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.Professor Schratt saß mit dem Kauz der Athene und Onkel Mappe zusammen im Stammwirtshaus »Zum dreckigen Löffel«, in dem sie vor langen, langen Jahrzehnten als junge und ziemlich bedürftige Studenten ihre Kurzweil getrieben. Schratt war bei weitem der älteste, aber auch der, von dem das meiste Leben sprühte. Blitzweißes Haar, blitzblaue Augen, blitzschneller Witz.

Sie erwarteten ernste Gesellschaft und wollten vorher schnell noch einmal die alten Jungen sein. Aber irgendein Druck ließ den ersehnten Unernst nicht aufkommen. Das Unausgetragene zweier Welten lag wieder einmal, allzu grell beleuchtet, über dem unselig dummen Westlandzipfel Asiens. Brand, Blut, Streik. Hie Kapital, dort Armut, Neid, Haß, eiliger Vormarsch der Gewalt: als Sturmtruppe Rußlands.

»Wie wird das enden?« sagte Onkel Mappe, der jetzt wochenlang in der Universitätsstadt zu tun hatte. Er gehörte zum Untersuchungsrat in der seit einem Dritteljahrhundert verschollenen Affäre Vollrat. »Wie wird das enden?«

»Das frißt noch lange an unserer Ruhe«, sagte Solvanus. »Das wird sich wie Erosionswasser in die werdenden Seelen einnagen. Zuletzt siegt die geeinte, friedliche Demokratie, nicht der Armen, sondern der Vielen. Die Armut wird arm bleiben, trotz ihres Sieges.«

»Was! Da ist noch Ungarn, da ist Italien! Italien wird einmarschieren! Ungarn auch. Wir verdienen kein besseres Los als das alte Polen, das sich selber zerriß. Mene, tekel, upharsin.«

Die blauen Augen des alten Hofrates Schratt blitzten vor Erregung. »Ich stelle mich mit meinen Studenten selber in Schlachtlinie. Sobald wir hier die Angelegenheit unseres alten Freundes, dem ich leider damals selber unrecht getan, wieder gutgemacht haben, lerne ich das Maschinengewehr bedienen.«

»Du? Du, der hilfreiche Arzt?«

»Ich, hilfreich? Ja, dem Staate hilfreich gegen jedes Verbrechen. Du vergißt, daß ich nichts bin als Gerichtssachkundig er. Daß ich das Institut für Juridische Medizin leite!«

»Schratt, du wirst dich verbrennen. Freudig soll man einer Sache dienen, nicht zornig. Deine Begeisterung in Ehren, aber – – ich weiß, die Weltseele geht andere Wege, als die deinen möchten.«

»Du, Mahatma, das war ein Spottwort.«

»Es geht Europa schlecht, weil ungeheure, priesterlich stille Lebenskräfte ihm unterschlagen und weggeschoben sind. Es geht sogar Amerika schlecht, das mehr voll guten Willens steckt als das boshafte Westzipfelland Asiens mit seinen zwanzig Grenzen! Es geht ihnen allen elend, weil sie nie mehr die Eremiten befragen, wie das ehedem klug und üblich war. Der Einsame allein ist Kern und Zentrum. Aus sich lenkt er, ohne zu wollen – denn dann wäre es gefehlt –, die Dinge dieser Welt als Faktor der Kristalle, als Kind der Geometrie und Mathematik. Er lenkt, weiß Gott was, in Wellen.«

»Wirklich, ein echter Mahatma«, sagte Schratt belustigt.

»Mahatma? Das ist ein Nichts; ein Nichts, das alles fühlt und empfindet. Oft mitleidlos wie die Natur, aber staunend wie ein Kind. Und in diesem Staunen liegt die Zukunft und das Weltgericht.«

So erwiderte der Kauz der Athene dem Spotte. Und er fügte hinzu: »Du, mein allzu klarer Gerichtsmediziner, ich sage dir, Pallas allein gelassen, wäre eine hochmütige und unfruchtbare Gans, säße ihr nicht der Nachtkauz auf der Schulter, der im Dunkeln fliegen kann.«

Da kamen schon die anderen Herren des Ausschusses. Die Gelehrten hatten sich zum Präses den ehrenhaftesten und gewissenhaftesten Richter der Stadt erwählt; einen Mann, der völlig außerhalb der Sache Vollrats stand und vollkommen objektiv die Akten zu durchprüfen hatte. Der zweite Mann war ein Physiolog; Hagestolz, hager und stolz, aber ein Herz aus Gold und unverrostbarem Stahl. Gütig, gerecht, unbeugsam, kerzengerade, eine Ehre der Hochschule, angebetet von ihrer Jugend.

Der dritte war Mahatma Solvanus; ruhig, gütig, weise. Berühmt bis in Haeckels und Darwins Bücher hinein, die beide sein enormes Wissen benützt hatten.

Der vierte Onkel Mappe.

Der fünfte ein alter Offizier, der längst umgesattelt und Philosophie studiert hatte. Stets Frondeur, stets prüfend über allen neuen Ideen grübelnd, stets noch lernend. Alle vier Gelehrten kannte er, besprach sich mit ihnen, und alle vier schätzten seine Biederkeit, sein gesundes Urteil, seine aufrechte Art, nichts anzuerkennen, was er nicht selber durchgefühlt hatte. Da das Verfahren zuerst ehrenrätlich war (denn die schweren Aktenstöße prüfte der Richter als Rechtskundiger ganz allein durch – ein Opfer nächtlicher Arbeit war es für Recht und Ehre), hatte man auch einen akademisch gebildeten Offizier beiziehen zu müssen gedacht.

Und mit tiefem Ernst, der kaum da und dort durch einen sparsamen Schluck unterbrochen wurde, berieten die Herren schon jetzt auf ehedem so lustigen Boden, was sie morgen auf akademischer Erde zuerst vornehmen sollten, um einig und ohne Zeitverlust ihr ernstes Amt antreten zu können, jeder schon im Bilde und Programm.

Durch Zufall kam auch Seine Magnifizenz heute in die alte Studentenkneipe. Der Rektor, dem man nun geeinigt vertraulich mitteilen konnte, um was es sich hier handle.

»Ja, meine Herren,« rief der berühmte und gefeierte Mann, dem eben der Nobelpreis angekündigt worden war, denn es war Herbst geworden, »meine Herren, ich selber als junger Student war ja Augen- und Ohrenzeuge der ganzen Angelegenheit! Ich bitte, mich als Zeuge einzuvernehmen.«

Niemand fragte, ob der gefeierte Gelehrte für oder wider auszusagen vermöchte. Das Gespräch kam sofort auf private Dinge, und im Gefühl einer guten Tat wurden alle diese im Herzen großen und gütigen Männer jetzt endlich lebensfroh, nach dreiunddreißig Jahren in demselben kleinen Pfuhl voll Bier und Tabak.

 


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