte sich zunächst einmal seine Märkte in England, Dänemark, Slawien, Spanien, Italien, Byzanz und Venedig zu sichern, Magdeburg als Umschlagsplatz für den Osten herzurichten und die Ausbeutung der Silberbergwerke von Goslar für sich nutzbar zu machen. Die Feudalen waren durch ihre ewig-gleichen Angelegenheiten in Anspruch genommen, welche dank den geltenden Lehensgesetzen oft großes Kopfzerbrechen verursachten, und konnten erst durch den Einfluß der Kirche an die Beschäftigung mit geistigen Dingen gewöhnt werden. Liutprand von Cremona hat eine Liste aufgestellt, welche uns Aufschluß darüber gibt, was Otto I., seine Mitarbeiter und seine Vorläufer für die Entfaltung der westlichen Gesittung getan haben.
Um seine Bestrebungen verwirklichen zu können, hat es der Kaiser mit der Besetzung der Bistümer genauso gehalten wie mit der Verleihung der Herzogtümer. Er hat sie an zuverlässige Verwandte gegeben: so in den Jahren 940/41 Verdun und Würzburg, 953-56 Köln, Mainz und Trier, 956/57 Cambrai, Osnabrück, Metz und wieder Würzburg ... Aber seine Fürsorge hat nicht minder den Klöstern von St. Gallen und Reichenau gegolten, welche sich oft genug gegen ihre bischöflichen Herren auflehnten und durch kaiserliche Begünstigung geschickt gegen diese ausgespielt werden konnten. Auch hier war »divide et impera« der geheime Grundsatz der weit vorausschauenden Politik Ottos I. Während seiner Regierung entstanden folgende Gründungen seiner Mutter, der Königin Mathilde: die Stiftskirche und das Servatiusstift für Damen in Quedlinburg, die Kanonikerstifte von St. Wipert im Harz, Pöhlde und Herford sowie das Nonnenkloster Nordhausen ... Dagegen sind die Stiftskirche in Gernrode, die Klöster Gernrode und Frose Geschenke jenes berühmten Markgrafen Gero, welcher die Slawenkriege an der Elbe führte ... In Köln ist Erzbischof Brun, als der Beauftragte des Kaisers, der große Gründer gewesen: St. Martins, St. Andreä, und vor allem des gewaltigen Klosters St. Pantaleon ... An Kirchenbauten aus Ottos Zeit führt uns Liutprand auf: die Klosterkirchen von Walbeck, Korvei und Trier sowie die Dome von Halberstadt und Münster ... Auf den Kaiser selbst aber sind zurückzuführen: der Bau des Magdeburger Domes, die Errichtung des Magdeburger Erzbistums und später des Merseburger Bistums, die Umwandlung des Magdeburger Mauritiusklosters in ein Domstift und der Ausbau der berühmten Magdeburger Domschule, in der die Söhne des hohen Adels erzogen wurden.
Bedeutsamer noch als die Durchführung dieser ganz von staatlichen Gesichtspunkten hergeleiteten Kirchenpolitik erscheint uns die Haltung, welche der Kaiser in der Frage der Reformbestrebungen von Cluny einnimmt. Diese religiöse Bewegung ist uns hierzulande keineswegs fremd. Die außerordentliche Anteilnahme, welche Byzanz für alle geistigen Strömungen aufbringt, hat unsere Theologen schon seit dreißig Jahren auf die Bedeutung dieses zu dem französischen Herzogtum Burgund gehörenden Klosters hingewiesen.
Wir wissen, welche Zustände der Verwilderung in den italischen, französischen und zum Teil auch deutschen Klöstern herrschten und herrschen. Wir wundern uns nicht und spielen uns auch nicht als Pharisäer auf. Denn wir haben ja nicht vergessen, wie es lange Zeit bei unseren eigenen Mönchen aussah und was an Belastung für den Staat klösterliche Unordnung bedeuten kann. Wir horchen nur auf, wenn wir von dem Erfolg einer Reformbewegung hören, deren Ziele mönchische Zucht im Sinne der Benediktinerregel, unbedingte Unterordnung des Willens unter das obere Gesetz und Universalität der geistigen Haltung sind. Denn wir sehen hier eine selbständige geistliche Hierarchie besonderer Art entstehen, auf welche Staat und Kirche in gleicher Weise achten müssen. Faßt eine solche Bewegung Fuß, findet sie die Zustimmung der Bevölkerung, weiß sie sich nicht nur Geltung, sondern auch Nimbus zu schaffen, so wird sie eine Macht im Staat, welche eines Tages als politisches Element in Rechnung gestellt werden muß. Liutprand von Cremona, welcher der Clunyschen Reform mehr als kühl gegenübersteht, sehr wahrscheinlich, weil er mit seinem germanischen Instinkt die in ihr schlummernden Gefahren wittert, verhehlte uns nicht, daß auch der Kaiser Otto von ihr nur wenig wissen will. Das Gegenteil muß jedoch von der Kaiserin Adelheid gesagt werden. Es scheint, daß diese Frau mit steigendem Alter ihre Beziehungen zu Cluny vertieft hat und heute dem Abte Majolus, einem ohne Zweifel bedeutenden Manne, einen Einfluß auf ihr persönliches Leben einräumt, der schwerlich von den weltlichen Großen des Reiches mit sehr freundlichem Auge gesehen wird. Da sich jedoch der Kaiser in seinen wichtigen politischen Entscheidungen schon seit langem nicht mehr auf das Dafürhalten der Kaiserin stützt, ist – zum mindesten für den Augenblick – ein Übergreifen clunyscher Anschauungen auf Kreise der Regierung nicht zu befürchten. Die Vorliebe der Kaiserin für Cluny wird jedoch von ihrem Bruder Konrad geteilt, dem König von Burgund, und von dessen zweiter Gemahlin Mathilde, einer Schwester des französischen Königs Lothar. Und hier eben liegt, angesichts des Standes der lothringischen Frage, eine gewisse Gefahr, die wohl gerade Otto I. erkannt haben dürfte.
Obwohl nämlich das Kloster Cluny zum französischen Hoheitsbereiche gehört, erstreckt sich sein bedeutendster Einfluß auf das zum deutschen Hoheitsbereiche gehörende Lothringen, welches heute in die Herzogtümer Ober- und Niederlothringen geteilt ist. Die Klöster St. Arnulf in Metz, St. Maximin in Trier, Gorze bei Metz und St. Gérard in Brogne sind Ableger von Cluny. Sie unterstehen, wie dieses selbst, ausschließlich dem Papst, das heißt St. Paul und St. Peter, in deren Namen der Papst, als angeblicher Nachfolger der Apostel, sie jederzeit an ihre »Pflicht« gemahnen kann.
Solange die päpstliche Macht der kaiserlichen untergeordnet bleibt, wie dies heute der Fall ist, bedeutet diese Ermahnung zur Pflicht also nicht sehr viel. Änderte sich aber das Machtverhältnis zwischen Krone und Tiara zugunsten der Tiara, so könnten im Inneren des Reiches Gegensätze entstehen, die der Regierung vielleicht eines Tages gefährlich würden – und doppelt, wenn sie der französische König zu schüren versuchte. In einem eben erst aus mühevollen Kämpfen gegen Sonderbestrebungen geborenen Staate muß nicht nur jeder politischen, sondern auch jeder geistigen Strömung Beachtung geschenkt werden. Uns Byzantiner zum mindesten hat die Geschichte gelehrt, geistige Kräfte als Wirklichkeiten zu bewerten. Solange Otto I. am Leben ist, wird Cluny kaum eine politische Rolle spielen. Damit es so bleibe, werden die Fortsetzer der sächsischen Dynastie jedoch sehr wachsam sein müssen. In allen Beziehungen der weltlichen Oberhoheit mit geistlichen »Instanzen« ist Mißtrauen das erste Gebot. Ein Herrscher, der diesen Grundsatz aus dem Auge verliert, wird seine Gutgläubigkeit teuer bezahlen müssen. Exempla docent. Es haben uns einige unserer Theologen darauf hingewiesen, daß sich von Cluny aus ein Geist entfalten könnte, der demjenigen eines Theodor von Studion entspräche: also ein Geist der offnen Auflehnung religiöser Mächte gegen die weltliche Oberhoheit. Wenn wir auch nicht glauben, daß ein solcher Vergleich sehr glücklich sei, da im Westen die Voraussetzungen fehlen, welche zur Zeit des Bilderstreites in Byzanz einen Mann wie Theodor von Studion auf den Plan gerufen haben, so halten wir es doch für möglich, daß Cluny sich zum Symbol der geistig-sittlichen Kräfte des Christentums gegen die weltliche Macht der Kaiser entwickeln könnte. Käme es je zum Austrag solcher Gegensätze, so würde im Zeichen einer solchen Kampflosung natürlich sofort der politische Krieg entfesselt werden. Alle inneren und äußeren Feinde des deutschen Kaisertumes (des Imperium Romanum occidentale) würden zusammenstehen, um sich von unerwünschten Bevormundungen zu befreien und ihr »eignes« Leben zu leben. Ob sie in einer solchen vermeintlichen Freiheit vielleicht nicht viel schlechter führen als im Schutze einer sehr erträglichen Gebundenheit: eine solche Erwägung würde ihnen gewiß nicht kommen, ehe sie zu Taten schritten. Die Vernunft wird nur dann als eine politische Macht erkannt, wenn sie von einem Überragend-Vernünftigen den Völkern aufgezwungen wird. Damit er dazu imstande sei, muß er auf jede persönliche Eitelkeit verzichtet haben und den Mantel der Unbeliebtheit mit einem Lächeln zu tragen wissen. Wer mit Gefühlen große Politik treiben will, ist wie ein Schuster, der mit einem Hammer aus Glas die Nägel in die Sohlen schlagen wollte. Der Hammer würde zerbrechen, und die Glassplitter würden ihm die Netzhaut verwunden. Auch der Schuh käme niemals zustande.