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Junge Menschen haben manchmal eine Eigenschaft, die beinahe an ein sittliches Ausflußbestreben der Gottheit glauben machen könnte: ein unbesiegbares Gerechtigkeitsgefühl, das sie zuweilen sogar dem Geschick Michael Kohlhaasens entgegentreibt. Solche Naturen sind in den angelsächsischen Ländern, insbesondere in Nordamerika, gar nicht selten; sie mischen sich blindlings in Dinge ein, die für sie im Grunde fremd sein sollten. Im nachlässigeren Österreich, wo jeder milde gegen sich und andere ist, war dies eine Seltenheit, daß Theophrast gegen Wien fuhr, eine Pharmazeutentagung zu besuchen, um dabei, hauptsächlich und zähe, den Staatssekretär für Unterricht – Tag um Tag – unablässig wegen ungesühnten Unrechts zu quälen.
Wien, sosehr es zu temperamentvollen Aufständen neigt, ist eine jener wenigen, noch nicht gottverlassenen, ja sogar göttlichen und goldigen Städte der Erde, wo alle Unruhe, aller Haß und Hader durch wunderbare Fügung eines hellen und leichten, also auch leicht beruhigten Blutes sich selber bald regulieren. Und man hört geduldig, wenigstens bis zum Dämmerschoppen, in allen Parteien auf gar zu schrille Anklage. Man legt begütigende Apostelhände auf in allen Ämtern.
Dem jungen Menschen wurde versprochen: »Wenn die Fakultät selber Reinigung verlangt und alte Schuld vermutet, dann muß die ganze Angelegenheit erst einmal vor einem Ehrenrat bereinigt werden. Fällt der einen Freispruch gegen den ominös umwitterten Schatten des alten Doktor Vollrat, dann kann die staatliche Gerechtigkeit nachfolgen.« Denn in die Mauern der Alma mater durfte sie damals nicht hinein.
Wenn ein Mensch etwas wirklich will, dann entscheidet der Erfolg stets für ihn. Denen, von welchen er etwas fordert, wird ihre Ruhe zuletzt lieber als sein Erstrebtes.
»Wollen …« In dieser hellen, freundlichen, klar durchsichtigen Stadt schwebte nicht jenes dunkle Wollen, das dort unten, im Blute, Bilder über Bilder treibt. Hier gab es keine Geister, aber auch kein schwer-süßes Gefühl von Dichtung, die überall dämmert. Man glaubte nicht an dunkle Kräfte. Hier glaubte alles entweder an sich oder an den Bundeskanzler oder an den Bürgermeister und war zufrieden damit. Solche Menschen lassen sich von den Willenskräften der dumpfblütigen Provinz leicht Richtung geben: schon aus Bequemlichkeit.
Theo wollte. Er gab keine Ruhe. Zu seiner Ehre: er ahnte gar nicht, daß von dieser Aufgabe letzten Endes die Königskrone und das Herrschertum über die Apotheke zur blauen Gans samt Inventar und Hausgespenst abhängig sein könnte. Auch dieses Inventarstück war recht schätzbar. Denn die Sage von diesem Hausgespenst machte die Apotheke auch in den verlassensten Ferialzeiten einbruchsicher. Überdies verbreitete sich bei den Bauern ob solcher Sage eine abergläubische Scheu vor geheimen Kräften gerade dieser Apotheke. Man glaubte an diese Kräfte, gruselnd.
Ach, die Apotheke, die er in Wien fast vergessen, samt ihren Kräften!
Diese wirkten auch stets. Vor dem Kirchtag pflegte Onkel Mappe dem Provisorchen zu gebieten: »Da sind drei Pfund Schweinefett. Da ist ein Pfund Dachsfett. Ein Pfund Schweinefett wird, braun gesprenkelt mit terra umbra und Goldocker, ganz grob emulsiert. Das ist dann Kreuzotternschmalz. Ein Pfund machst du, glatt und blau, mit Fernambukholzextraktum und diesem Färbemittel an: es wird davon gleißend goldgrün. Das ist mein Geheimnis. Es wird so zu Smaragdeidechsenfett. Gegen den bösen Blick, gegen Schwergeburt und Verzauberung überhaupt. Das dritte Pfund, mit una unc. tinctura cantharidae, Therebinthina cocta und resina Benzoe, äußerlich angewendet, und mit einem innerlichen Mittel aus ganz kommunem Selleriedekoktum und Kakaobohnen nebst Zimt und Nelkenöl ad libitum, aber kräftig dosiert, genommen, dient zu einer Kraft, auf die mein Provisorchen in seiner Reinheit erst noch ein wenig lächeln wird. Es ist ein sehr beliebtes Mittel, das von Lebemännern hoch bezahlt wird. Geschieht ihnen recht. Ich habe in derlei Dingen kein Erbarmen mit der Preissetzung. Und es ist mein, jetzt unser Geheimnis. Sollte aber der betreffende, vorübergehend zu sehr Gestärkte zu übermütig werden, mein liebes Provisorchen, dann geben Sie der Frau des betreffenden Mannes dieses Dachsfett, das nur in mikroskopischer Untersuchung und niemals an Geschmack oder griesiger Struktur von reinem Gänsefett zu unterscheiden ist, in eine Pomade nach beifolgendem Rezept. Sie sehen, das Rezept ist ganz harmlos, außer für Kopfläuse. Es ist ein Haarmittel, das aber, auf die Schädeldecke appliziert, auf der noch grünes Gras wächst, die ganze Prärie da über der grauen Gehirnrinde binnen kurzem seelenvoll mit einem Alteherrengrau überzieht. Solche Männer werden dann oft dazu gebracht, aus der Not eine Tugend zu machen und – treu zu bleiben. Ich hätte solch hübsche alte Geheimnisse niemand sonst anvertraut und weiß noch deren andere. Aber Sie, Sie scheinen mir der Mann zu sein, der ausgleichende Gerechtigkeit üben kann: nur Gerechtigkeit. In andere Hände gehören solche kleine Spassetteln nicht.«
Da Onkel Mappe ihm diese und andere, mehr humorvolle als gefährliche Geheimnisse der altländischen Offizin vertrauensvoll preisgegeben hatte, die natürlich bei vorsichtiger Dosierung niemals schädlich wirkten, so gewann der ehrliche Provisor nur noch mehr Zutrauen zum vergnügten Vorherrscher über menschliche Schwächen. Onkel Mappe gab überdies den Gewinn aus solch kleinen Schalkhaftigkeiten in Form von unentgeltlichen wahren Heilmitteln an arme alte Weibchen, an Arbeiterfrauen und sorgenvolle Kleinrentner ab, und so büßten die Dummen, die Schalke, die Sündigen ihre Steuer zugunsten der wirklich Elenden am Leben, der Armen und Leidenden.
Damit war insgeheim die ganze Apotheke zu einem einzigen, sich selber regulierenden guten Staate zusammengewachsen, der seine Strahlen warm in ein gut gelüftetes Hirn entsandte.