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. In die Apotheke fiel der Sonnenschein des Mai. Die beiden Liebenden nahmen ihn dankbar und beinahe getröstet hin wie Wesen, die fern sind den Geschäften und Wichtigkeiten der Zweibeinigen. Ging es schlimm, dann wanderten sie aus. Dazu reichte ihr Erspartes. Und seit auch Professor Solvanus da war, schien überhaupt alles leichter zu werden. Der tröstete: »Kinder, ich habe im Blut, daß es nicht übel ausgeht. Vielleicht macht es auch bloß der Mai, der Monat der Verliebten und der Hoffnung, daß ihr stark bleiben werdet. Denkt, die Segler sind wieder da; die Reben blühen in einem Monat schon. Das allein und daß wieder Sonnengnade und kühler Schatten unter den Bäumen ist, gilt als wichtiger, als ob ihr euch ein sogenanntes Nest einrichtet, an das man sich gewöhnt – bis auf den Ärger und die Sorgen. Ich, wenn ich völlig frei wäre, ich würde mir selber eine Bude zimmern; Bungalow: ein offener Vorraum nach der Weite und der Sonne hin; eine Schattenlaube nach den Alpen des Nordens zu, sonst ein Zimmer. Im Dach ein Schlafraum, gut. Diogenes, Diogenes, was würdest du zu Leuten sagen, die bloß im Auto zu hetzen – und niemals in ihrer Sehnsucht und Phantasie zu fliegen vermögen!«

Ja, es war ein Glück, daß diese unausgeglichene Affäre, daß die so bange schwere Prüfungszeit in solch wunderbare Tage fiel, in denen der Pirol die Pansflöte blies für den versteckten und abgesetzten Gott.

Die braungelben Weingärten waren begrünt, im Hause Vollrats am Abhang über der verschütteten Römerstadt hörte man aus den alten Buchen die Hohltaube rufen und die Ringeltaube früh und spät. Und wenn die alle vor Sonnenglast schwiegen, dann war die kleine Turteltaube immer noch Sanges voll. Die ersten Klappermühlen waren hoch in die Kirschbäume gebunden und überragten sie schreckhaft für Häher und Krähe, die alle Mittag zu den labenden Früchten Besuch machen kamen. Dlikktakktikk, prasselten sie auf, das genäschige Zeug flog für alle Fälle ein wenig davon, und dann hatte der Windkönig allein über allen Höhen Stimme und Wort und Melodie. Die Erde redete wieder; sanft brausten die Wälder, unaussagbar dufteten die Kieferschonungen und das grellgrüne Tannenspitzengedränge.

Die Menschen sogar waren freundlicher. In die Apotheke traten sie mit hellerem Gruß, schienen sogar gesünder zu sein.

Da und dort – freilich: ein mißtrauischer Blick auf den stillen Provisor. Es hatte sich doch ein wenig von der Schlafsucht des hohen Herrn drüben in Quellsee herumgemunkelt. Ein Glück, daß nicht mehr die Zeiten der Monarchie waren. Da galt ein hochherrschaftliches Menschendasein, sogar im bürgerlichen und unpolitischen Feingehalt, neuntausend Prozent. Jetzt – so sind die Menschen – nahmen sie's nicht so erregt, daß ein abgesetzter Herzog noch länger schlief, als er ehedem auf dem sichern Thron geschlafen haben würde.

Bloß Tilla war ein wenig aus der Fassung wegen dieser Blicke und dieser gedrückten Höflichkeit, die gleich bereit ist, sich zurückzuziehen, sobald eine Menschensache schief ausgehen sollte. Sie als Frau hatte ein viel feineres Gefühl, solchen Dingen den Druck abzuspüren. Theo war gelassen und beinahe fatalistisch.

Onkel Mappe wartete ab, tröstete, befürchtete freilich da und dort immer noch, aber nicht mehr so sorgenvoll. Es schien, als hätte er von Vollrat einen Wink bekommen, der ihn beruhigte. Denn was Vollrat erfahren, das mußte er aus Standesgründen verschweigen; es waren ja auch nur Indizien, die er gesammelt hatte. Bloß das Gußnäpfchen für Suppositorien war an Freund Schratt ins Forensische Institut abgegangen. Doch nein, auch sonst ein ausführlicher Bericht über die Aussage des hohen Herrn. Über den mußte Vollrat Schweigen bewahren. Aber er tröstete das bedrückte Haus zur »Blauen Gans« gelegentlich, wenn Neza nicht anwesend war.

Neza nämlich schien Stimmungsberichte abzusenden. Denn täglich kamen entweder der Kutscher oder der Kammerdiener mit irgendeinem kleinen Rezept, das bloß auf ein Schönheitswasser oder ein Pflästerchen lautete. Und immer wußte dann Neza ihre kleine Klatschminute wahrzunehmen.

Von einer Anzeige war im Bezirksgericht noch nichts bekannt. Dort fragte unauffällig der Kauz Solvanus an. Er hatte Freunde aus alten Tagen, da er noch Jurist zu werden gedachte wie sein erlauchter Vater, der geherrscht hatte über ein ganzes Land. Als Gerichtspräsident.

So steckten denn die beiden verhagelten Vögel die Köpfe etwas freier heraus. Aber niemals vor Neza. Das hatten Vollrat, Solvanus und Mappe einstimmig angeraten. Die kleine Neza schien dem Mediziner von Quellsee ungefähr ebenso gut zu sein als dem blonden Provisor. Sie war ihm verbündet, so oder so.

Ein Druck vollgepreßten Abwartens lag trotz der hellen Frühlingsblüte über dem Hause, und nicht einmal die Quenzlerin schien sich hervorzugetrauen. Immer noch lag der große lange Steinfisch im Mörser, in den entweder sie oder die arglistige Neza (aber deren Angst war gar zu echt gewesen) ihn hineingetan hatte.

Man wußte gar nichts. Drüben schwieg der Doktor. Er kam auch nie mehr herüber in die Apotheke.

Im Gerichtsmedizinischen Institut bemühte sich inzwischen Schratt damit, aus der dünnen Fettschicht, welche das erwärmt gewesene Gußnäpfchen innen noch hauchartig bedeckte, den Morphiumgehalt zu ermessen. Da ging es um beinahe unwägbare Mengen; da ging es um die entsetzlichste Sublimität der damaligen Wissenschaft! Daß die Form der hineingegossenen Zäpfchen stimmte, das konnte kein Beweis werden. Es war bestenfalls ein tüchtiges Verdachtsmoment für die Redekunst eines angreifenden Advokaten und die Fassungskraft eines mittelguten Richtergehirnes. Vor Geschworenen allerdings besser verwertbar.

Aber hier galt es mit einer Wage, die von der bloßen warmen Nähe eines menschlichen Körpers einseitige Schenkelausdehnung und Ausschlag empfing, scheinbar Unwägbares zu wiegen. Tag für Tag nahm der Professor eine winzige Probe von dem kaum merkbaren Belag des Näpfchens hinweg. Es mußte zehn- und mehrmals völlig gleich stimmen. Das Näpfchen war in heißes Wasser getaucht worden, damit die Suppositorien dem Verfertiger leicht in die Hand glitschten, und so hatte es zudem keine Fingerabdrücke behalten.

Aber als er zu Ende war, schrieb der sonst so studentenhaft stürmische und doch in seiner Pflicht unsäglich langsame und gewissenhafte Schratt an Professor Vollrat ein langes Gutachten.

Die verschwindend geringen Überreste ergaben allerdings einen Prozentgehalt von ungefähr einem Zehnfachen an Morphium gegenüber der Vorschrift. Er aber, Schratt, sähe nicht ein, wie diese Tatsache mit den Vergiftungserscheinungen beim Herzog zusammenstimmen können. Denn nach Vollrats Bericht handle es sich hier doch unmöglich um eine Morphiumvergiftung.

Das war es nun gerade, was Vollrat brauchte. Und jetzt verfaßte er folgenden, in mehreren Exemplaren durchgeschlagenen Brief an den frischen Eroberer fremder Erdteile, der sich bloß im alten nicht so genau zu orientieren wußte wie in den lebensgefährlichen Urwäldern.

»Hochgeehrter Herr Kollege!

Magister Eligius Mappe hat mich mit der Untersuchung des angeblich von Provisor Theophrast G. begangenen Kunstfehlers betraut, durch welchen das Leben und mindestens die Gesundheit Ihres Patienten, des Herzogs von Braganza in Quellsee, bedroht worden war. Da Sie Proben der allerdings mit zehnfacher Dosis laborierten Morphiumzäpfchen an das Forensische Institut zu senden versprachen, welche allerdings dort noch nicht eingetroffen sind, habe ich meinerseits ein Exemplar der in Ihrer Hausapotheke gebrauchten Gußnäpfe für diese Suppositorien (das ich mir erlaubte, bei meiner Anwesenheit in Quellsee an mich zu nehmen – es steht Ihnen gerichtliche Anzeige deshalb offen) an dasselbe Institut geschickt, welches, wie Sie aus beifolgender Gutachtenkopie zu ersehen belieben, adhärierende Spuren ganz derselben Zusammensetzung vorfand, wie sie in Ihrem an Magister Mappe abgelassenen Rezept vorgeschrieben waren. Nur – diese Spuren enthalten zwar den gleichen Gehalt an Atropin, hingegen den zehnfachen an morph. mur …

Nun verwahren sich allerdings sowohl Herr Hofrat Schratt samt seinen Assistenten, wie auch ich selber, gegen jede Unterschiebung des Gedankens, daß Sie, hochgeehrter Herr Kollege, dem hohen Patienten eines jener allzu dreist bemessenen Mittel eingeführt haben könnten. Es besteht bloß der Verdacht, daß infolge einer unglücklichen Verwechslung jene anscheinend bei Ihnen angefertigten Zäpfchen (denn in der Mappeschen Apotheke wird ebenfalls nicht mehr in charta cerata gearbeitet – und Ihre Suppositoria passen nicht ins dortige Modell, wohl aber zum Fingermaß Ihres Kranken) die Grundlage Ihrer Annahme gebildet haben, der Kunstfehler wäre in der hiesigen Apotheke zu Lindenau geschehen.

Ein Verdacht aber, dem Kranken diese Dosis geboten zu haben, der für Ihre ärztliche Ehre empörend zu nennen wäre, kann nach gemeinsamem Ermessen schon deshalb nicht auf Ihnen, sehr geehrter Herr Kollege, lasten bleiben, als Ihr hoher Patient in der zur Disputation stehenden Zeit überhaupt keine nennenswert wirksame Dosis morph. mur. oder alcaloidum theb. mur. eingeführt erhalten haben kann, da Opiate oder Morphium in ihrer Wirkung ganz allgemein als das Gegenteil purgierender Mittel gelten. Als ein allerdings nur leichtes Purgativ scheint sich nach der Aussage des hohen Patienten ein Schlafmittel bewährt zu haben, das nach dem Erwachen des Patienten auch eine Störung der Richtungsmuskel des Auges in einer Weise zur Folge hatte, daß stundenlanges ›Doppeltsehen‹ eintrat. Ich gebrauche hier bloß die Ausdrücke des Patienten. Nun ist der Wissenschaft bekannt, daß beide Erscheinungen (laxierende Wirkung und Doppeltsehen bei Vergiftung) insbesondere einem Mononatriumsalze der Diäthylbarbitursäure zukommen – welche gerade Sie, hochgeehrter Herr Kollege, nach einstimmiger Aussage der in der Apotheke beschäftigten Personen (auch des Fräulein Agnes oder Neza) als einzige Kundschaft wiederholt bezogen haben nebst andern Schlafmitteln, welchen aber sämtlich die von dem Patienten aufs lebhafteste also bezeichnete Geschmackserscheinung ›nach Narkose‹ mangelt.

Ich bitte Sie also, sehr geehrter Herr Kollege, mir kurz mitteilen zu wollen, ob wir die, der Ehre unserer Apotheke unbedingt schuldige öffentliche Anzeige zur Untersuchung des Falles veranlassen sollen. Vielleicht darf ich diese Anzeige in Ihrem Namen (als alter und nicht mit dem Odium persönlicher Eifersucht belasteter Kollege und unparteiischer Professor eines großen Institutes) besser und gefahrloser erstatten als Sie. Immer in größter kollegialer Hochschätzung Ihr sehr ergebener Karl Vollrat, außerordentlicher Professor der Un. G.«


Nach Empfang und mehrmaliger Einnahme des Eindrucks, den diese Zeilen auf den schönen, großen, kühnen und mutigen Weidmann aus Afrika machten, stürzte dieser in sein doktorales Laboratorium, wo er erst jetzt das Fehlen eines der kleinen konischen Näpfchen zum Eingießen der Suppositorien bemerkte.

»An solch einem Zeugs hängt – an solch einem verfluchten Zeugs hängt – –! Na, ich werde künftig gescheiter sein!«

Mit seiner eigenen, heute schicksalsschweren Morgenpost waren auch die täglichen zahlreichen Briefe an den fürstlichen Patienten gekommen.

»Bettelbriefe«, sagte der Doktor.

»Doktor, diese Elendskundgebungen zerbrechen mir das Herz! Vielleicht sind sie mitschuldig, daß ich nicht mehr schlafen, nie und nimmermehr schlafen kann! Wie Macbeth, der gemordet hat. Denn mir ist, als mordete ich durch meine Stellung, durch mein Vermögen so viele arme, vom Schicksal Unbeteilte!«

»Dort, Hoheit, wo Durra wächst, wo blanke gesunde Zähne aus schwarzem Angesicht weißer lachen als Elfenbein, dort haben Hoheit stets vorzüglich geschlafen! Dort nimmt uns kein blasses und skrofulöses Kind die heitere Ruhe eines guten Gewissens. Dort, Hoheit, wäre ein zweitägiger Schlaf wie der letzte, so unendlich viel besprochene und mir am peinlichsten unerwünschte, unmöglich!«

»Ach, lassen Sie, dieser Schlaf ist eine meiner schönsten Erinnerungen – bis auf dieses verwünschte Doppeltsehen! Man hätte einen Tag lang nicht ins Schwarze getroffen.«

»Hoheit –!«

»Ja, Doktor?«

»Um diese Zeit, jetzt, ziehen sich Nilpferde, Nashörner, alles Wild und was ihm an Raubgesindel folgt, aus der verbrannten Steppe in den dichten Urwald des Sudans zurück. Oh, Durchlaucht! Einmal wieder den Löwen brüllen hören …«

»Wenn man nicht schlafen kann. Das wäre schon etwas, ja wirklich«, sagte der hohe Patient. »Wenn bloß meine Frau sich nicht so einsam fühlte!«

»Hoheit geben der kleinen Neza in der Apotheke zur blauen Gans einfach« (nein, einfach ist es bloß für Hoheit) – »dreifaches Gehalt. Für Bridgespielen und sonst langweilige Abende. Das Mädel ist ja wirklich köstlich und hat sogar Hoheit –«

»– gefallen und also gefehlt, wirklich, Doktorchen! Wir nehmen sie zurück. Wir beide fahren ein wenig in die erhabene Welt der Tropen, wo wach zu sein unterm Kreuz des Südens eine Wonne ist. Denn, Doktor, bei Tag schlafe ich immer wie ein sattgefressenes Frett im Bau der Kaninchen.«

»Wirklich, Hoheit; wirklich, Königliche Hoheit«, bestätigte der Doktor lachend und verneigte sich.


Herr Professor Vollrat erhielt aus Quellsee folgenden Brief:

»Hochverehrter und lieber Herr Professor,
teurer Meister!

Ihr mir höchst interessanter Brief kam gerade in den Trubel des Einpackens für meinen hohen Patienten, der gerne wieder einmal die erhabenen und wilden Stimmen des Urwaldes vernehmen möchte, wohin ich ihm zu folgen habe. Die kleine Angelegenheit mit dem Provisor hatte ich in der Aufregung darüber, wieder einmal mit Löwen und Pachydermata statt europäischen Menschen konfrontiert zu sein, so völlig vergessen, daß ich die Anzeige wegen der ohnedies unschuldig und lächerlich verlaufenen Sache, irgendeinen Fehlgriff um ein paar Milligramm, vollständig vergessen hatte. Bitte, hochverehrter Meister, grüßen Sie mir alle Leutchen, die ich vielleicht gegen mein Wissen und Wollen in ihrem lieben und liebenswürdigen Idyll aufgeschreckt haben sollte, auf das herzlichste von dem, der auch Sie stets unvergessen im Herzen tragen wird – als Ihr unverbrüchlich treuer Schüler – –«

 


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