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Aber es war für den Hochdruck seines Blutes eine Kompresse vorgesorgt, so todeskalt und schauerlich, daß alles »aus« zu sein schien.
Eines Tages kam der alte Kutscher des Herzogs von Braganza angefahren. Kein Doktor. Der Alte brachte Rezepte zur Wiederbelebung des Herzens; Digitalis und so weiter. Der Doktor könne nicht kommen, sagte er; der würde schreiben. Der Herzog sei seit zwei Tagen aus einem totenähnlichen Schlafe nicht wieder erwacht; es gehe jetzt wohl um Leben und Tod.
»Da wird er wieder zuviel Schlafmittel genommen haben«, sagte Onkel Mappe ärgerlich. »Der hohe Herr ist so in den Traumzustand seiner angebeteten Bäume vernarrt, daß er ihre Mentalität zuletzt für die einzig erstrebenswerte erklärt und nach ihnen leben wird wollen.«
Der Kutscher warf einen forschenden Blick nach Theo, den dieser wohl bemerkte, aber ihm nicht viel nachdachte.
»Ich weiß nicht«, sagte er vorsichtig und empfahl sich rasch. »Der Doktor hat andere Meinungen.«
»Was heißt das jetzt?« fragte Onkel Mappe.
»Darüber werden wir im klaren sein, sobald der Brief des Doktors kommt«, meinte Theo immer noch recht guten Gewissens und völlig ruhig.
»Theo, was hat der Doktor zuletzt für Rezepte machen lassen?«
»Morphium; mit Akonitum oder Digitalis. Nein, mit Belladonna.«
»Na, hören Sie, Sie werden mir doch etwa Atropin nicht mit Akonitum verwechselt haben?«
»Aber Herr Mappe!«
»Zerstreut waren Sie jetzt freilich oft mehr, als für unsern sehr gefährlichen Beruf gut wäre.«
Zärtlich und unendlich beruhigend sah die hübsche Apothekerin nach dem Geliebten hinüber. Sie vertraute ihm unbedingt; aber es tat ihr doch auch wohl, daß er ihretwegen soviel Sorg' und Seufzer hatte und soviel Zerstreutheit.
»Seien Sie unbesorgt, Onkel Mappe«, sagte Theo ruhig und bestimmt. »Von unserer Seite ist kein Kunstfehler geschehen. Neza lasse ich niemals an die geringste Bedenklichkeit heran. Tilla und Sie waren fort. Ich stehe allein für alles. Die Sache liegt ganz einfach.«
»Donnerwetter! Ist das einfach, wenn man auch nicht einen einzigen Zeugen für sein Tun hat? Und der Ankläger ist vielleicht ein Todfeind, der einen haßt und, wenn schon nicht ruinieren, so doch unschädlich machen und entfernen will. Ah, Provisorchen, ich bin nicht so ruhig wie Sie, und ich will auch gleich den kühlsten und klügsten Kopf, den es da herum in der Nähe gibt, prophylaktisch um Beistand anrufen.«
Doktor Vollrat, jetzt außerordentlicher Universitätsprofessor, kam augenblicklich von seinem geliebten Haus am Abhange herunter. Onkel Mappe hatte einsilbig gestanden: »Hier ist etwas nicht richtig. Wir sind in Sorge.« Vollrat und der Briefträger, der ein rekommandiertes Päckchen und ein ebensolches Schreiben brachte, zwängten sich durch dieselbe Tür herein.
Onkel Mappe entschuldigte sich, erbrach das Schreiben und wurde ein wenig blaß. Wortlos hielt er es Vollrat hin. Er ließ Theo und Tilla in peinlicher Weise warten und ihre Mienen betrachten.
»Das sieht schlimm aus«, atmete Vollrat endlich langsam und tief. »Die einzige Hoffnung ist aber gerade die, welche diese Geschichte anscheinend trostlos macht. Daß sie ein erklärter Feind unseres armen Theo einbrockt. Dem müssen wir erst einmal genauer auf die Finger sehen.«
»Aber was ist denn? Wir beide vergehen ja vor Angst!« rief Tilla.
»Der Doktor dort drüben beschuldigt Theo, die Nullen auf dem Rezept um eine zuwenig gezählt und also die zehnfache Dosis Morphium für die Suppositorien genommen zu haben. Er sendet mir die Hälfte der Zäpfchen zur Prüfung. Nur eines habe er vorgestern dem Herzog überlassen: eines selber geprüft; die acht andern zu gleichen Teilen mir und dem Forensischen Institut übergeben.«
»Das ist unmöglich! Ich habe grade damals aufs genaueste acht gehabt, weil ich der einzige Mensch in der Apotheke war«, sagte Theo, immer noch nicht gar zu sehr erregt. »Neza allein hat mir die Mittel zugereicht, die kann aber nicht gut als Zeugin gelten; weder für mich, noch wider mich.«
Dennoch fragte Onkel Mappe Neza aus. Das schlaue Mädchen, das natürlich aufgeregt gelauscht hatte, erkannte gleich seinen Vorteil. Hier wurde sie zum Zünglein an einer Wage, und ihre Aussage gab vielleicht den Ausschlag. Der Doktor konnte Anzeige machen. Er konnte schweigen – wie er wollte. Der gütige Fürst, wenn er nur wieder aufwachte, war alles eher als rachsüchtig; er würde im äußersten Falle sogar seinem Leibarzt in den Arm fallen. Es lag alles dabei, ob Theo bloß entfernt werden sollte, nachdem er in Lindenau unmöglich geworden war, um durch eine neue Apotheke, ferne vom Kleinstadtklatsche hier, auch eine neue Apothekerin zu übernehmen.
Sie sagte daher vorderhand bloß aus, daß Herr Theo allerdings unendlich versonnen, zerstreut, beinahe mitleidswert gewesen wäre. »Nie war er bei sich selber; immer ganz weit. In traurige Träume versponnen. Zerstreute Antworten hat er mehr gegeben als vernünftige.«
»Diese verfluchte Liebe!« sagte Onkel Mappe halblaut, während Tilla den, der um ihretwillen Unheil gestiftet, mit unendlicher Dankbarkeit ansah.
»Professor Vollrat verschafft uns eine Dürrkräutlerei, wenn schon keine Drogerie. Und er verschafft uns Kundschaft dazu, wenn das Unglück wirklich so groß wäre«, sagte sie tröstlich. »Wenn du um jede Konzessionsmöglichkeit kämest – –«
Vollrat unterbrach. Das läge noch ferne, meinte er. Helfen würde er. So oder so.
»Auch du glaubst nicht mehr an mich, Tilla?« sagte aber Theo mit traurigem Antlitz.
»Ich glaube bloß, daß deine Liebe zu groß gewesen sein könnte – und das wäre doch wunderschön, auch bei allem Unglück«, erwiderte sie leise und ging ganz nahe an ihn heran, mit sanftem Drucke, wie eine zärtliche Katze, die schmeichelt.
»Mappe, wir müssen schnell handeln. Du berufst den Doktor sofort hierher. Du, er muß mit dir die Suppositorien untersuchen. Neza, schnell die Probegläser! Gebt acht, beides sind Alkaloide. Und macht mir die Reagenzprobe bloß aufs Morphium allein. Atropin, zuviel genommen, scheidet nach dem Krankheitsbilde völlig aus. Diese Maßregel, den Doktor beizuziehen, wird ihm schmeicheln und sieht bombenehrlich aus. Die Wahrheit ist,« sagte er leise, nachdem er sich der Tatsache unbesorgt wußte, daß die kleine Neza abermals horchte, »die Tatsache ist, daß ich den Doktor vom Patienten weg haben muß. Er ließe mich niemals zu ihm. Schon weil man den hohen Herrn bei seinem wirklichen Menschlichkeitsgefühl zu einem Verbot bewegen könnte, von der Sache ein Wort laut werden zu lassen. Schon weil man ihm die Augen darüber öffnen könnte, der Doktor dort hätte es auf Apotheke samt Apothekerin – – na ja. Neza, haben Sie alles? Das Gestell mit den Eprouvetten daher, zum Fenster. Und jetzt holen Sie uns blitzschnell das Auto des Visiak. Es soll gleich vorfahren, ich selber werde den Doktor herbringen.«
Als die Kleine in ihrer namenlosen Aufregung davongestürzt war, denn ihr eigen Geschick entschied sich vielleicht jetzt, sagte der Professor zu Onkel Mappe: »Bitte, telephoniere jetzt an den jungen Mediziner Krause. Er hat ein Motorrad mit Soziussitz. Der soll niemand was sagen, soll sein Motorrad an der Murbrücke bereithalten. Ich muß dort einen gewaltigen Umweg machen, damit ich nicht mit dem Doktor zusammentreffe, und muß nach Quellsee von Norden oder Osten hereingelangen, während der Doktor nach Westen fährt. Ich rechne mir die Zeit schon aus. Den dort wird's vor Schadenfreude ohnehin jucken, bald hier zu sein. Ich gehe dann zum Patienten. Der Doktor, sag' ich ihm, würde gern bei seiner Gewissenhaftigkeit auch in seiner Abwesenheit den hohen Patienten presente medico wissen.«
»Was willst du dort?«
»Den wahren Tatbestand aufnehmen. Für jetzt, solange Neza fort ist – eilig, eilig, Tilla, ich höre schon das Auto hupen! – Für jetzt her, mit euren Gußformen für jene Suppositorien. Schnell! Aha: der erste Hoffnungsschimmer … Kinder! Da: Sie passen nicht genau hinein, sind zu langgestreckt. Bist du sicher, Theo, daß du die Suppositorien einzig in diese Form – –?«
»Ich kann's beeiden und beweisen; wir haben nur das einzige Modell. Sie werden schnell in heißes Wasser gehalten, und dann fallen sie formgenau heraus.«
»Na, er kann sagen, er hätte sie in die Länge gedrückt, oder sie selber hätten sich deformiert; weich sind sie ja. Aber immerhin. Ein erster Blitz ganz elendiglich schwacher Hoffnung kann es sein. Obwohl nicht viel wert. Weg mit dem Krempel jetzt. Da kommt die kleine Neza. Das Mädel ist höllisch gescheit und darf nichts wissen. Theo, Achtung vor Neza!«
»Ich weiß, ich weiß!« lächelte Theo trübe.
»Kann sie in keiner Weise an Ihnen eine kleine Erpressung begründen?« fragte der sehr pessimistische Arzt.
»Ich habe mich gegen sie nie anders benommen als freundschaftlich, freundlich scherzend vielleicht, jedoch nie übers Maß und niemals so zutraulich – wie sie.«
»Na, Gott sei Dank; da sind Sie ja gut heraus. Sie kann Sie also weder lieben noch hassen?«
»Ich habe ihr zu keinem von beiden Dingen Ursache gegeben«, sagte Theo.
»Theophrastus, was sind Sie für ein sonderbarer Kerl! Ich an Ihrer Stelle, jung wie Sie, mir wäre in derselben Situation wie die jetzige ist, vor allerlei Erinnerungen schon recht schwül.«
»Ich habe halt Glück gehabt«, sagte Theo und lachte.
Sein Mädchen drängte sich wieder an ihn. Leise: »Mußt du gehen, Theo, ich gehe mit dir: betteln, wenn's sein müßte.«
Da war auch schon das Auto. Neza sprang hochrot vor Erregung heraus.
»Ich hab' gleich nach Quellsee telephonisch angefragt. Seine Königliche Hoheit ist schon wach und vielleicht in ein paar Tagen außer Gefahr, hat mir der Doktor selber gesagt. Und er kommt sofort.«
So eilig hatte sie es.
»Du bist ein braves und gescheites Mädel«, lobte Vollrat. »Hast du auch angekündigt, daß ich ihn holen käme?«
»Nein, das habe ich nicht überlegt.«
»Tut nichts. Ist auch gut. Ich habe ohnedies an der Landschabrücke einen Patienten. Da verlasse ich das Auto, und der Doktor kann dann allein damit zu uns herfahren. Mappe, ein paar Mittel brauch' ich noch, um dem Kranken zu helfen, wenn nötig.«
Er kramte ein wenig in der Apotheke umher, nahm Koffein gegen Morphium zu sich, ein Gegenmittel gegen Belladonna sogar, aber insbesondere ein ihm allein bekanntes Gegenmittel gegen gewisse Salze aus einer Mononatronverbindung.
Damit raste er dann hinweg, daß der Platz aufstob und die Leute sich nur beruhigten, weil sie den alten Universitätsprofessor drin erkannten.
»Da stirbt wieder einmal wer«, sagten sie vertrauensvoll. Groß war ihre Zuversicht dem heiratsscheuen Pessimisten gegenüber nicht. Besonders die Frauen liebten Vollrat nicht sehr. Im Grunde galt er für einen Egoisten.
»Wenn Sie wirklich statt zwei Hundertstel zwei Zehntel Morphium erwischt haben,« sagte Onkel Mappe bekümmert, »so nützt uns alles nichts. Der Kerl dort drüben hat schon zuviel armen Negern die Gurgel durchgeschnitten, als daß er's beim Nebenbuhler nicht auch rücksichtslos versuchen würde.«
»Ja, dann heißt es auswandern«, sagte Theo kleinlaut.
»Ja, dann heißt es eben auswandern«, sagte Tilla resolut.