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.Oben auf dem Berge hinterm »Büchsenmeister«, dessen Anwesen immer noch den alten Lehensnamen der Erzbischöfe von Salzburg trägt, weil der Inhaber das dreifache Hundert Geschützstücke zu betreuen hatte, das die alte Festung gegen Türken, Magyaren, Kuruzen und anderes Raubgesindel verwahrte, oben auf dem Berge, dessen flacher Gipfel immer noch mit den Resten des vier-, ja fünftausendjährigen Ringwalls umgeben ist, blühte zum zweiten Male der nicht auszutilgende rote Mohn, als die beiden Apothekerleutchen zum Bildchen der » magna mater«, der Kybele, wallfahrteten, das Tilla zu sehen wünschte. Die großen asiatischen Locken umgaben immer noch charakteristisch das verstümmelte Angesicht der ziemlich naiv gemeißelten Sandsteingöttin.

»Die große Mutter. Es muß auch irgendwo herum ein Mithrastempel gestanden haben«, sagte Theo. »Denn die beiden gingen immer Hand in Hand.«

»Die zwei Asiaten«, lächelte Tilla. »Wir sind gänzlich verschiedenen Stammes. Ich, die Südslawin –«

»Sie haben römischen Typus, Tilla. So braun, so schlank, so feingliedrig, so schön – so kleiner Kopf, so kleine Füße, so –«

Das Mädchen sah ihn unendlich glücklich aus goldbraunen Augen an. Er schwieg, und sie stiegen zum Gipfel der feldbedeckten Kuppe empor, auf der die unermeßlich alte »Postela« gelegen hatte; später römische Villen und Gräber römischer Sonderlinge, welche durchaus nicht im Friedhof an der Straße unten beerdigt sein, sondern hier oben, der Sonne näher, dem sanft melancholischen Gesange der kleinen Rebenzikaden bis zur tiefsten Schlummertrunkenheit ergeben sein wollten.

»Ich hätte nicht begonnen, Ihnen zu sagen, Tilla, daß ich Sie so unsäglich schön und seltsam finde – ganz zu dieser entfernten, kaum glaubhaften Wunder- und Sagenwelt gehörig –, wenn Onkel Mappe nicht neulich gesagt hätte, er gäbe die Apotheke unter Umständen auch einem armen Teufel weiter, wie ich es bin.«

Sie schwieg. Sie hatte solche Angst vor diesem Augenblick, daß sie sich mühte, an andere Dinge zu denken. Etwa an die gestrige Überschrift zum Rezept: Holländische Art / nytzbar / um gar schön / reylichlich und glantzicht Haar zu gewinnen. / Ob auch dreyn / ware Hexenrinkh / kahl wurden seyindt.

Und wie alle verliebten und verlegenen Frauen fuhr sie sich ins Haar, um es zu ordnen, während er dieser Bewegung mit ungemeiner Zärtlichkeit zusah.

Nur noch an der Via Appia, der Gräberstraße des alten Roms, blüht der rote Mohn so gierig und frevelhaft wie aus dieser Hochstelle, dem fünftausend Jahre alten Völkergrabe. Es ist, als gäb's in ihm eine viel gesündere Art wiedererstandener Geister, die zurück wollen zum lieben Leben, das sie durchaus, durchaus nicht lassen können. Noch einmal und immer wieder durchblühen und durchbluten müssen sie es – als sehnliche Schwalben, als roter Mohn.

Theo war als Pharmazeut viel zu sehr an sorgfältiges Abwiegen gewöhnt, als daß er das deutlich bebende, braune Mädel etwa robust und reckenblond umfaßt hätte. Er sah sie immer nur an und sagte nichts. Er sah in den roten, aufhetzenden Mohn hinein. Aus ihm empfand er heidnische Lockung; empfand ein: ›Ja, ja, tu's.‹ Und – hatte dann wieder Angst. Das braune Südmädel hatte sich indessen das Haar gerichtet und war wieder von ihrer Verwirrung erholt.

»Es ist ja auch ein Unsinn«, sagte Theo und faßte seine Kräfte in Pfunden und seine Seele granweis zusammen. »Onkel Mappe muß ja weiterleben – und er hat nicht das geringste Vermögen. Zudem, er kann sowenig ohne eigen Haus leben wie eine Schnecke. Das also läge in weiter Ferne, und ich habe, wie ein Windhund, in irgendein Unbestimmtes hinein drauflosgejagt.«

»Auf was denn aber nur«, sagte sie erstaunt und beinahe unwillig.

»Ja«, und Theo pflückte ein paar der aufwühlend roten Blüten. »Ja: Da hatte ich nämlich einen unglückseligen Augenblick daran gedacht, daß wir beide die Apotheke weiterführen könnten.«

»Ach was; die Apotheke! Wir haben in und neben der Apotheke bisher ganz gut weitergelebt und –«

»Und?«

»Nichts.«

»Und? Und!!??«

»Nichts.«

Da endlich griff das angelsächsisch lange und blonde Mannkind zu und nahm sich die versagende Dunkle recht fest in die Arme. Und die hing darin wie eine Frucht, die nichts mehr möchte als aus lauter Reife süß sein und fallen.

Man hätte sie von aller Erde her sehen können, wie dort hoch oben sie sich so küßten, denn die aufrechten, schönen Gestalten standen wie zwei antike Bilder frei gegen den Himmel; schwarz gegen mohnrot und wolkenweiß und blau. Jeder hätte sich gefreut. Und bloß ein Zufall war's, oder die alten Götter machten's, daß niemand das sonst dörflich aufregende Ereignis sah.

»Uns haben wir. Die Apotheke zur blauen Gans aber haben wir nicht«, sagte Theo glücklich und betrübt, als sie wieder in den Nachmittagsdienst mußten.

»Was? Ach, was! Wenn wir nur einander haben!«

In der Apotheke dann sagten sie einander wieder »Sie« wie nur je und ehedem; aber manchmal wurde eine Mixtur wegen eines kleinen Händedrucks zu schwach. Denn wenn aus derselben Ursache zuviel in ein Fläschchen kam, dann wogen beide das Zeug noch einmal so genau nach, daß es Onkel Mappe langweilig wurde bei der auffälligen Gewissenhaftigkeit der beiden und er eine Pfeife rauchen ging. Dann dauerte die Bereitung des Rezeptes erst recht lange, und die Bauern hatten gewaltigen Respekt vor den Komplikationen der lateinischen Küche.

Mitten in ihrer, von wildestem und ganz real anwesendem Aberglauben umwobenen Wissenschaft war alles geblieben, des die Wissenschaft sonst völlig entbehrt, außer der Gelehrte wäre eben auch nichts anderes denn Kind und Poet: Schönheit …

Schönheit … Die hatte die Apotheke zur blauen Gans.

Nicht bloß war es das, daß beide Menschenkinder sehr schön waren. Die verbräunte, alte Offizin mit ihren blattgoldechten, ebenso verbräunten Schnörkelregalen, mit der Gigantosaurusrippe, die unter der Wölbung als Drachenrippe hing, mit dem braun verräucherten, dem großen Krokodil »Lindwurmskind« darunter, das sich allen Bauernkindern in heiligem Schauer als eine Erinnerung eingrub, durch die sie auch, alte Leute geworden, immer noch und immer wieder in Onkel Mappes Apotheke gezogen wurden. Nicht bloß war es das. Auch die alten Büchsen und Dosen, die alten Farben, die jetzt durchaus nicht mehr als »altmodisch« verachtet wurden vom Bauern, der sonst als Erster und Letzter die alte Zeit verlacht, die doch sonst seine ganze Kraft ausmachte, sie galten als seltsam, als geisterverwandt, als völlig neue Mode. Denn jetzt kam ja wieder, langsam und sicher, die Periode des Aberglaubens über die Menschheit. Und in den blauen Schweinsledertapeten knisterte die Sage vom wieder erstehenden Geheimnis.

Die beiden klugen, wiewohl sehr verliebten Leutchen fühlten das. Auch unterstützte sie in ihrer Weltnervennähe der sonst so nüchterne Onkel Mappe und freilich auch der kluge und kühle Pfarrer, der viel von alten Zeitläuften wußte, in ihrem Glauben. Daß jetzt wieder infolge Entdeckung der Wellen, Elektronenbahnen und Nervenphänomene abermals hold verworrene Buntheit in die ausgelangweilten und durch- und ausgelehrten Seelen drang. Wenn Onkel Mappe da war, unterhielten sie sich, völlig wissenschaftlich, über merkwürdige Volksveränderungen, die bei der Masse in stupide Tanzwut, bei Feinnervigeren aber in ebenso dumme – nein: in nervöse Geister- und Jenseitssucht umgegoren war.

Das ganze deutsche Volk hatte alle Sicherheit verloren.

»Europa, das Varietélokal«, sagte Onkel Mappe bestätigend und verrieb eine Emulsion. »Dauer drei Stunden täglich am Abend. Erste Stunde: Tischrücken. Befragen Napoleons, Shakespeares und Michelangelos von nervösen Weibern oder auch Dantes von Leuten, denen die vier Kerle im Leben bloß ihre Hinteransicht gewährt hätten. Zweite Stunde: Boxkampf oder Fußball. Dritte Stunde: Niggertanz. – Und der erstreckt sich dann durch weitere vier Stunden.«

Es ist aber ein gewaltiger Unterschied in den subtilsten Schwebungen und Wellen des sensiblen, menschlichen Apparates, ob das Medium in Berlin-Moabit oder an der weit weniger als Indien bekannten Grenzwelt zwischen Südslawenland und Südostdeutschtum lebe.

Dort unten, wo alles Sensible sich einer grobnervigen Universität verschließt und zukünftige Wege sucht, wo ein, möglicherweise deutscher Gelehrter abermals scheu und andächtig den Strömen und Wellenlinien der pythischen Seele nachforschen könnte wie ehedem Theophrastus Paracelsus, dort unten stößt Fremd gegen Fremd. Unglaubliche Fremdheit; unbelehrteste Geisterseherei gegen unglaubhaftes Unverstehen.

In der Apotheke zur blauen Gans, über deren Namen sich Mappe selber lustig machte, hielt alles sehr gut zusammen. Sogar der Hausgeist, den bisher bloß der Pfarrer, der geheiligte Mahatma und Kauz der Pallas und der sonderbare, ungläubig gläubige Apotheker gesehen hatten, wob irgendein Band um alt und jung. Es war was »Irdisches« darin; alle fühlten es. Keins war solch ein Mondkalb, an Geister zu glauben. Sie saßen viel zu oft bei Ionengeheimnis und Elektronenbahn, um nicht auch da völlig erforschbare, danebengeleitete Kräfte zu ahnen.

»Wie sonderbar,« sagte Onkel Mappe einmal zu seinen beiden vertrauten Leutchen, »wir sind im allertiefsten die ärgsten Heiden, die man sich, nach dem Katechismus, nur denken kann. Und dennoch ist unser Gottvertrauen grenzenlos. Man braucht ja nur Kristallinien, Weltallskurven, Protuberanzen des Radiums anzusehen, wie tröstlich die heimkehren und in wunderbarer Linie geborgen sind.«

Das waren Worte!

»Worte« für jeden andern Menschen. Den beiden jungen und schweigsam verliebten Leuten aber rann ein kalter Schauer durch Mark und Bein, als Onkel Mappe solche beiläufig gemeinte und dennoch zutiefst gehende Erkenntnis ausgab. Und dazu war damals Mittag. Die Apotheke gesperrt. Alle drei aber hatten an diesem sonderbaren Tage eine Latwerge und ein Kataplasma nach ganz altem Rezept zu fertigen, während man beständig nach dem Tanakulum zu sehen und dort eine zu kolierende Flüssigkeit frisch aufzugießen hatte. Onkel Mappe ging ungemein altväterisch-langwierig zuwege, und nicht einmal die uralte Beindorfsche Dekoktenpresse nahm er zu Hilfe. Er wollte keine groben, erpreßten Säfte. »Fräulein« war krank. Fräulein Hilde, die reizende, ewig bescheidene und sich bescheidende Lebensgefährtin Vollrats. Da mußte Feinarbeit getan werden.

Und während sie, in Zärtlichkeit beinahe, die alten Kräutermittel für die Freundin des einmal so sehr modern gewesenen Privatdozenten bereiteten, der jetzt selber das Naturgewachsene lehrte, unterhielt Onkel Mappe das junge Paar über das rätselhafte Schicksal der beiden.

»Er wird bald sechzig, wenn man's ihm auch nicht ansieht. Sie ist Mitte der Dreißig, und sie liebt den alten Kerl mehr als die Halbzeit ihres Lebens, so lohnlos, so zwecklos scheinbar, wie nur Frauen das können. Nie ist sie ihm untreu geworden, dem alten Schopenhauerkater, der nicht heiraten mochte; obwohl sie schön und umworben war und ist. Sie hungerte mit ihm; sie arbeitet für ihn. Als junges Mädel hat sie zwei-, dreimal kokettiert. Na: er hat von da ab nicht heiraten gewollt. Da war's aus. Und jetzt, durch die entsetzliche Prüfungszeit hindurch, hat sie zu ihm gehalten in Hunger, grober Arbeit und Kälte … Ja – ihr haltet euch doch an der Hand, Kinder?« Beide fuhren auseinander.

»Na, Gott segne euch. Aber jetzt an die Arbeit!«

»Kann man denn gar nichts für beide tun?« fragte der Provisor.

Professor Solvanus trat ein. Er warf sein Wort sogleich lebhaft in die Frage:

»O ja. Theo, Sie müssen ohnedies demnächst nach Wien. Ich glaube auch, Sie sind Parteifreund des Staatssekretärs für Unterricht. (Ihr könnt ja sofort bei euren Leuten Zutritt fordern.) Wenn Sie ihm die Schauermär erzählen, was da früher einmal möglich war, man wird die alte Narbe aufreißen, sag' ich euch! Man wird druntersehen!«

Die drei rieben und seihten weiter. Es war sehr stille. Solvanus paffte sein Mittagspfeifchen. Dann spann er seinen Gedanken weiter.

»Hier mußten zwei Leute, die in einem halben Menschenleben nie zusammenkommen konnten, erlöst werden. Beide sind arm. Der reiche Doktor, dessen Vermögen dahinschwand, die immer arme, kleine, treue Freundin. Beide sind jetzt vielleicht reif, das seltsam Gewordene zu empfinden: Treue. Wenn da irgendein junger Kerl, der nach Wien dürfte, Selbstlosigkeit, Mut und Energie aufbrächte, sich einmal für wen andern als sich selber einzusetzen –«

Man hörte nicht weiter, was Onkel Mappe in sich hineinmurmelte. Das letzte Auffunkeln der Segler fegte vor den Fenstern vorbei. Dschriii, dschriii!

So ging der freie, wilde Schrei derer, die am fernsten von sich selber fortzukönnen vermögen, sosehr sie sich selber besitzen.

Da sagte Tilla: »Kssst!«

Am Fenster stand, altholländisch-delfterblau, die Quenzlerin. Sie sah, in uralter Haube, den Kopf aus der flandrischen Spitzenkrause streckend, den Segelschwalben nach.

Es läutete Mittag vorbei. Totengedächtnis. Eine halbe Stunde nach der Hochmittagszeit. Alle dreie sahen sie das uralte Menschending am Fenster. Das verrauchte aber und schien fortzuwehen wie der Holzkohlendunst über dem Feuer des Dekoktes, das dort nebenstand. Die Millionen Jahre alte Rippe des Gigantosaurus knarrte leicht.

»Verfluchtes Aas«, murmelte Theo grimmig. – Steh, du!«

»Pst!«

»Ruhe geben! Auslaufen lassen«, zischte Solvanus.

Aber Theo schritt auf den undeutlicher werdenden Schemen zu, der zu verrinnen drohte, mit seinem Nahen aber deutlicher wurde. Kalt sahen die lochdunklen Augenhöhlen geradeaus, an ihm weg, als erwarteten sie irgendein Nichts.

»Theo, Theo!« rief Tilla voll Angst. Verrückte Liebe schrillte in diesem Ton.

Da wurde die delfterkachelblaue Gestalt nochmals ein wenig deutlicher. Sie rollte langsam wie auf Rädchen gegen Theo zu. Der knirschte die Zähne: »Und wenn du mich hinmachst, verfluchtes Übergeding, Abfall aus Aberglaube und Dreck von ehedem und unausgetragenem Seelenschmutz, ich – –«

Er schritt wütend auf den daherrollenden, leeren, museal verschossenen und doch wandelnden Garderobenbestandteil zu, dieser auf ihn. Umsonst murrte der Kauz der Athene und zerbiß sein Pfeifchen vor Unwille. Theo sagte:

»Ich tret' dich tot, du; und wenn du's kannst, so – –«

Das war aber jetzt, als wechselten zwei Bilder in einem Film übereinander weg. Theo stampfte durch das blaßblaue Nebelzeug hindurch … Das schauerlich lochaugige Frauenzimmer rollte geräuschlos durch seinen straffen, schlanken Körper und war jenseits wieder da. Trieb gefühllos gegen die Wand.

Jetzt aber stellte sich Solvanus gegen das schleierig wehende Ding, das zu zerfließen drohte:

»Du hast nicht zu leben gewußt, quondam Quenzlerin Barbara! Du weißt nicht, daß du getauft wurdest auf den Namen der Breschenbrecherin, als die du durch dieses junge Leben und seine Kraft hindurchgehen durftest. Durch mich gehst du nicht, ehedem Gewesenes. Du hast nie zu leben gewußt! Als Mensch animal stultum, lerne du das anderswo: Da, draußen, da fliegen deine Seelen! Dort, wo der Südseewal am Ambra leidet und Spermazet von sich läßt: Iß dich satt dorten, die du hier weder lebst noch stürbest. Ärmstes Überbleibsel; armseliges, für das auch nicht ein Wort christlichen Mitleids – –«

Die Quenzlerin war stehengeblieben. Lochdunkel schauten die schwarzen Augenhöhlen gedankenlos in die Wand wie in eine Ferne. Dann drehte sie von Solvanus ab, rieselte dahin wie auf unhörbaren Rädchen und zerrann in die andere Wand.

Solvanus sah umher: »War das jetzt wirklich?« fragte er lächelnd, aber dennoch ein wenig blaß.

Onkel Mappe selber rieb sich Stirne und Augen. Aus war die Wunderlichkeit. Sie hatte keine hundert Herzschläge lang gedauert.

»Habt ihr gesehen?« fragte er halblaut.

Theo atmete tief und langsam. »So ist denn doch etwas dran«, sagte er, indem er zögernd zum Fenster hintrat, als wollte er dort Körperliches nachprüfen. »Donnerwett – –«

Tilla weinte.

»Warum?« fragte Theo.

»Ich möchte so gern, daß das wahr wäre. Ich möchte, daß man weiterleben könnte; selber weiterleben! Und es ist ja doch nur alles Suggestion dieses Hauses! Eingerottete, spezielle Nervenemanation an dieser einen Stelle!«

»Tilla!«

»Ich hatte eine nervenzerreißende Angst um dich, Theo. Gott sei Dank, daß dies alles so traumhaft zerfloß. – Wenn du ihr allein gegenübergestanden hättest wie der hysterische Hubert an der Treppenwende, sie wäre die Stärkere gewesen.«

»Natürlich! Weil ihr sie wieder einmal genährt und satt gemacht habt! Du dummes Mädel mit deiner Liebesangst; Herrgott, hast du dich jetzt verraten!«

Tilla wendete sich fort, dunkelrot geworden.

»Und du, Theo, mit deinem turnerhaft rüstigen Haß. Angefüllt bis oben habt ihr sie jetzt mit Nahrung. Ihr lieben, armen Eselwesen! Jetzt kann sie eine Zeitlang weiterspuken«, sagte er ärgerlich. »Ihr habt sie genährt, nicht der arme Bub, der an ihr gestorben ist!«

»Allius Petrus Sigismundus Solvanus, seien Sie jetzt nicht allzu gescheit, nachdem wir alle so dumm waren, sogar Sie. Denn angeredet haben ja auch Sie die Phantastische.«

»Um ihr ein wenig von dem Selbstgefühl abzuzapfen, das sie aus dem Ihren gestohlen hat. Hassen Sie sie noch? Hallo, das ist wichtig! Antwort!«

»Sie ist mir todwurst«, sagte Theo gelangweilt.

»Da siehst du es, mein Junge. Sie ist durch dich hindurch und hat eben –«

»Ja, es war wie in einem Eiskeller«, lachte er ärgerlich. »Und mir wär's beinahe schauerlich zumute – wenn's mich nicht so gegiftet hätte …«

– »und hat deinen Haß mitgenommen. Darum eben ist sie dir jetzt so ›wurscht‹, wie du sagst. Ebenso wie ehedem das Leben ihr; sie hat dir ein gut Stück ›Wurscht‹ weggefressen, Theo! Jetzt wird sie von Tillas Liebe und deiner Wut ein ganz hübsches Weilchen weiterzehren. Gebt gut acht und verschenkt das Köstlichste des Lebens, Liebe und Haß, nicht an diesen Blutegel mehr! Ich hab's euch gesagt! Ein Wunder nur, daß sie sich dir überhaupt gezeigt hat. Das beweist, daß das Phantom ganz genau weiß, wo es was aufzusaugen gibt.«

»Es hält auch nicht jedem Hirne stand«, sagte Onkel Mappe leise. »Doktor Vollrat zum Beispiel, der kalt ausgerechnete Philosophengeist, hat auch nicht das mindeste jemals von der Quenzlerin gesehen. Hat auch keinen Eishauch gefühlt, als sie an ihm vorübergegangen war vor meinen Augen! Miaulis aber, der weiße Kater, hat aufgehört zu schnurren. Er hat den Buckel krumm gemacht, alle Haare sind ihm zu Berge gestanden, und er hat sich ganz platt unter den Schrank da gepreßt, zwei Zoll. – Ein Wunder, daß er drunterkam! Und Vollrat? Sieht nichts, fühlt nichts. Lacht mich und den Kater aus. Dann wieder? Dann kann sie einmal der Pfarrer sehen und der Weisheitskauz, ich aber daneben nicht! Ist das nicht sonderbar?«

»Und traurig. Denn diese relative Möglichkeit ist so grausam. Das lebt nicht. Ich möchte, es gäbe eine persönliche Unsterblichkeit«, sagte Tilla abermals. »Ich möchte, es gäbe wirkliche Geister, auch wenn man als Geist ruhelos umgehen müßte! Aber das ist wirklich unlogisch, dumm und dösig: daß sie so gar nichts ist, bedeutet, niemand ansieht, niemand was sagt oder nützt oder schadet. Daß es keine Unsterblichkeit gibt!«

»Es gibt nur eine Unsterblichkeit. Im sogenannten welligen Nichts. Oder – in Kindern.« Onkel Mappe sprach das beinahe traurig.

»Kinder? Liebe, geliebte Kinder in diese Welt zu setzen, wie sie jetzt werden will und muß? In diese Flut von Haß und Häßlichkeit? In diese entsetzlichen Möglichkeiten menschlicher Dummheit und Schlechtigkeit!? Es wäre das abscheulichste Verbrechen; kaum zu entschuldigen mit haltloser Leidenschaft, nie zu verzeihen einem liebevoll vorauswägenden Herzen!« Tilla hatte sich in der Seelenqual der Frau, die solche Dinge heilig nehmen muß, heiß geredet.

Sie sah sich ringsum, nach Hilfe ringend. Der Mahatma sogar senkte den Kauzkopf. Ja. Solvanus empfahl sich. Auch er ließ da das Leben im Stiche. Theo sah ihm nach. Dann rief er: »Ach was! Es ist so, daß man heute vorziehen muß, einander über alles zu lieben wie auf einer Insel, auf der kein Dritter leben kann und soll. Weil sie nur für zweie Nahrung hat. Aber lieben? – Unermeßlich!«

Tilla hörte zerstreut, fast ein wenig kühl zu. Hatte ihr die Quenzlerin wirklich aus ihrem Schrei sogar etwas weggesogen?

Onkel Mappe sah zu seinem Provisorchen hinüber, der das mit dem Ton eines Kindes gerufen hatte, das gar nicht daran denkt, wie es sich verrät. Er blitzte unter seiner Brille zu Tilla hinüber und fing den gedehnten, sehnlichen, zärtlich dankbaren Blick ihrer sonst doch sehr klugen braunen Augen auf.

»M–h–m«, machte er zufrieden. »Und was glaubt ihr, Kinder: wäre die Quenzlerin zu erlösen?«

»Am Ende hütet sie einen Schatz«, sagte der blonde Provisor leichthin. »Wenn diese Ballungen, die wir Geister nennen, wirklich nichts sind als übergebliebene und nicht zu Ende verbrauchte Lebenskräfte, die zu früh abgerissen und nun als Rückstände, »Residua«, von uns empfunden werden, völlig positiv und von unserer Nervenkraft eingekleidet in die Tracht ihrer Zeit, wenn diese nicht aufgebrauchten Energien, will ich sagen, möglich und leibhaft werden, so behielte doch die Volkssage recht, die solche Geister nicht zur Ruhe kommen läßt, ehe sie nicht den leibhaften Satan (das Zuviel, die große Gier nach immer mehr, also auch das Geld) losgeworden sind. Um rein einzugehen in die schönen Wellenlinien, die wir aus Radio und Radium kaum erst in rohester Form kennenzulernen beginnen. Immer muß ich an den Silberschatz, an die alten Pokale der Pollheimer denken. An die getriebenen, nun braunviolett patinierten Teller und das andere Tafelgeschirr samt Salzfaß, die jetzt vielleicht, ein Schock unbezahlbarer Stücke, neben den Mädchengerippen tief im Korallenkalk des Liebfrauenberges liegen und niemand helfen können, niemand! Sosehr sie latente Liebe erlösen könnten!«

»Latente Liebe?« sagte Onkel Mappe. »So, so. Nun, wenn diese unverbrauchte Kraft, amoralisch und rein physiologisch genommen und gesagt, endlich verflüchtigt werden will oder soll, um sie reineren, befreiteren Schwingungen dienstbar, also ›selig‹ zu machen, dann müßte hier im Hause weder ein großes Werk der Liebe noch ein gehässiges möglich sein. Was braucht ein Europäer das Mysterium? Bringt sie um – einfach durchs Philisterium.«

»Schrecklich«, sagte Tilla.

»Kinder, ihr werdet mich sicherlich nicht ermorden, um in den Besitz der Apotheke zur blauen Gans zu kommen; das weiß ich«, lächelte Onkel Mappe, während die beiden siederot wurden. »Wir wollen diese Dinge aber näher besprechen: Morgen nachmittag ist die Apotheke gesperrt; für einen unvorhergesehenen Fall sind wir in der Nähe zu holen, weil wir alle drei beim Doktor Vollrat eingeladen sind. Das ist auch so einer, der spuken müssen wird. Er konnte nie recht lieben. Darum sieht er die Quenzlerin sowenig, wie er sein eigenes, allzu vernünftiges Herz kennt. So meinen wenigstens der Pfarrer und der Mahatma Solvanus.«

»Warum heißt er Solvanus?« fragte Tilla, um aus ihrer Verlegenheit zu kommen.

»Seine Familie ist jahrhundertelang hier ansässig, und sein Vater glaubte, wegen der schweren erblichen Belastung mit Klassizität, die einfach nicht wegzubringen ist aus dem Familienblut, daß die Familie unausgesetzt seit der römischen Flavischen Solva hier gelebt habe. Oder daß der geheimnisreiche Boden dieses Grenzlandes sie unwiderstehlich hierher zurückgezogen habe. Sogar, daß sie aus dem Hause der Allier stammen, das hier das am besten erhaltene in der antiken Ruinenstadt ist, sogar das glaubte er. Darum heißt der Kauz der Athene auch Allius – Peter nur nebenher, zum großen Gaudium seiner Lyzealjugend, die er aber durch seine wirklich antike Überlegenheit ganz gewaltig zu bändigen versteht. Und sogar dieser gewaltige durchgeistigte Kopf sitzt den Geistern auf!«

»All das ist wunderlich! Wenn die Doktores doch so was zum Gegenstand eines ernsten Studiums machen wollten! Wenn man doch bloß etwas mehr ehrfürchtiges Seelenstudium hätte! Da gibt es Bauernhöfe, in denen es niemand möglich ist, die umherliegenden Feldrüben in den Keller einzubringen, ja auch nicht selber robust dort weiterzulegen. Nicht bloß das stets abergläubische Gesinde verlief sich dort wie die heimgetragenen Feldrüben. Vor dem muskelgroben Besitzer oder Pächter, der ganz brauchbar zum Henker hätte sein können, ging in leerer Küche die Tischlade auf, das Messer flog heraus, umkreiste ihn und senkte sich dann, wuchtig wie ein Stoß ins Herz vermeint, dicht neben ihm in seinen Sessel hinein. War das Haus verödet, dann trat der verruchteste Grenzzigeuner nicht ein; man hätte Schätze darin verwahren können wie den der Pollheimer!«

»Immer Ihre fixe Idee, Provisorchen?«

»Nein, das habe ich nur aus Zufall gesagt. Und kein Weiser und kein Doktor hat's herausbringen können, welche Medialität irgendeines besonderen Menschen das tolle Haus mit solchen Kräften versorge! – Die ja so urstupid sind. Die aller Logik von irgendeinem ›Geiste‹ hohnsprechen. Sogar der Pfarrer von Großglavina, um uralte Bücher wissend, deren bloße Nomenklatur heute niemand mehr versteht, geschweige den Geheimsinn, sogar der hatte Monate mit den tanzenden Kräften zu tun, die an sich nicht wunderbarer, die an sich besieglicher sind als die Wellen des Radio. Aber er sagt immer bloß, besonders seit der Arbeit im hochgelegenen Einödhause über Kranach: ›Wenn die Physiologen wüßten! Und – – wenn die Geistlichen Physiologie ahnten!‹«

»Ja. Und das ist das Geheimnis«, schloß Onkel Mappe die Besprechung. »Ehedem studierte der Doktor Faustus alle drei oder vier Disziplinen und ging dann wohl auch ein wenig zu spanischen Juden und Mauren nach Salamanka, um sich dort lieb Kind zu tun und ein wenig herauszuschwindeln – aus den höhnisch Verschlossenen dort. Damals lernte man allerhand Runen nachfinden zwischen Himmel und Erde.«

»Heute, ich will kein Mondkalb sein, aber – –«, begann Theo.

»Aber den Schatz der Pollheimer geh ich doch heben«, spottete Onkel Mappe. »Kind, großes Kind! Die Apotheke zur blauen Gans kann nur durch eines Fisches Schweigen erlöst und gewonnen werden, sagt Solvanus.«

»Onkel Mappe«, baten die sehr schönen, klugen und unermeßlich warmen Augen der Apothekershelferin. »Kein Wort mehr.«

»Freilich, freilich, bei Vollrat werden wir weiter sehen«, sagte Mappe und packte zusammen. »Fertig sind wir ja. Und bloß das noch. Die delphische Pythia brauchte kein Radio. Im Menschen liegt alles. Aufgepaßt heute, Kinder!«

 


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