Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Dem alten Apotheker war das Herze schwer. Der Frühling stimmte ihn weich.
Theo und Tilla. Denen hätte er die Offizin gerne übergeben. Aber er mußte doch leben. »Wie nun, wenn die beiden, sosehr füreinander geschaffenen und gesunden Menschenkinder, er blond, sie braun, also leidenschaftlich aufeinander reagierend, Kinder in einer Zahl bekämen, daß sie zuletzt in peinlichem Gedränge zum Rauchfang herausquöllen?« Würden die beiden Leutchen ihm dann, ihm, dem so Mitleidsvollen, seine Altersrente überhaupt noch auszahlen können? Denn die Gerichte angerufen hätte er nie und nimmer.
Der Abenteurerdoktor, der seinen hochfürstlichen Patienten stets zu trösten, zu unterhalten, aber nicht ewig zu erhalten verstand, der bot physikalisch genau abwägbare Sicherheit. Der hatte, was dem armen Liebespaar fehlte. Was ihm von jenem geboten wurde, war reichlich genug für ein stilles Alter des bescheidenen Herrn Mappe, der sich nach nichts als einem Strohdach sehnte, das ihn grade noch aushielt, einem Haus am Abhang vor dem Walde, wie es Vollrat besaß! Zu dem die Siebenschläfer, Häher, Eichhörnchen und Drosseln herunter ernten kamen, weil eine uralte Randbuche und weil Nüsse in großen Bäumen lockten, weil vom Walde die herunterziehenden Grenzhecken reiche Flügelwelt beherbergten und eine willkommene Zugstraße für Strichvogelgesellschaften bildeten; im Herbste, wo sich vielfältig alle kleinen Piepser und Sänger in Scharen zusammenschlagen. Da hat man stets was zu sehen, zu erleben, zu betreuen, zu schützen vor dem Feindesvolk mit wohlgezieltem Rächerschuß. »Wer in den ersten fünf Schöpfungstagen weiterlebt und bloß nicht Frost noch Hunger leidet, der wird niemals alt, der bleibt stets mitten in der Unsterblichkeit!« Das war Onkel Mappes große Weisheit.
Und die sollte er jetzt, einem freilich sympathischen, jungen Torenpaare zuliebe, aufgeben? Niemals das lebelang ersehnte Häuschen am Abhang haben, wo die ganze Kleinwelt vorüberzieht, zu dem der Waldstrom herunterdonnert, der Kauz seinen Herbstzorn über ein Zigeunerfeuer im Walde, sein Frühlingsjauchzen in den ahnenden Februar herunterheult!?
Der Doktor dort, drüben bei den Braganzas eingenistet, kam übrigens trotz Tillas Urlaub ebensooft wieder. Und er war gleichmäßig freundlich, ja freundschaftlich mit Mappe und Theo.
Auch Theo erzählte er von der frei werdenden und billig zu erwerbenden Apotheke im Kurorte Krapina-Töplitz, der ebenso interessant wäre als Lindenau. Weil dort Urmenschen, Zwischenglieder auf dem Wege vom Affenmenschen zum homo sapiens, nachgewiesen worden wären; in aufregend neuen Knochenfunden!
Und wenn er, als Freund, Theo helfen könnte, er würde das Unmögliche möglich machen durch die Gunst und Menschenliebe des Herzogs von Braganza.
»Nein; wenn wir hier nicht bleiben können, so wandern wir beide weit aus«, hatte Theo einsilbig geantwortet.
»Was brauchen Sie heute?« fragte Onkel Mappe dazwischen, dem das Thema peinlich war. Er war entschlossen, die Apotheke so lange als möglich für die jungen Leutchen zu halten. Aber nur so lange, als es eben möglich schien und vernünftig blieb. Zweimal mahnte er so den weiter redenden Doktor, dem darum zu tun war, daß die reizende kleine Neza, die immerzu helfend kam und ging, das volle Gespräch hörte. Der Doktor beantwortete die Frage nicht, beobachtete und stellte bei sich fest, daß Theo nicht aus Skelettknochen allein zu bestehen schien. Denn die zierlichen Fesseln des ehemaligen Kammerkätzchens der Herzogin, ihre kleinen, sauber gehaltenen und unzerarbeiteten Hände, die ganz verflucht aufreizende Gestalt – – kurz, Theo sah manchmal der Kleinen ziemlich hingezogen nach. Oder er sah sie neben sich verstohlen an. Oder er entdeckte sich selber dabei und blickte demonstrativ weg; und das war an allem das lustigste.
Denn nichts fördert Liebe so sehr, wie Kampf gegen sie.
Onkel Mappe aber fragte zum dritten Male.
»Was brauchen Sie heute?«
»Ach ja … richtig. Ich hab's bloß vergessen und habe studieren müssen. Unser hoher Herr hat in der letzten Zeit zuwenig Bewegung gehabt, und jetzt machen ihm die Hämorrhoiden wieder zu schaffen. Schonzeit, Langweile, ein wenig Rotwein, das züchtet sie.«
»So, so, die goldene Ader«, sagte der altmodische Onkel Mappe. »Das ist ein schlimmer Gast am Leibe. Ja, ja: Hämorrhoiden. Böse Gäste. Nur, daß man ungebetenen Gästen den Stuhl vor die Türe setzen kann, während sie einem eine Türe vor den Stuhl setzen.«
Zum ersten Male seit langer Zeit wurde in der Apotheke zur blauen Gans ein wenig gelacht.
» Morph. Mur. 9.92, belladonna extr. 0.01, butyr. Cacao 1.5.«, las Onkel Mappe ab.
»Das ist doch nicht das rechte Rezept! Hat er denn sonst noch Schmerzen?«
»O Teufel, alles beisammen! Nierensteine; gegen die Kolik habe ich da Tollkirsche und Morphium verschrieben. Das letztere geht gleich mit in den Kauf bei seiner ewigen Schlaflosigkeit. Und gegen die andere Geschichte haben wir unser ausgezeichnetes Bismolan.«
»Theo,« sagte Eligius Mappe, »machen Sie das gleich.«
»Ich werde die Rezepte dalassen«, meinte der Doktor. »Wir brauchen sie jetzt, solange die jagdfreie Zeit ist, bis zur Schnepfenmurke öfters.«
Und er empfahl sich freundlich. Draußen auf der Straße kehrte Neza den Gehsteig.
»Ist der Provisor nicht ein entzückender Mensch?« fragte er sie.
Neza wurde rot bis in die Kehle hinein. Der Doktor summte leise singend davon. In den Dächern wühlte der Frühlingswind sich in alle Ziegel, hob, was nur irgend locker war, klapperte und scherzte als Schalksnarr des losgelassenen Frühlings. Die ganze kleine Stadt war Kastagnettengezitter und Tamburin für ihn. Warm, warm wühlte es in den Wolken, und die Spatzen schrien vor Mittagslust und juckendem kleinen Blute.
Da konnte schon was werden, das auch in verhaltenes großes Blut ging …