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Deutschland

[Mittelalter bis 18. Jahrhundert]

 

Ich zôch mir einen valken

Der von Kürenberg

Ich zôch mir einen valken mêre danne ein jâhr,
dô ich in gezamete, als ich in wollte hân
und ich im sin gevidere mit golde wôhl bewant,
er huop sich ûf vil hôhe und floue in anderiu lant.

Sît sach ich den valken schône vliegen.
Er fuorte an sînem fuoze sîdîne riemen,
und was im sîn gevidere alrôt guldîn,
got sende sie zesamene, die gerne geliep wellen sîn!

 

Der umgekehrte Igel

Der Marner

Trägt der Igel Stacheln außen an der Haut,
Ist es recht, sie stehn an ihrer Statt.
Anders hab ich manchen falschen Mann geschaut,
Der die Stacheln in dem Herzen hat.
Hüte dich vor ihm, und trau
Nicht dem umgekehrten Igel,
Der von innen rauh
Und von außen glatt ist wie ein Spiegel.

(Neuhochdeutsch von Friedrich Rückert)

 

Mensch und Tier

Reinmar von Zweter

Ein voller Mensch fünf Sinne hat,
Von denen jeder steht an seiner eigenen Statt,
Sehn, hören, fühlen, riechen, schmecken, wie sie Gott erschaffen.
Die Sinn' auch haben wilde Tier',
Und je an einem stark den einen finden wir,
Am Luchs, am Maulwurf, an der Spinn', am Geier und am Affen.
Scharf sieht der Luchs, der Maulwurf hört im Wühlen,
Die kleine Spinn' ist flink zum Fühlen,
Der Geier riecht, der Affe schmecket.
Sie übertreffen an dem Sinne
Den Menschen, daß sein Geist werd' inne,
Daß nicht zum Ziel die Sinn' ihm sind gestecket.

(Neuhochdeutsch von Friedrich Rückert)

 

Von einem Hahn und einem Edelstein

Ulrich Boner

Von ungefähr hat sich's getan
Eines Tages, daß ein Hahn
Flog auf seines Herren Mist,
Wie das schon oft geschehen ist.
Er suchte sich dort Speise
Nach des Klugen Weise
Und fand – nicht konnt's ihm nütze sein –
Dort einen großen Edelstein
Unwürdig liegen in dem Kot.
Da sprach er so: »Allmächt'ger Gott,
Umsonst hab' ich den Fund getan!
Ein Gerstenkorn mehr mir nützen kann
Als du. Nichts bist du nütze mir,
Was soll ich, unnütz' Ding, mit dir?
Vernimm's, mir kann nicht nütze sein
Die Herrlichkeit und Schönheit dein.
Wenn Meister Hippokras dich fänd',
Der besser dich gebrauchen könnt'
Als ich, da ich nicht kenne dich.«
So warf der Hahn den Stein von sich.
Da er gar wertlos ihm erschien;
Ein Haferkorn bedünkte ihn
Viel mehr.

Dies Beispiel sei erzählt
Dem Toren, der den Kolben wählt,
Der mehr ihm als ein Königreich.
Dem Toren sind die alle gleich,
Die Weisheit, Kunst und Ehr' und Gut
Verschmähn in ihrem Torenmut;
Für die frommt nichts der edle Stein.
Dem Hund ist mehr ein Knochenbein

siehe Bildunterschrift

Karel Dujardin, Maultiere.

Als ein Pfund Gold, das glaube mir.
Also drängt hin der Toren Gier
In Sitten und Gebärde
Auf Üppigkeit der Erde.
Sie merken nicht des Steines Wert
Und sehn nicht, was dies Beispiel lehrt,
Und wie darin verborgen ist
Viel guter Sinn und weise List,
Die unbekannt den Narren sind.
Die Narren! Sehend sind sie blind.
Der Tor soll ruhig weiter gehn
Und hier dies Beispiel lassen stehn,
Denn keine Frücht' er daraus zieht,
Recht wie dem Hahnen ihm geschieht.

 

Visionen

Mechtild von Magdeburg

Der Fisch kann im Wasser nicht ertrinken,
Der Vogel in der Luft nicht versinken,
Gold ist im Feuer nie vergangen,
es wird da Klarheit und leuchtende Farbe empfangen.
Gott hat allen Kreaturen das gegeben,
daß sie nach ihrer Kreatur leben.

*

Unser Herr rühmt sich im Himmelreich
seiner minnenden Seele, die er auf Erden hat,
und spricht: Seht, wie sie gestiegen kommt,
die mich verwundet hat!
Sie hat den Affen der Welt von sich geworfen,
sie hat den Bären der Unkeuschheit überwunden,
sie hat den Löwen der Hochmut unter ihre Füße getreten,
sie hat dem Wolf der bösen Gier seinen Bauch zerrissen.
Seht! nun kommt sie gelaufen wie ein gejagter Hirsch
nach dem Bronn, der ich bin.
Sie schwingt sich auf wie ein Aar
aus der Tiefe in die Höhe.

 

Die Flohhatz

Johann Fischart

Nun, Bruder, was braucht es des Streit's?
Jeder hält sein's für's größte Kreuz.
Du hast die Spinne, die dich plagt,
Und ich vermein', die mich stets jagt,
Die sei die Erzspinn' aller Spinnen,
Denn sie ist listig auch von Sinnen;
Zudem sie greulich gerüstet ist
Wider das Flöhvolk alle Frist.
Kommt aber List zur Grausamkeit,
Selbst der Verstand nicht Rettung beut.
Ja, daß mit einem Wort ich's sage,
Die Weiber sind's, darob ich klage,
Das sind die rechten Erzflöhspinnen,
Kaum kann man ihrem Netz entrinnen.
Sie nicht, wie deine, ein Netz spinnen,
Sie sind ja Tausendkünstlerinnen,
Sie weben alle Augenblicke,
Zu jagen uns in ihre Stricke,
Und, was doch wahrlich gar abscheulich,
Sie sind für sich allein nicht greulich,
Verführen auch aus bösem Mut
Die Kinder, das unschuld'ge Blut,
Und lehren sie statt Heiligkeit
Das Flöheknicken und Greulichkeit.
O werdet schwere Rechenschaft
Ihr geben, wenn ihr's nicht abschafft!
Ihr Mütter dürft niemand anklagen,
Daß aus der Art die Kinder schlagen,
Als euch, durch die sie belehret worden,
Wie sie unschuld'ge Wesen morden,
Die zarten Näglein gleich beflecken
Mit Blut – und sie darauf auch lecken.
O, ihr wißt nicht, was Blut vermag,
Es kocht in einem sein Lebtag,
Bis endlich es einmal ausbreche
Und sich an seinem Täter räche;
Auch schuldig Blut nagt an dem Mut,
Ich schweige, was unschuld'ges tut.
Wozu die Kinder gezogen man,
Das haftet ihnen ihr Lebtag an:
Sparta, die Stadt, wollt' einen Knaben
Von königlichem Stamm nicht haben
Zum König, weil sie hatt' erfahren,
Daß er in seinen Kinderjahren
Den Vöglein stach die Augen aus;
Sie nahmen seine Art daraus,
Daß, wenn er's Alter sollt' erlangen,
Noch Schlimmeres er würd' anfangen.
Was würde die gesagt doch haben
Zu unsern Mägdelein und Knaben,
Die die armen Flöhe nicht nur blenden,
Vielmehr sie töten gar und schänden!
Donnern bei Hitze Wolken sehr,
Will sich darüber wundern wer,
Das heißt, wenn Jugend ist mutwillig –
Die meint, es sei für sie so billig –,
Da es doch kalte Wolken nun.
Das heißt die alten Vetteln, tun,
Die doch auf der verschrumpften Haut
Nicht sollten fühlen, wenn man sie haut,
Dieweil bei ihnen der Schröpfer doch
Haut neunmal, eh' er kriegt ein Loch.
Aber (das Aber mich albern macht,
Nur halb hat's, wer da Aber sagt)
Was soll ich von den Vetteln sagen?
Ich muß noch edler Geschlecht verklagen,
Ich mein' die zarten Jungfraunbilder,
Die sich auch nicht erzeigen milder,
Nein, sie sind unjungfräulich greulich,
Denen Blut doch sollte sein abscheulich,
Dieweil man mancher doch den Rüssel
Aufbrechen muß mit einem Schlüssel,
Wenn sie sich mit einer Nadel sticht:
Der Ochsenziemer es auch aufbricht!
Denn daß ich dir, mein Sommergesell,
Des Pudels Kern nun hererzähl',
So wisse, daß ein Jungfräulein
Mich hat geschoren so unfein.
Wenn auch das Beste die Füße taten,
Daß ich bin aus der Schlacht geraten,
Sind mir zurückgeblieben doch
Gesellen, Freund' und Altern noch.

 

Von Hunden

Bruder Johannes Pauli

Zu einem Wolf kam einst ein feister Hund. Der Wolf sprach zu ihm: Guter Gesell, wie lebst du, daß du also feist bist, und ich bin so mager? Der Hund antwortete: Ich diene einem Menschen, der gibt mir genug zu essen. Der Wolf sprach: So will ich mit dir gehn und will auch dienen! Als sie nun miteinandergingen, sah der Wolf des Hundes Hals an und sprach zu ihm: Wie kommt es, daß dein Hals so beschabt und kein Haar daran ist? Jener sprach: Bei Tage legt man mich gefangen und bindet mir ein Halsband um den Hals, das macht mich also blutig; aber wenn es Nacht ist, so bin ich ledig und frei! Da sprach der Wolf: Ade, Ade, lieber Gesell! Ich will lieber mager und frei als feist und gefangen sein!

*

Einer wurde im Walde ermordet, und Niemand wußte, wer es getan hätte. Da war des toten Mannes Hund, der ihn begleitet, wo er den Mörder sah, fiel er ihn an, als wollte er ihn fressen, sei es in der Kirche oder auf der Gasse. Endlich schöpfte man einen Argwohn auf ihn, weil ihm der Hund so feind war, und als man ihn ergriffen, bekannte er, er hätte es getan; da gab man ihm seinen Lohn. – Wollte Gott, daß die Menschen einander so treu wären oder nur ein Freund dem andern, als die Hunde ihren Herren sind!

 

Hans Clauert, der märkische Eulenspiegel erzählt

Bartholomäus Krüger

Clauert pflegte oftmals von sich selber zu erzählen. Wenn er bei guten Leuten war und sah, daß sie unlustig wurden, so fing er zuerst von seiner Kindheit an bis zu seinem Alter mit nachfolgenden Worten: »Als ich ein kleines Kindlein war und oftmals ersah, daß unsere Nachbarkinder aus dem Holze kamen und junge Vögel nach Haus brachten, die sie aus den Nestern genommen hatten, gedachte ich, auch einmal in den Wald zu gehen und Vogelnester zu suchen. Da ich aber in den Wald kam, sah ich ein kleines Vöglein aus einem Baum fliegen. Ich ging hinzu, da fand ich ein kleines Löchlein, daß ich kaum einen Finger hineinbringen konnte. Und als ich den Finger hineinsteckte, fiel ich mit dem ganzen Leib hinterher in den Baum hinab. Darunter fand ich einen Teich, darin gebratene Fische gingen, und über dem Teiche war ein Butterberg, von dem die Butter von dem warmen Sonnenschein herab auf die gebratenen Fische troff. Von diesen Fischen aß ich mich so satt, daß ich aus dem Baum nicht wieder heraus kommen konnte. Ich lief derhalben heim, holte eine Barte (Axt) und hieb mich aus dem Baum heraus. Jedoch war mir's leid, daß ich der gebratenen Fische nicht etliche mit mir genommen, davon ich hätte rühmen können. Es trug sich gleichwohl zu, daß am Wege ein großer Haufen Tauben saß. Darunter warf ich, daß die Federn so dick liegen blieben, daß ich meine Barte nicht wieder finden konnte. Ich lief eilends nach Haus, holte Feuer und zündete die Federn an. Da verbrannte die Barte und der Stiel blieb liegen, so daß ich also zu meinen Eltern nicht wieder zu kommen wagte. Ich gedachte mich deswegen auf die Wanderschaft zu begeben und kam zu einem Bauern. Da hätte ich gern getrunken, wußte jedoch nicht, worin ich Wasser schöpfen sollte. Weil mir aber als einem gar jungen und kleinen Kinde die Hirnschalen noch nicht recht zusammengewachsen waren, nahm ich den halben Teil derselben vom Kopf herab, schöpfte Wasser darein und trank daraus. Es schmeckte mir auch das Wasser so wohl, daß ich darüber einschlief. Und als ich erwachte, war es fast Abend geworden. Darüber erschrak ich sehr und lief ganz unbesonnen davon, kam in ein Dorf; da drasch ein Bauer die Erbsen auf dem Balken und das Stroh fiel herab, die Erbsen aber blieben auf dem Balken liegen. Dessen verwunderte ich mich sehr und fragte den Bauern, wie solches käme, daß die Erbsen auf dem Balken blieben. Der fragte mich wieder, wie ich mit dem halben Kopfe daherkäme. Da gedachte ich erst an meine Hirnschale, lief alsbald zurück, fand sie auch und sieben Enteneier darin. Dieselben legte ich unter eine Henne und ließ sie ausbrüten. Daraus ward ein Pferd, sieben Meilen lang. Mit demselben verdiente ich viel Geld. Denn wenn die Leute über Land reisen wollten und am Kopf aufsaßen und das Pferd sich nur umwendete, so waren sie vierzehn Meilen weg. Und einstmals hatte ich etliche von Adel angenommen, die gern eilends wären an ihrem bestimmten Ort gewesen. Und als sie fast dahin gekommen waren, mistete das Pferd, wendete sich auch um und wollte daran riechen und brachte die Edelleute noch einmal so weit zurück, als sie zuvor sich aufgesetzt hatten, weshalb sie vor Zorn mein Pferd mitten entzwei hieben. Dem wußte ich nicht besser zu helfen, als daß ich rote Weiden nahm und das Pferd damit wieder zusammen band. Die Weiden blieben in dem Pferde sitzen und wuchsen so sehr, daß ein ganzer Wald auf dem Pferde entstand, so daß auch die, so darauf ritten, zur Sommerzeit im kühlen Schatten saßen. Dadurch erwarb mir das Pferd hernach viel mehr als zuvor; und gegen den Winter ließ ich die Weiden jährlich verhauen und löste aus denselben Holze so viel Geld, daß ich auf den heutigen Tag noch einen Zehrpfennig habe, sonst wäre ich längst zum Bettler geworden.«

 

Klageschrift der Vögel an Lutherum über seinen Diener Wolfgang Sieberger wegen Aufstellens eines Vogelherdes

Luther

Unserm günstigen Herrn, Doctori Martino Luther, Prediger zu Wittenberg.

Wir Drosseln, Amseln, Finken, Hänflinge, Stieglitzen samt andern frommen ehrbaren Vögeln, so diesen Herbst über Wittenberg reisen sollen, fügen Eurer Liebe zu wissen, wie wir glaublich berichtet werden, daß einer, genannt Wolfgang Sieberger, Euer Diener, sich unterstanden habe, einen großen, freventlichen Thurst und etliche alte, verdorbene Netze aus großem Zorn und Haß über uns teuer gekauft, damit einen Finkenherd anzurichten, und nicht allein unsern lieben Freunden und Finken, sondern auch uns allen die Freiheit, zu fliegen in der Luft und auf Erden Körnlein zu lesen, von Gott uns gegeben, zu wehren vornimmt, dazu uns nach unserm Leib und Leben stellt, so wir doch gegen ihn gar nichts verschuldet noch solche ernstliche und geschwinde Thurst um ihn verdient. Weil er denn alles, wie Ihr selbst könnt bedenken, uns armen, freien Vögeln (so zuvor weder Scheune noch Häuser noch etwas darin haben) eine gefährliche und große Beschwerung, ist an Euch unsere demütige und freundliche Bitte, Ihr wollet Euren Diener von solcher Thurst weisen, oder wo das nicht sein kann, doch ihn dahin halten, daß er uns des Abends zuvor streue Körner auf den Herd und morgens vor acht Uhr nicht aufstehe und auf den Herd gehe; so wollen wir denn unsern Zug über Wittenberg hinnehmen. Wird er das nicht tun, sondern uns also freventlich nach unserm Leben stehen, so wollen wir Gott bitten, daß er ihm steure, und er des Tages auf dem Herde Frösche, Heuschrecken und Schnecken an unserer Statt fange und zu Nacht von Mäusen, Flöhen, Läusen, Wanzen überzogen werde, damit er unser vergesse und den freien Flug uns nicht wehre. Warum braucht er solchen Zorn und Ernst nicht wider die Sperlinge, Schwalben, Elstern, Dohlen, Raben, Mäuse und Ratten? Welche Euch doch viel Leids tun, stehlen und rauben und auch aus den Häusern Korn, Hafer, Malz und Gerste enttragen, welches wir nicht tun, sondern allein das kleine Bröcklein und einzelne verfallne Körnlein suchen. Wir stellen solch unsere Sache auf rechtmäßige Vernunft, ob uns von ihm nicht mit Unrecht so hart wird nachgestellt. Wir hoffen aber zu Gott, weil unsere Brüder und Freunde, so viel in diesem Herbst vor ihm blieben und entflohen sind, wir wollen auch seinen losen, faulen Netzen, so wir gestern gesehen, entfliehen. Gegeben in unserm himmlischen Sitz unter den Bäumen, unter unserm gewöhnlichen Siegel und Federn.

 

Sankt Peter mit der Geiß

Hans Sachs

Als Christus noch auf Erden weilte
Und Petrus stets auch mit ihm eilte,
Aus einem Dorf er einst mit ihm ging.
Beim Kreuzweg Petrus da anfing:
»O Herre, Gott und Meister mein,
Mich wundert sehr die Güte dein,
Weil du als Gott allmächtig bist
Und läßt's doch gehn zu aller Frist
In aller Welt gleich wie es geht,
Wie Habakuk sagt, der Prophet:
Gewalt und Frevel geht vor Recht,
Wer gottlos, übervorteilt schlecht
Mit Schalkheit die Gerechten und Frommen;
Auch könn' kein Recht zu End' mehr kommen.
Die Lehren gehn durcheinander sehr,
Gleich wie die Fische in dem Meer,
Wo immer einer den andern verschlingt,
Der Böse den Guten niederringt.
Drum steht es übel an allen Enden,
In obern und in niedern Ständen.
Dem siehst du zu und schweigest still,
Als kümmert' dich das Ding nicht viel,
Als hätt'st du nichts zu sagen darzu;
Doch könntest das Übel hindern du,
Gebrauchtest du recht die Herrschaft dein.
O sollt' ein Jahr ich Herrgott sein
Und haben auch Gewalt wie du,
Ich wollte anders schauen zu,
Viel besser führen Regiment
Im Erdreich über alle Ständ'.
Ich wollte steuern mit meiner Hand
Betrug, Krieg, Wucher, Raub und Brand,
Ich wollt' herstellen ruhig Leben.«
Der Herr sprach: »Petre, sag' mir eben:
Vermeinst du besser zu regieren
Und alles baß zu ordinieren,
Die Frommen zu schützen, die Bösen zu plagen?«
Sankt Peter tät hinwieder sagen:
»Ja, 's müßt' auf Erden besser stehn,
Nicht also durcheinander gehn;
Ich wollt' viel besser Ordnung halten.«
Der Herr sprach: »So mußt du verwalten,
Petre, die hohe Herrschaft mein,
Sollst heute einmal Herrgott sein.
Schaff und gebeut nach deinem Mut,
Sei strenge, hart, mild oder gut;
Gib aus den Fluch oder den Segen,
Gib schön Wetter, Wind oder Regen,
Du magst bestrafen oder belohnen,
Magst plagen, schützen oder schonen –
In Summa, all mein Regiment
Leg' heute ich in deine Händ'.«
Damit der Herrgott seinen Stab
Dem Petrus in die Hände gab,
Petrus war drob gar wohlgemut,
Ihn däucht' die Herrlichkeit sehr gut!
Indem kam her ein armes Weib,
Ganz mager, dürr und bleich von Leib,
Barfüßig in zerrissnem Kleide.
Die trieb ihre Geiß hin auf die Weide.
Da sie nun auf die Wegscheid' kamen,
Sprach sie: »Geh' hin in Gottes Namen!
Gott hüt' und schütz' dich immerdar,
Daß dir kein Übel widerfahr'
Von Ungewitter, wilden Tieren,
Denn ich kann dich nicht weiterführen,
Weil ich um Tagelohn arbeite,
Damit ich hab' zu essen heute
Daheim mit meinen kleinen Kindern.
Geh' hin, wo du tust Weide finden,
Gott hüte dich mit seiner Hand!«
Indem die Frau sich wieder wandt'
Ins Dorf, die Geiß ging ihre Straß'.
Da sagt' der Herr zu Petrus das:
»Petrus, hast du das Gebet der Armen
Gehört? Du mußt dich ihrer erbarmen,
Weil ja den Tag bist Herrgott du;
Drum stehet dir auch billig zu,
Daß gut du nimmst die Geiß in Hut,
Wie sie von Herzen bitten tut,
Und sie behütest den ganzen Tag,
Daß sie sich nicht verirrt im Hag,
Nicht falle oder werd' gestohlen,
Daß Bär und Wolf sie sich nicht holen,
Auf daß sie Abends wiederum
Zurücke ohne Schaden kumm'
Der armen Fraue in ihr Haus.
Geh' hin und richt' das Ding wohl aus.«
Petrus nahm auf des Herren Wort
In seine Hut die Geiß sofort
Und trieb zur Weide sie hindann.
Da fing Sankt Peters Unruh' an:
Die Geiß war mutig, jung und frech,
Sie eilte weit von ihm hinweg,
Lief auf der Weide hin und wieder
Und stieg die Berge auf und nieder,
Tät hin und her durch die Büsche laufen.
Petrus mit Ächzen, Prusten, Schnaufen
Mußt' immer nachtrollen der Geiß.
Die Sonne schien gar überheiß,
Daß ihm der Schweiß herniederrann.
Mit Unruh' bracht' der alte Mann
Den Tag hin bis zum Abend spat;
Ganz macht- und kraftlos, müd' und matt
Die Geiß er wieder heimwärts brachte.
Der Herr sah Petrum an und lachte
Und sprach: »Begehrst in deine Händ'
Du länger noch mein Regiment?«
Drauf Petrus: »Lieber Herre mein,
Nimm wieder hin das Szepter dein
Und deine Macht: ich begehr' mit nichten,
Forthin dein Amt noch auszurichten.
Ich merke ja, daß ich kaum weiß,
Wie ich soll lenken eine Geiß
Ohn' Angst und viel Mühseligkeit.
O Herr, vergib mir die Torheit,
Ich will fortan der Herrschaft dein,
So lang' ich leb', nicht reden ein.«
Der Herr sprach: »Petre, also tu',
Dann lebest du in stiller Ruh',
Und vertrau' in meine Händ'
Das allmächtige Regiment.«

 

Auf Herrn Joachim Spechts Medici Hochzeit

Andreas Gryphius

Indem der Sternen Fürst von uns beginnt zu weichen,
Indem der Sommer stirbt, indem das grüne Kleid
Der Wiesen durch den Frost des Herbstes wird gemaiht,
Fängt auch der Vögel Schar an fern von uns zu schleichen.

Drum schauet unser Specht, weil alle Bäum erbleichen,
Auf die der Skorpion sein schädlich Gift ausspeit,
An welchem Ort er doch der Winter Grimmigkeit
Entgeh, und ob für ihn ein Nest sei zu erreichen.

Indem er also sucht, zeigt ihm Cupido an
Den Ort, in dem er sich gar sicher bergen kann;
Drauf ist er, Jungfrau Braut, in Euren Schoß geflogen,

In dem er voll von Lust sich seinen Sitz erkiest;
Und weil er Eurer Gunst gar hoch versichert ist,
Wird mancher junge Specht hier werden auf erzogen.

 

An die Bienen

Martin Opitz

Ihr Honigvögelein, die ihr von den Violen
Und Rosen abgemeyt den wundersüßen Saft,
Die ihr dem grünen Klee entzogen seine Kraft,
Die ihr das schöne Feld so oft und viel bestohlen,
Ihr, Feldbewohnerinn', was wollet ihr doch holen
Das, so euch noch zur Zeit hat wenig Nutz geschafft,
Weil ihr mit Dienstbarkeit des Menschen seid behaft',
Und ihnen mehrenteils den Honig müsset zollen?

Kommt, kommt zu meinem Lieb'! Auf ihrem Rosenmund,
Der mir mein krankes Herz hat inniglich verwund't,
Da sollt ihr Himmelsspeis' euch überflüssig brechen.

Wenn aber Jemand sie will setzen in Gefahr,
Und ihr ein Leid antun, dem sollst du, starke Schar,
Für Honig Galle sein, und ihn zu Tode stechen.

 

Der Geizhals und der Affe

Christian Felix Weiße

Ein Geizhals hatte einen Affen.
Ein Geizhals sein und den sich anzuschaffen,
Das klingt zwar sonderbar, doch war es wohl bedacht;
Gesellschaft kostet Geld, und Menschen können stehlen;
Der Affe trieb bloß seine Possen bis zur Nacht;
Vor ihm braucht' er nichts zu verhehlen,
Er konnt' im Gelde wühlen und Dukaten zählen,
Der schwatzte nicht, und kurz, er war nach seinem Sinn.

Einst rief der Glockenschlag ihn nach der Kirche hin;
Denn hier dacht' er durch Beten und durch Singen
Dem Himmel neuen Segen abzudringen.
Er ließ aus großer Eil' das Schreibpult offen stehn.
Petz, der den Haufen Geld erblickte,
Und den die Langeweile drückte,
Sinnt sich zum Zeitvertreib ein kleines Spielwerk aus.
Er holt ein Goldstück nach dem andern
Und läßt zum Fenster frisch hinaus
Die Louisdor und die Dukaten wandern.
Das war ein Lärmen um das Haus!
Wer laufen konnte, lief, und bald ward vom Gedränge,
So breit die Straße war, der Platz doch viel zu enge.

Ein jeder schrie: »Herr Petz, mir auch ein Stück!«
Man haschte, sprang und fiel, und wem zum Glück
Eins in die Hände fiel, dem kam es hoch zu stehen;
Ein Jubel war's, dies Schauspiel anzusehen.

Indessen kam der Geizige zurück.
Er sah den Drang und rief: »Was gibt's für Unglück hier?
Mein Geld! Mein Geld! – O weh! Es büße mir,
Komm' ich hinauf, verruchter Dieb, dein Blut!«
Hier schwieg er; denn ihm schloß die Lippen seine Wut.
»Herr,« sprach ein alter Mann, »Herr, mäßigt Eure Hitze!
Das Geld ist Euch wie ihm und ihm wie Euch nichts nütze.
Der Affe wirft es weg, und Ihr? Ihr scharrt es ein.
Wer mag von euch der klügste sein?«

 

Der Vogel Plátea und die Reiger

M. G. Lichtwer

Der Vogel Plátea, nach andern Pelikan
Nach andern Löffelgans (das Tier hat viele Namen)
Griff einstmals zween Reiger an
Die aus dem nächsten Wasser kamen,
Und jagte diesen Herrn die Fische wieder ab,
Die sie im Teiche weggefangen;
Und strafte sie dabei, daß sie den Raub begangen.
Da dann ein Wort das andre gab.
O, rief ein Reiger: das ist schnöde!
Wir fangen unsre Kost mit Müh,
Ein fauler Schlemmer speiset sie!
Hier fiel der Plátea ihm trotzig in die Rede:
»Wie? Du begehrst noch ungescheut
Gestohlne Sachen zu behalten?
Euch soll man auch die Köpfe spalten!
Es lebe die Gerechtigkeit!«
Es ward der Raub hierauf sofort von ihm verzehret. –
Dergleichen Vogel wohnt noch itzt in mancher Stadt,
Der ebenfalls, wie der, verschiedne Namen hat,
Und die Gerechtigkeit nach seinem Vorteil ehret.
Man klagt darüber hier und da;
Wer zweifelt, frage nur die Leute.
Er straft die Dieberei und nährt sich von der Beute
Als wie der Vogel Plátea.

 

Der Retter

Pfeffel

Von einem Weih verfolgt, entrann
Ein Haselhuhn in eine Höhle;
Da sprang ein schlimmer Tyrann,
Ein rascher Fuchs, ihm an die Kehle.

Doch schnell macht es ein Jäger frei:
Sein Hund, der ihm die Spur verraten,
Zerriß den Fuchs, er schoß den Weih
Und ließ das gute Hühnchen – braten.

 

Pfeffel, Der Schakal

Ein Schakal fiel mit wildem Zahn,
Als einst das tapfre Heer der Briten
Am Ganges einen Sieg erstritten,
Die Körper der Erschlagnen an.

»Ha, Frevler!« rief ein zweiter Trimm
Dem Untier zu, »bist du besessen?
Ich will dich lehren Menschen fressen!«
Er sprachs und zog sein Schwert nach ihm.

»Wer ist,« so schlug das freche Vieh
Den frommen Zorn des Rächers nieder,
»Die größte Geißel deiner Brüder?
Du tötest, ich begrabe sie.«

 

Pfeffel, Die Nachtigall und der Star

Die gattenlose Philomele,
Die manche trübe Mitternacht
In leisen Klagen durchgewacht,
War krank und sang mit heitrer Seele
Ihr Abschiedslied. Ein fetter Star,
Der Feldpropst in dem Haine war,
Besuchte sie nach alter Mode.
Er schlich zur frommen Dulderin
Mit abgewandtem Blicke hin
Und sprach, nach mancher Episode,
Vom Krieg und Wetter, auch vom Tode.
»Ach!« rief er aus, »dies ist ein Feind,
Vor dem auch Helden sich entfärben!«
»Wer Mut zu leben hatte, Freund,«
Versetzt sie, »hat auch Mut zu sterben.«

 

Pfeffel, Der Fischer und der Delphin

Ein Fischer fuhr an einen Felsen an.
Auf einmal barst sein kleiner Kahn
Und splitterte, wie sprödes Glas, in Stücken.
Er war dem bängsten Tode nah,
Als ihn ein frommer Delphin sah;
Er schwamm herbei, er lud ihn auf den Rücken
Und trug ihn glücklich an den Strand.
Schnell zog der Fischer ihn ans Land
Und sprach mit gnadenreichen Blicken:
»Dein Schicksal ist in meiner Hand;
Doch zum Beweis, daß auch wir Menschen edel denken,
So will ich dir das Leben schenken.«

 

Die Bienen

B. H. Brockes

Ich sah und hörte mit gar innigem Vergnügen
Die Bienen lieblichen Gemurmels fliegen.
Ich sah sie, teils um sich zu tränken,
Teils Honig und teils Wachs heraus zu ziehn
In jede Blüt' mit emsigem Bemühn
Die kleinen rauhen Häupter senken.
Ob sie sich gleich mit ihrem Raub beladen,
Tun sie dennoch den Blumen keinen Schaden;
Ich sah, wie sie die süße Last
Sobald sie etwas aufgefaßt,
Eh sie noch in die Luft mit frohem Summen schwebten,
An ihre Füße künstlich klebten,
Ja es läßt gar zu artig und zu süß,
Wenn manche Bien' an beiden Hinterbeinen
Recht ein paar lederne, schöngelbe Höschen wies.

O wunderbarer Gott, fing ich vor Freuden an,
O wunderbarer Gott, wer lebt auf dieser Erden,
Der deine weise Macht begreifen kann?
Die kleinste Kreatur erhebt des Schöpfers Preis,
Ein fliegend' Würmchen zeigt Witz, Vorsicht, Kunst und Fleiß.
Kein Mensch vermag so, wie die kleine Bien',
Aus Blumen Honigseim zu ziehn.
Wir wüßten nicht einmal ohn' ihre Lehre,
Daß in den Blumen Honig wäre.

Mein Gott, ach laß das Heer der kleinen Bienen
Mir doch zu einem Lehrbild dienen!
Laß mein betrachtendes Gemüte
Doch auch, wie sie, aus jeder Blüte
Durch die darauf mit Ernst gewandten Augen
Der wahren Andacht Honig saugen.
Laß meine Seele sich, o Gott, zu deinen Ehren
In jeder Blume holden Pracht
An deiner Weisheit, Lieb' und Macht
Mit fröhlichen Gedanken nähren!

 

B. H. Brockes, Der Frosch

In einem nahgelegnen Bach
Hört' ich ein lustiges Gewäsche
Geschwätziger und froher Frösche,
Das, ob es gleich die Stille unterbrach,
Mein frohes Denken doch nicht störte.
Ich fand, daß das verworrene Geschrei
Doch immer sei ein Einerlei.
Der eine quakt, viel hundert quarren.
Hier murret einer sanft, wenn dorten tausend knarren.
»Wreckeckeckecks« schreit der: dort einer: »Merk es, merk's,
Merks!« schrieen jetzt gar viel. Ich stutzte. Rufest du,
Sprach ich, o kleiner Frosch, dem Menschen: Merk es! – zu.
Gewißlich, du hast recht. Man macht so wenig Werks
Von aller Pracht und Schönheit, die die Welt
Zumal im Frühling, in sich hält,
Von allen göttlichen Geschöpf- und Wunder-Werken,
Daß wir nicht aufs Geschöpf, noch auf den Schöpfer merken;
Daß man gar selten des gedenket,
Der aller Dinge Herr, des Allgewaltigen,
Der alles Herrliche geschaffen und uns schenket,
Zu dem mein froher Dank die Seele lenket.
Ach möchte man doch, daß dies Stumpfheit, fassen
Und sich vom Fröschlein nicht erinnern lassen.
Zum wenigsten geh ich, bist du auch klein,
Beredter Frosch, auf deine Mahnung ein.
Du sollst, so oft du rufst, mein Lehrer,
Dein »Merks« soll meine Lehre sein! –

 

Lebenslauf eines Flohes

Carl Friedrich Wegener

So verächtlich auch ein Floh in den Augen der meisten Menschen zu seyn scheint, so sehr auch unser Geschlecht, besonders von dem schönen Geschlechte, gehaßt wird, so feindselig man auch uns verfolgt und auszurotten sucht: so merkwürdig sind doch die Begebenheiten manches Flohes und die Rollen, welche er in seiner kurzen Lebenszeit zu spielen hat.

Es ist wahr, wir nähren uns von dem Blute der Menschen; aber – essen nicht auch die Menschen das Blut anderer Thiere? Machen sie nicht von dem Blute der Schweine Würste? Fangen sie nicht das Blut der geschlachteten Gänse sorgfältig auf, um es mit den Köpfen, Flügeln, Magen, Herzen, Lebern, Därmen und Füßen derselben zu kochen? Bedienen sie sich nicht des Ochsenblutes in ihren Zuckersiedereyen? Und rauben sie nicht diesen Thieren mit dem Blute auch zugleich das Leben? Wer kann aber auftreten und sagen, daß jemals ein Mensch oder ein Thier von einem Floh getödtet worden? Von den Läusen, mit welchen wir oft wider unsern Willen in einer und ebenderselben Herberge wohnen müssen, von diesen verächtlichen, eckelhaften Thieren, welche sich mit uns garnicht vergleichen müssen, weil sie nur bey Gefangenen, bey armen Bettlern und andern armen und geringen Leuten gefunden werden, wir aber auch mit den vornehmsten und liebenswürdigsten Frauenzimmern umgehen können – sagt man zwar, daß sie Menschen bey lebendigen Leibe verzehren; aber so unhöflich, so grausam sind wir nicht. Wir lassen uns bloß das Blut der Menschen gut schmecken, ohne sie übrigens zu verletzen; und das Blut, welches wir ihnen aussaugen, können sie sehr leicht entbehren. Wenigstens werden sie durch den Verlust desselben nicht so entkräftet, als wenn sie sich ohne Noth schröpfen oder eine Ader öffnen lassen.

siehe Bildunterschrift

Aelbert Cuijp, Stier.

Überdies ist es ja nicht unsre Schuld, daß die Natur uns das Blut der Menschen zur Nahrung angewiesen hat. Wären wir Falken, so würden wir uns Lerchen und andere Vögel greifen. Wären wir Füchse, so würden wir junge Hühner und anderes Federvieh schmausen. Wären wir Wölfe, so würden wir uns Lämmer und Schaafe stehlen. Wären wir Menschen, so würden wir vielleicht auch die Kunst lernen, gekochtes und gebratenes Fleisch, Pasteten und Kuchen zu essen, Bier, Liqueurs, Limonade, Bavaroise, Punsch und Wein zu trinken. Aber wir sind Flöhe. Wir müssen mit der von der Natur für uns bestimmten Speise zufrieden seyn. Wir sind es auch und wir zeigen uns dabey so mäßig, so bescheiden, als man es von gesitteten Flöhen nur immer fordern kann. Nie wird ein Floh sich durch Unmäßigkeit den Magen verderben, nie so viel zu sich nehmen, daß es ihm (wie man solches zuweilen wohl von Menschen siehet) wieder aus dem Halse stürzen müßte. Wir saugen das Blut nicht an solchen Oertern aus, wo man den Abgang desselben merken könnte. Nie wird man einen Floh auf der Wange oder auf den Lippen eines Frauenzimmers sehen. Wir wissen, daß die Frauenzimmer gern rothe Wangen und Lippen haben, daß sie, wenn die Natur ihnen diese Röthe versaget oder die Hand des Alters hinweggewischt oder eine ausschweifende Lebensart geraubet hat, diese Theile ihres Gesichtes roth färben. Wir werden uns daher wohl hüthen, ihnen da Blut zu rauben, wo sie es am wenigsten entbehren können. Nur an solchen Theilen ihres Körpers, welche desto reizender scheinen, je weißer sie sind, etwan an dem Halse, an der Brust, am Arme, am Fuße, am Unterleibe, suchen wir unsre Nahrung.

Man schätze also einen Floh nicht so geringe. Mancher Floh hat Gelegenheit, viele Erfahrungen zu sammeln, wichtige Entdeckungen zu machen, mit den verborgensten Geheimnissen bekannt zu werden, die angenehmsten Reize in der Nähe zu bewundern und überhaupt ein so merkwürdiges Leben zu führen, daß es für die Nachwelt beschrieben zu werden verdient. – Mein Lebenslauf kann hiervon einen deutlichen Beweis geben. Ich will mich demnach nicht erst entschuldigen, daß ich als ein Floh der Welt meinen Lebenslauf vorlege. Er enthält so viel Merkwürdiges, daß man es der Mühe werth finden wird, ihn zu lesen.

Von meiner Herkunft weiß ich nicht viel zu sagen.

Meinen ersten Wohnsitz habe ich in der Falte eines rothen Frießrocks gehabt, welcher einer Köchinn gehörte. Hier habe ich in dem Frühling meines Lebens die ruhigsten und besten Tage gehabt; denn meine Gebieterinn war alt und häßlich, hatte aber sehr fleischige Lenden und süßes Blut. Ihr Frießrock hatte also keine Anfechtungen, sondern hing, am Tage von keiner wollüstigen Hand betastet, um das feiste Untertheil ihres Körpers, und lag des Nachts ruhig auf einem Stuhle vor ihrem Bette. Ganz ungestöhrt konnte ich aus meinem warmen Behältnisse auf ihren Körper hüpfen, mich an ihrem gesunden Blute satt saugen und dann wieder in mein Quartier zurückkehren. Zuweilen verjagte sie mich zwar von meinen Mahlzeiten, aber sie war zu faul, mich aufzusuchen. Kurz, ich lebte in dem Frießrocke einer alten Köchinn recht zufrieden. So lebt ein Mann im niedrigen Stande ohne Pracht, aber auch ohne Sorgen, ohne glänzendes Glück, aber auch ohne schimmerndes Elend! O ihr glücklichen Tage! Warum mußtet ihr so bald verschwinden? Meine Besitzerinn verschenkte aus Mitleiden ihren Frießrock und mich an eine ihrer Verwandtinnen, eine junge lüderliche Weibsperson. Bey dieser hatte ich keinen ruhigen Augenblick. Bald mußte ich vor einem Bedienten, bald vor einem Kutscher, bald vor einem Handwerksburschen aus einen Schlupfwinkel in den andern kriechen. Sie selbst stellte mir unablässig nach und hatte mich auch wirklich schon einmal erhascht; aber ich entschlüpfte den Fingern dieser Grausamen und trieb mich solange in der Kinderstube auf der Erde herum, bis ich Gelegenheit fand, mich bey der Hausfrau, deren Kindermädchen sie war, einzuquartieren. Anfänglich war ich über meine Veränderung sehr vergnügt. Ich fand ein feines, sauberes Hemde, einen Unterrock von dem besten Molton und konnte aus allen Umständen schließen, daß ich an keinem geringen Orte sey. Wie freute ich mich, als ich mich in den feinen, weichen Unterrock eingenistet hatte! Wie stolz sahe ich von dem Gipfel meines Glücks auf geringere Flöhe herab! Aber ich wurde bald gewahr, daß man nicht immer glücklich ist, wenn man vornehm lebt. Mitten in meinen vornehmen Aufenthalte quälten mich die Nahrungssorgen. Kaum setzte ich meinen kleinen Rüssel etwan an dem Fuße oder in die Seite meiner empfindlichen Besitzerinn an, um mir mein gewöhnliches Nahrungsmittel zu suchen, so sprang sie auf, schimpfte und fluchte auf mich und auf unser ganzes Geschlecht, durchsuchte ihr Hemde, ihre Strümpfe, ihren Unterrock und jagte mir ein solches Schrecken ein, daß ich am ganzen Leibe zitterte. Nur wenn sie in Gesellschaften war oder Besuch bey sich hatte, gelang es mir zuweilen, meinen Hunger zu stillen. Ich wurde daher so mager wie ein Gerippe. So muß mancher Bewohner eines prächtigen Pallasts sich von bangen Sorgen foltern lassen, sieht um sein Lager blasse Schrecken stehen, und innere Angst verzehret ihn. Acht ganze Tage, für einen Floh ein halbes Jahr, mußte ich in den elendesten Umständen, zwischen Furcht und Angst zubringen. Von ungefähr geriet ich in die Beinkleider eines jungen Menschen, welcher der jungen reizenden Frau zuweilen einen angenehmen Zeitvertreib machte und dafür reichlich beschenkt wurde. In den Beinkleidern wollte es mir garnicht gefallen. Ich hatte zwar in denselben meine völlige Freiheit und mein reichliches Auskommen, aber eine gewisse natürliche Neigung zu dem schönen Geschlechte erregte in mir den Wunsch, mich bald wieder in den Unterkleidern eines Frauenzimmers zu sehen. Mein Wunsch wurde auch glücklich erfüllt. Der junge Mensch, dessen Beinkleider mir zur Wohnung dienten, war einer von denen saubern Herren, welche die Tempel der Venus fleißig besuchen. Bey einem solchen Besuche wurde ich in das Hemde einer Nymphe versetzt, mit welcher er die von der jungen Ehefrau erhaltenen Geschenke wieder durchbrachte. Von dem starken Geruche, welcher aus dem mit wohlriechendem Wasser häufig besprengten Hemde und Unterrocke meiner neuen Herrschaft hervorduftete, bekam ich solche heftige Kopfschmerzen, daß mir alle Lust verging, mich nach Lebensmitteln umzusehen. Krank und verdrießlich saß ich an dem Saume des Rocks, bis mich nach einer Stunde ein alter Herr, dessen Haar das Alter schon ziemlich weiß gebleicht hatte, mit dem Unterfutter seines Nachtkamisols auffieng. Ich konnte mich über die verliebte Hitze, mit welcher dieser Greis die Nymphe umarmte, nicht genug wundern. Beym Weggehen gab er ihr einen harten Thaler und sagte: »Erfahre ich, daß mein Sohn zu dir geht, so höret unsere Bekanntschaft auf, und du hast keinen Pfennig mehr von mir zu erwarten.« – Das Unterfutter des Nachtkamisols war warm und weich. Es wohnte sich ganz bequem in demselben, aber die Küche taugte nicht viel. Ein Paar alte dürre Lenden, ein zusammengeschrumpfter Leib waren eben nicht eine fette Weide für einen Floh, welcher sehr gesunden Appetit und bey seiner ersten Speisewirthinn – bey der fleischbegabten Köchinn – sich gewöhnt hatte, gesundes, süßes Blut mit vollen Zügen einzusaugen. Ich weiß nicht, in was für einer Verbindung mein alter Wirth mit der ebenfalls schon ziemlich betagten Priorinn eines Klosters stand. Genug, ich wurde bey einer heimlichen Unterredung mit derselben durch vieles Schütteln und Reiben genöthiget, zu ihr hinüber zu springen und in ihrem welken Busen eine Ruhestätte zu suchen. »In einem Kloster (dachte ich) wird man doch ein ruhiges Leben führen können.« Aber wie sehr betrog ich mich in meiner Hoffnung! Nirgends hatte ich weniger Ruhe gehabt, als ich bey der alten Priorinn fand. Mehr als einmal des Tages zog sie sich bis auf das Hemde aus, waschte sich den Hals, die Brüste, den Leib und rieb sich fast die Haut ab. (Sollte man wohl glauben, daß ein altes Weib noch so eitel seyn könnte?) Ich wußte alsdann nicht, wohin ich meine Zuflucht nehmen sollte. Verwünscht sey das Klosterleben! Verwünscht die Eitelkeit alter Weiber, welche sich noch das Fell reiben, um weiß zu werden und den Mannspersonen zu gefallen! Ein Zufall erlöste mich aus den Kloster. Als meine Priorinn eine kranke Nonne besuchte, bey welcher sich der Beichtvater befand, war ich begierig, die Nonne, von deren Schönheit man im ganzen Kloster sprach, zu sehen. Ich wagte es, durch den Aermel der Priorinn auf ihre Hand zu kriechen, um sowohl die schöne Nonne zu sehen, als auch ein wenig frische Luft zu schöpfen. Sie wurde mich gewahr und wollte mich greifen; hatte auch schon einen von meinen langen Hinterfüßen zwischen ihren knöchernen Fingern; aber ich ließ ein Gelenke von meinem Fuße im Stiche und hüpfte mit einem Balletsprunge in das Bette der kranken Nonne. – »Das verfluchte Ungeziefer (rief sie hinter mir her) ist so verwegen, daß es nicht einmal vor unserm heiligen Blute Respekt hat!« Die kranke Nonne gab ihr zu verstehen, daß sie wegen einer Gewissenssache sich gern mit dem Pater allein unterreden möchte. Die Priorinn, welche sich vielleicht oft in einem ähnlichen Falle befunden hatte, begab sich hinweg, und der Pater untersuchte die Gewissenssache der schönen Kranken so genau, daß ich in seinen Ordenshabit eingewickelt aus dem Bette und endlich auch aus dem Kloster kam. Wie solches zugegangen, weiß ich selbst nicht; und wenn ich es auch wüßte, so würde ich es doch nicht sagen. Ein Floh muß verschwiegen seyn. Was würde daraus entstehen, wenn wir Flöhe alles, was wir sehen und hören, verrathen wollten? – Der Pater mußte an ebendemselben Tage noch mehrere Kranken besuchen. Unter selbigen befand sich eine junge Ehefrau, welche sich über die kaltsinnigen Begegnungen ihres Mannes krank gegrämt hatte und Trost begehrte. Es war eine heiße Sommernacht. Um das Amt eines Trösters desto kräftiger verwalten zu können, legte der Pater seinen Ordenshabit, in dessen Aermel ich zu logieren gewürdiget wurde, auf einen Stuhl. Der Ehemann überraschte ihn. Der Tröster entsprang und ließ seinen Ordenshabit zurück. Ganz kaltblütig sagte der Ehemann: »Man muß dem ehrlichen Mann seinen Habit nachschicken.« Er rief auch würklich seinen Hausknecht: »Geht zu dem Pater xxx, macht ihm ein Kompliment von mir und sagt: ich schickte ihm seinen Habit, den er hier vergessen hätte.« Der Hausknecht überbrachte dem beschämten Pater seinen Habit und mich. Ich blieb ganz still im Aermel sitzen. Der Pater wurde krank. Ich hatte also Zeit, meinen Lebenslauf aufzusetzen, ob ich gleich bey dieser gelehrten Arbeit, so wie die meisten Schriftsteller, hungern mußte. – Was mir weiter begegnet ist, das werde ich vielleicht künftig erzählen.

 

Auf den Tod einer Nachtigall

Ludwig Hölty

Sie ist dahin, die Maienlieder tönte,
    Die Sängerin;
Die durch ihr Lied den ganzen Hain verschönte,
    Sie ist dahin!
Sie, deren Ton mir in die Seele hallte,
    Wenn ich am Bach,
Der durch Gebüsch im Abendgolde wallte,
    Auf Blumen lag!

Sie gurgelte, tief aus der vollen Seele,
    Den Silberschlag:
Der Wiederhall in seiner Felsenhöhle
    Schlug leis' ihn nach.
Die ländlichen Gesäng' und Feldschalmeien
    Erklangen drein;
Es tanzeten die Jungfrau'n ihre Reihen
    Im Abendschein.

Auf Moose horcht' ein Jüngling mit Entzücken
    Dem holden Laut,
Und schmachtend hing an ihres Lieblings Blicken
    Die junge Braut:
Sie drückten sich bei jeder deiner Fugen
    Die Hand einmal,
Und hörten nicht, wenn deine Schwestern schlugen,
    O Nachtigall!

Sie horchten dir, bis dumpf die Abendglocke
    Des Dorfes klang,
Und Hesperus, gleich einer goldnen Flocke,
    Aus Wolken drang;
Und gingen dann im Wehn der Maienkühle
    Der Hütte zu,
Mit einer Brust voll zärtlicher Gefühle,
    Voll süßer Ruh.

 

Ludwig Hölty, An ein Johanniswürmchen

Helle den Rasen, lieber Glühwurm, helle
Diese wankenden Blumen, wo mein Mädchen
Abendschlummer schlummerte, wo ich ihre
    Träume belauschte!

Helle den Rasen, lieber Glühwurm, daß ich
Jede wankende Frühlingsblume küsse,
Jedes Silberglöckchen des grünen Rasens
    Fülle mit Tränen!

 

Die Wachtel und ihre Kinder

A. F. E. Langbein

Hoch wallte das goldene Weizenfeld
und baute der Wachtel ein Wohngezelt.
Sie flog einst früh in Geschäften aus
Und kam erst am Abend wieder nach Haus.
Da rief der Kindlein zitternde Schar:
Ach, Mutter, wir schweben in großer Gefahr!
Der Herr dieses Feldes, der furchtbare Mann,
ging heut' mit dem Sohn hier vorbei und begann:
Der Weizen ist reif, die Mahd muß gescheh'n,
geh', bitte die Nachbarn, ihn morgen zu mäh'n.
Oh, sagte die Wachtel, dann hat es noch Zeit!
Nicht flugs sind die Nachbarn zu Diensten bereit.

Drauf flog sie des folgenden Tages aus
und kam erst am Abend wieder nach Haus.
Da rief der Kindlein zitternde Schar:
Ach, Mutter, wir schweben in neuer Gefahr!
Der Herr dieses Feldes, der furchtbare Mann,
ging heut' mit dem Sohn hier vorbei und begann:
Uns ließen die treulosen Nachbarn im Stich!
Geh' rings nun zu unsern Verwandten und sprich:
Wollt ihr meinen Vater recht wohlgemut seh'n,
so helfet ihm morgen sein Weizenfeld mäh'n.
Oh, sagte die Wachtel, dann hat es noch Zeit!
Nicht flugs ist die Sippschaft zur Hilfe bereit.

Drauf flog sie des folgenden Tages aus
und kam erst am Abend wieder nach Haus.
Da rief der Kindlein zitternde Schar:
Ach, Mutter, wir schweben in höchster Gefahr!
Der Herr dieses Feldes, der furchtbare Mann,
ging heut' mit dem Sohn hier vorbei und begann:
Uns ließen auch unsre Verwandten im Stich;
ich rechne nun einzig auf dich und auf mich.
Wir wollen, wenn morgen die Hähne kräh'n,
selbander uns rüsten, den Weizen zu mäh'n.
Ja, sagte die Wachtel, nun ist's an der Zeit!
Macht schnell euch, ihr Kinder, zum Abzug bereit;
wer Nachbarn und Vettern die Arbeit vertraut,
dem wird ein Schloß in der Luft gebaut;
doch unter dem Streben der eigenen Hand
erblüht ihm des Werkes vollendeter Stand. –

Die Wachtel entfloh mit den Kleinen geschwind,
und über die Stoppeln ging tags drauf der Wind.

 

A. F. E. Langbein, Der Adler und die Schnecke

Adler: Wie find ich dich, du träges Tier,
    Auf diesem Eichenwipfel hier?
    Wie kamst du her? So rede doch!
Schnecke: Je nun – ich kroch.

Sein hohes Ehrenamt gewann
    Nicht anders mancher Schneckenmann.

 

Der Gärtner und der Schmetterling

Abraham Gotthelf Kästner

»Ach gönne mir das Glück, mein Leben frei zu enden!«
so bat ein Schmetterling in seines Fängers Händen.
»Noch wenig Tage sind zum Fliegen mir erlaubt,
was hilft die Grausamkeit, die mir auch diese raubt?
Du weißt, der Blumen Schmuck wird nicht durch mich versehret,
ein unvermißter Saft ist alles, was mich nähret.«

»Dein Flehen bringt mich nicht zu unbedachter Huld,«
sagt ihm der Gärtner drauf, »stirb jetzt für alte Schuld;
wollt' ich der Raupe Tat dem Schmetterling vergeben,
so wird sie hundertfach in deinen Jungen leben.«
Auch bei der Bess'rung Schein befiehlt des Bösen Tod
das Übel, das er tat, und mehr noch, das er droht.

 

Grabschrift einer Nachtigall

Friedrich von Matthisson

Still im Lorbeergebüsch ruht Philomelens
Leichter Schleier. Die Liebesgötter klagten,
Als ihr zärtlicher Maigesang verstummte.
Aber selig und frei entflog ihr Schatten
Zum elysischen Hain; dort neben Sapphos
Und Anakreons Amaranthenlaube
Wohnt in ewiger Jugend nun die holde
Frühlingssängerin. Wirf ein Lorbeerblättchen
Auf ihr Grabmal, o Wandrer! Ihren Manen
Opfr' ein liebendes Weib die erste Rose.

 

Friedrich von Matthisson, Der Schmetterling

Schöne Sylphide schweb' in Frühlingsäther,
Fleug' von Rose zu Rose! Schau im Bache
Fröhlich deine Blumengestalt vom zarten
Sprößling der Myrthe!

Heiter sei deines Daseins Maitag! Nimmer
Müss' ein Bienchen dich schrecken, wo du Nektar
Trinkst, und schonend fliege dir stets Cytherens
Vogel vorüber.

Wenn dich der Orkus aufnimmt, ruh' im Kranze
Platon's, welcher, wie du der armen Menschheit,
Wonne, die Entschleierung Psyche's, lehrte,
Schöne Sylphide!

 

Der Vogelsteller

Moritz Aug. v. Thümmel

Die Liebe und der Vogelfang
    sind ziemlich einerlei,
es lockt der männliche Gesang,
    er lockt – er lockt
Vögel und Mädchen herbei.

Sie achten ihrer Schwäche nicht,
    denn ihre Herzen sind
in jugendlicher Zuversicht
    betäubt – betäubt,
liebevoll, fröhlich und blind.

Zwar bei dem ersten Ausflug ist
    das Vögelchen verzagt,
hält jeden Laut für Hinterlist,
    wohin, wohin
es seine Flügelchen wagt.

Doch hüpft es bei dem zweiten Flug
    mit jubelndem Geschwätz
von Baum zu Baum und dünkt sich klug
    und hüpft, und hüpft
dem Vogelsteller ins Netz

Fragment von Schwänzen

Joh. Christ Lichtenberg

Ein Beitrag zu den Physiognomischen Fragmenten

Silhouetten

Fragment von Schwänzen

1. Heroische, kraftvolle

A. Ein Sauschwanz

B. Englischer Doggenschwanz

A. Wenn du in diesem Schwanz nicht siehest, lieber Leser, den Teufel in Sauheit, (obgleich hoher Schweinsdrang bei a) nicht deutlich erkennest den Schrecken Israels in c, nicht mit den Augen riechst, als hättest du die Nase drin, den niedern Schlamm in dem er aufwuchs bei d, und nicht zu treten scheinst in den Abstoß der Natur und den Abscheu aller Zeiten und Völker, der sein Element war – so mache mein Buch zu; so bist du für Physiognomie verloren.

Dieses Schwein, sonst gebornes Ur-Genie, luderte Tage lang im Schlamm hin; vergiftete ganze Straßen mit unaussprechlichem Mistgeruch, brach in eine Synagoge bei der Nacht, und entweihte sie scheußlich; fraß, als sie Mutter ward, mit unerhörter Grausamkeit drei ihrer Jungen lebendig, und als sie endlich ihre kannibalische Wut an einem armen Kinde auslassen wollte, fiel sie in das Schwert der Rache, sie ward von den Bettelbuben erschlagen, und von Henkersknechten halbgar gefressen.

B. Der du mit menschlichen warmen Herzen die ganze Natur umfängst, mit andächtigen Staunen dich in jedes ihrer Werke hinfühlst, lieber Leser, teurer Seelenfreund, betrachte diesen Hundeschwanz, und bekenne ob Alexander, wenn er einen Schwanz hätte tragen wollen, sich eines solchen hätte schämen dürfen. Durchaus nichts weichlich, »hundselndes, nichts damenschößigtes, zuckernes« mausknapperndes, winzigtes Wesen. Überall Mannheit, Drangdruck, hoher erhabener Bug und ruhiges, bedächtliches, kraftherbergendes Hinstarren, gleichweit entfernt von untertänigem Verkriechen, zwischen den Beinen, und hühnerhündischer, wildwitternder, ängstlicher unschlüssiger Horizontalität. Stürbe der Mensch aus, wahrlich der Scepter der Erde fiele an diese Schwänze. Wer fühlt nicht hohe an menschlicher Idiodität angrenzende Hundheit in der Krümmung bei a). An Lage wie nach der Erde, an Bedeutung wie nach dem Himmel. Liebe, Herzens-Wonne Natur, wenn du dereinst dein Meisterstück mit einem Schwanze zieren willst, so erhöre die Bitte deines bis zur Schwärmerei warmen Dieners, und verleihe ihm einen wie B.

Dieser Schwanz gehörte Heinrich des VIII. Leibhunde zu. Er hieß Cäsar, und war Cäsar. Auf seinem Halsbande stund das Motto: aut Caesar, aut nihil, mit goldenen Buchstaben, und in seinen Augen eben dasselbe, weit leserlicher, und weit feuriger. Seinen Tod verursachte ein Kampf mit einem Löwen, doch starb der Löwe fünf Minuten früher als Cäsar. Als man ihm zurief, Marx der Löwe ist tot, so wedelte er dreimal mit diesem verewigten Schwanze, und starb als ein gerochener Held.

Molliter ossa quiescant.

C. Silhouette vom Schwanze eines, leider! zur Mettwurst bereits bestimmten Schweins-Jünglings in G... von der größten Hoffnung, den ich allen warmen, elastischen, beschnittenen und unbeschnittenen Genie ausbrütenden Stutzern, von Mensch- und Sauheit, bittewimmernd empfehle. Fühlts, hörts! und Donner werde dem Fleischer, der dich anpackt.

Noch zur Zeit nicht ganz entferkelt; mutterschweinische Weichmut in schlappen Hang und läppische Milchheit in der Fahnenspitze. Aber doch bei p schon keimendes Korn von Keiler-Talent; ja wäre bei m nicht sichtbarlich städtische Schwäche und mehr Spickespeck, als Haugeist, und wäre unter dem Schwanz bei o minder Rauchkammer als Ruhms-Tempel, und minder Mettwurst als Triumph, so sagte ich: dein Ahnherr überwand den Adonis, und der Ebergeist des Herkules-Bekämpfers ruht auf deinem Schwanz.

Einige Silhouetten von unbekannten meist tatlosen Schweinen

a, Schwach arbeitende Tatkraft; b, physischer und moralischer Speck; c, unverständlich entweder monströs oder Himmelsfunken lodernder Keim vom Wanderer zertreten; d, vermutlich verzeichnet, sonst blendender, auffahrender Eberblitz; f, Kraft mit Speck vertatloset.

Acht Silhouetten von Purschenschwänzen zur Übung

Erklärungen:

  1. Ist fast Schwanz-Ideal. Germanischer, eiserner Elater im Schaft; Adel in der Fahne; offensivliebende Zärtlichkeit in der Rose; aus der Richtung fletscht Philistertod und unbezahltes Konto. Durchaus mehr Kraft als Besonnenheit.

  2. Hier überall mehr Besonnenheit als Kraft. Ängstlich gerade, nichts Hohes, Aufbrausendes, weder Newton noch Rüttgerodt Rüttgerodt war ein Mörder, der zu Einbeck vier Meilen von Göttingen gerädert wurde. S. Lavaters große Physiognomik. , süßes Stutzerpeitschgen, nicht zur Zucht, sondern zur Zierde, und zartes Marzipanherz ohne Feuer-Puls. Ein Liedchen sein höchster Flug, ein Küßchen sein ganzer Wunsch.

  3. Eingezwängter Fülldrang. Eine Pulvertonne unter einem Feuerbecken vergessen. Wanns auffliegt, füllts die Welt. Edler vortrefflicher Schwanz, englisch in beiderlei Verstand. Schade, daß du von sterblichem Nacken herabstarrst. Flögst du durch die Himmel, die Kometen würden sprechen: welcher unter uns will es mit ihm aufnehmen. Studiert Medizin.

  4. Satyrmäßig verdrehte Merrettigform. Der Kahlköpfigkeit letzter Tribut, an Schwanzheit bezahlt. Alte Feldmarschallskraft, zu Fähndrichs-Natur aufpomadet, aufgekämmt und aufaffektiert. Kampf zwischen Natur und Kunst, wo beide auf dem Platz bleiben. Strecke du das Gewehr armer Teufel, und laß die Perücke einmarschieren.

  5. An Schneidergesellheit und Lade grenzende schöne Literatur. In dem scharfen Winkel, wo das Haar den Bindfaden verläßt, wo nicht Goethe, doch gewiß Bethge Bethge war der berühmteste Schneider zu Göttingen, zu seiner Zeit. hoher Federzug mit Nadelstich. Polemik in der horizontalen Richtung, Freitisch in der Quaste. In der fast zu dünne gezeichneten Wurzel-Winzigkeit mit Hände reibender Pussillanimität. Informiert auf dem Klavier.

  6. Sicherlich entweder junger Kater oder junger Tiger mit einem Haar-Übergewicht zum letztern.

  7. Abscheulich. Ein wahrhaftes Pfui! Wie kannst du an einem Kopf gesessen haben, den Musen geheiligt. Im trunkenen Streit mußt du vielleicht einmal irgend einem Badergesellen oder Stadtmusikanten entrissen und aus Triumph an Purschenhaar geknüpft sein. Elendes Werk, nicht der Natur, sondern des Seilwinders. Hanf bist du, und als Hanf hättest du dich besser geschickt, den Hals deines geschmacklosen Besitzers an irgend einem Galgen zu schnüren.

  8. Heil dir und ewiger Sonnenschein, glückseliges Haupt das dich trägt. Stünde Lohn bei Verdienst, so müßtest du Kopf sein, vortrefflicher Zopf, und du zopfbeglückter Kopf. Welche Güte in den seidenen zarten Abhang, wirkend ohne Hanf herbergendes maskierendes Band, und doch Wonne lächelnd wie geflochtene Sonnenstrahlen.

So weit über selbstgekrönte Haarbeutel als Heiligenglorie über Nachtmütze.

Sechs solcher Schwänze in einer Stadt, und ich wollte barfuß deine Tore suchen, du Gesegnete, die Schwelle deines Rathauses küssen und mich glücklich preisen, mit meinem eignen Blut unter die Zahl deiner letzten Beisassen eingezeichnet zu werden.

Fragen zur weitern Übung

Welcher ist der kraftvolleste? Welcher hat am meisten Tatstarrendes?

Welcher Schwanz wird schwänzen?

Welcher ist der Jurist? der Mediziner? der Theologe? der Weltweise? der Taugenichts? der Taugewas?

Welcher ist der verliebteste?

Welcher alterniert mit dem Haarbeutel?

Welcher hat den Freitisch?

Welchen könnte Goethe getragen haben?

Welchen würde Homer wählen, wenn er wiederkäme?

Fuchs und Bär

Matthias Claudius

Kam einst ein Fuchs vom Dorfe her
Früh in der Morgenstunde
Und trug ein Huhn im Munde;
Und es begegnet ihm ein Bär.
»Ah! guten Morgen, gnäd'ger Herr!
Ich bringe hier ein Huhn für Sie;
Ihr' Gnaden promenieren ziemlich früh,
Wo geht die Reise hin?«
»Was heißest du mich gnädig, Vieh!
Wer sagt dir, daß ich's bin?«
»Sah Dero Zahn, wenn ich es sagen darf,
Und Dero Zahn ist lang und scharf.«

 

Matthias Claudius, Nachricht vom Genie

Ein Fuchs traf einen Esel an.
Herr Esel! sprach er, jedermann
Hält Sie für ein Genie, für einen großen Mann!
»Das wäre!« fing der Esel an,
»Hab' doch nichts Närrisches getan.«

 

Matthias Claudius, Der Esel

Hab nichts, mich dran zu freuen,
Bin dumm und ungestalt,
Ohn' Mut und ohn' Gewalt;
Mein spotten und mich scheuen
Die Menschen, jung und alt;
Bin weder warm noch kalt;
Hab' nichts, mich dran zu freuen,
Bin dumm und ungestalt;
Muß Stroh und Disteln käuen;
Werd' unter Säcken alt –
Ah, die Natur schuf mich im Grimme!
Sie gab mir nichts als eine schöne Stimme.

 

Matthias Claudius, Das von dem Schneider und dem Elefanten in Surate

Vorläufig muß ich sagen, daß hier die Rede von einem asiatischen Schneider sei, der von den europäischen ganz verschieden ist. Ich habe einen nahen Anverwandten, der 'n Schneider ist; der möchte sonst meinen, daß ich ihn und sein löbliches Handwerk beleidigen wollte, und das will ich nicht.

Der Elefant saß also an der Tür, und der Schneider ward zur Tränke getrieben – umgekehrt! Der Elefant ward zur Tränke getrieben, und der Schneider saß an der Tür und hatte Äpfel neben sich stehen; und als der Elefant an die Äpfel kam, stand er stille, streckte seinen Rüssel hin und holte einen nach dem andern weg. Der Schneider wollte die Äpfel lieber selbst essen, und als der Rüssel wieder kam, stach er mit seiner Nadel hinein, und der Elefant sagte 'P''r''r''r''r'rm und ging weiter zur Tränke, trank sich satt und nahm einen Rüssel voll Wasser mit zurück. Und als er wieder an den Schneider kam, stellte er sich grade vor ihm hin und blies ihm das Wasser ins Gesicht und über den ganzen Leib und ging weg.

Die Herren Menschen könnten von dem Elefanten etwas lernen und sollten, wenn sie sich doch 'nmal rächen wollten, ihren Rüssel, wie er, nur voll Wasser nehmen; das wäre nicht ganz geschenkt, und Arm' und Beine blieben ganz. Sie dünken sich so doch mehr als Elefanten und sind's auch. Ja wohl, die Menschen sind mehr als alle Tiere, das ist leicht zu beweisen, wie folgt:

»Die Biber und Elefanten werden für die klügsten unter allen Tieren gehalten; nun hat man aber, zu geschweigen, daß bei beiden Tierarten nicht die geringste Spur von Subskription zu finden ist, niemals gehört, daß 'n Elefant einen Hexameter gemacht, oder die Biber einen Musenalmanach herausgegeben hätten. Beides vermögen aber die Menschen; sie haben schon viele tausend Hexameter gemacht und geben alljährlich an die sieben Musenalmanachs heraus, und der von Johann Heinrich Voß bei Karl Bohn soll bis dato der prinzipalste von allen sein; und also ist der Mensch prinzipaler als alle Tiere.«

 

Matthias Claudius, Schreiben eines parforcegejagten Hirschen an den Fürsten, der ihn parforcegejagt hatte, d. d. jenseit des Flusses

Durchlauchtiger Fürst,
Gnädigster Fürst und Herr!

Ich habe heute die Gnade gehabt, von Ew. Hochfürstlichen Durchlaucht parforcegejagt zu werden; bitte aber untertänigst, daß Sie gnädigst geruhen, mich künftig damit zu verschonen. Ew. Hochfürstliche Durchlaucht sollten nur einmal parforcegejagt sein, so würden Sie meine Bitte nicht unbillig finden. Ich liege hier und mag meinen Kopf nicht aufheben, und das Blut läuft mir aus Maul und Nüstern. Wie können Ihr' Durchlaucht es doch übers Herz bringen, ein armes, unschuldiges Tier, das sich von Gras und Kräutern nährt, zu Tode zu jagen? Lassen Sie mich lieber tot schießen, so bin ich kurz und gut davon. Noch einmal, es kann sein, daß Ew. Durchlaucht ein Vergnügen an dem Parforcejagen haben; wenn Sie aber wüßten, wie mir noch das Herz schlägt, Sie täten's gewiß nicht wieder, der ich die Ehre habe zu sein mit Gut und Blut bis in den Tod usw. usw.

Der Star von Segringen

J. P. Hebel

Selbst einem Staren kann es nützlich sein, wenn er etwas gelernt hat, wieviel mehr einem Menschen. – In einem respektablen Dorfe, ich will sagen in Segringen, es ist aber nicht dort geschehen, sondern hier zu Lande, und derjenige, dem es begegnet ist, liest vielleicht in diesem Augenblick, nicht der Star, aber der Mensch. In Segringen der Barbier hatte einen Star, und der wohlbekannte Lehrjunge gab ihm Unterricht im Sprechen. Der Star lernte nicht nur alle Wörter, die ihm sein Sprechmeister aufgab, sondern er ahmte zuletzt auch selber nach, was er von seinem Herrn hörte, zum Exempel: »Ich bin der Barbier von Segringen.« Sein Herr hatte noch allerlei Redensarten an sich, die er bei jeder Gelegenheit wiederholte, zum Exempel: »So so, lala,« oder »Par Compagnie« (das heißt so viel als: »In Gesellschaft mit andern«); oder »Wie Gott will,« oder »Du Tolpatsch.« So titulierte er nämlich insgemein den Lehrjungen, wenn er das halbe Pflaster auf den Tisch strich, anstatt aufs Tuch, oder wenn er das Scheermesser am Rücken abzog, anstatt die Schneide, oder wenn er ein Gütterlein verheite. Alle diese Redensarten lernte nach und nach der Star auch. Da nun täglich viele Leute im Haus waren, weil der Barbier auch Branntwein ausschenkte, so gab's manchmal viel zu lachen, wenn die Gäste miteinander ein Gespräch führten, und der Star warf auch eins von seinen Wörtern drein, das sich dazu schickte, als wenn er den Verstand davon hätte, und manchmal, wenn ihm der Lehrjunge rief: »Hansel, was machst du?« antwortete er: »Du Tolpatsch!« und alle Leute in der Nachbarschaft wußten von dem Hansel zu erzählen. Eines Tages aber, als ihm die beschnittenen Flügel wieder gewachsen waren, und das Fenster war offen und das Wetter schön, da dachte der Star: Ich hab' jetzt schon so viel gelernt, daß ich in der Welt kann fortkommen, und husch zum Fenster hinaus. Weg war er. Sein erster Flug ging ins Feld, wo er sich unter eine Gesellschaft anderer Vögel mischte, und als sie aufflogen, flog er mit ihnen, denn er dachte: Sie wissen die Gelegenheit hier zu Lande besser als ich. Aber sie flogen unglücklicherweise alle miteinander in ein Garn. Der Star sagte: »Wie Gott will.« Als der Vogelsteller kommt und sieht, was er für einen großen Fang getan hat, nimmt er einen nach dem andern behutsam heraus, drehte ihm den Hals um und wirft ihn auf den Boden. Als er aber die mörderischen Finger wieder nach einem Gefangenen ausstreckte und denkt an nichts, schrie der Gefangene: »Ich bin der Barbier von Segringen.« Als wenn er wüßte, was ihn retten muß. Der Vogelsteller erschrak anfänglich, als wenn es hier nicht mit rechten Dingen zuginge, nachher aber, als er sich erholt hatte, konnte er kaum vor Lachen zu Atem kommen; und als er sagte: »Ei, Hansel, hier hätt' ich dich nicht gesucht, wie kommst du in meine Schlinge?« da antwortete Hansel: »Par Compagnie.« Also brachte der Vogelsteller den Star seinem Herrn wieder und bekam ein gutes Fanggeld. Der Barbier aber erwarb sich damit einen guten Zuspruch, denn jeder wollte den merkwürdigen Hansel sehen, und wer jetzt noch weit und breit in der Gegend will zur Ader lassen, geht zum Barbier von Segringen.

Merke: So etwas passiert einem Staren selten. Aber schon mancher junge Mensch, der auch lieber herumflankieren, als daheim bleiben wollte, ist ebenfalls par Compagnie in die Schlinge geraten und nimmer wieder heraus kommen.

Die Esel und die Nachtigallen

Gottfried August Bürger

Es gibt der Esel, welche wollen,
Daß Nachtigallen hin und her
Des Müllers Säcke tragen sollen.
Ob recht, fällt mir zu sagen schwer.
Das weiß ich: Nachtigallen wollen
Nicht, daß die Esel singen sollen.

siehe Bildunterschrift

Jan Asselijn, Der bedrohte Schwan.

 

Gottfried August Bürger, Münchhausen erzählt ...

Sie haben unstreitig, meine Herren, von dem Heiligen und Schutzpatron der Weidmänner und Schützen, St. Hubert, nicht minder auch von dem stattlichen Hirsche gehört, der ihm einst im Walde aufstieß und welcher das heilige Kreuz zwischen seinem Geweihe trug. Diesem Sankt habe ich noch alle Jahre mein Opfer in guter Gesellschaft dargebracht und den Hirsch wohl tausendmal sowohl in Kirchen abgemalt als auch in die Sterne seiner Ritter gestickt gesehen, so daß ich auf Ehre und Gewissen eines braven Weidmanns kaum zu sagen weiß, ob es entweder nicht vorzeiten solche Kreuzhirsche gegeben habe oder wohl gar noch heutigestages gebe. Doch lassen Sie sich vielmehr erzählen, was ich mit meinen eigenen Augen sah. Einst, als ich alle mein Blei verschossen hatte, stieß mir ganz wider mein Vermuten der stattlichste Hirsch von der Welt auf. Er blickte mir so mir nichts dir nichts ins Auge, als ob ers auswendig gewußt hätte, daß mein Beutel leer war. Augenblicklich lud ich indessen meine Flinte mit Pulver und darüberher eine ganze Hand voll Kirschsteine, wovon ich, so hurtig sich das tun ließ, das Fleisch abgesogen hatte. Und so gab ich ihm die volle Ladung mitten auf seine Stirn zwischen das Geweihe. Der Schuß betäubte ihn zwar – er taumelte –, machte sich aber doch aus dem Staube. Ein oder zwei Jahre darnach war ich in ebendemselben Walde auf der Jagd; und siehe, zum Vorschein kam ein stattlicher Hirsch, mit einem vollausgewachsenen Kirschbaume, mehr denn zehn Fuß hoch, zwischen seinem Geweihe. Mir fiel gleich mein voriges Abenteuer wieder ein; ich betrachtete den Hirsch als mein längst wohlerworbenes Eigentum und legte ihn mit einem Schusse zu Boden, wodurch ich denn auf einmal an Braten und Kirschtunke zugleich geriet. Denn der Baum hing reichlich voll Früchte, die ich in meinem ganzen Leben so delikat nicht gegessen hatte. Wer kann nun wohl sagen, ob nicht irgendein passionierter heiliger Weidmann, ein jagdlustiger Abt oder Bischof, das Kreuz auf eine ähnliche Art durch einen Schuß auf St. Huberts Hirsch zwischen das Gehörne gepflanzt habe? Denn diese Herren waren ja von je und je wegen ihres Kreuz- und – Hörnerpflanzens berühmt und sind es zum Teil noch bis auf den heutigen Tag.

[Volkslieder]

 

Anonymus 1540, Der Bär und die Bauern

Es gingen drei Bauern und suchten einen Bärn,
Und als sie ihn funden, da hättens ihn gern.

Der Bär, der tat sich gegen sie aufleinen,
»Ach Maria, Gottes Mutter; wären wir daheimen!«

Sie fielen alle nieder auf ihre Knie:
»Ach Maria, Gottes Mutter, der Bär ist noch hie!«

 

Die Vogelhochzeit

Es wollt ein Vogel Hochzeit machen
Wohl in dem grünen Walde.

Der Sperber, der Sperber,
Der war der Hochzeitswerber.

Der Sperling, der Sperling,
Der bracht der Braut den Fingerring.

Die Schneppe, die Schneppe,
Die trug der Braut die Schleppe.

Die Lerche, die Lerche,
Die führt die Braut zur Kirche.

Der Auerhahn, der Auerhahn,
Der war der Priester und Kaplan.

Der Seidenschwanz, der Seidenschwanz,
Der führt die Braut zum Hochzeitstanz.

Die Gänse und die Anten,
Das waren die Musikanten.

Die Taube, die Taube,
Die bracht der Braut die Haube.

Der Star, der Star,
Der flocht der Braut das Haar.

Der Specht, der Specht,
Der macht der Braut das Bett zurecht.

Die Ammer, die Ammer,
Die führt das Brautpaar in die Kammer.

Der Uhu, der Uhu,
Der macht die Fensterläden zu.

 

»So mein Igel«

Ein Schneider und ein Ziegenbock, ein Leineweber und ein Igelkopf,
Ein Kürschner und eine Katze, nun wohlan; die tanzen auf einem Platze.
    So mein Igel so, so mein Igel so.

Die Leinweber hätten sich eins vermessen, bey dem Bier und da sie sessen.
Sie wollen in das Holz fahren, nun wohlan, sie wollen den Igel tot schlagen,
    So mein Igel so, so mein Igel so.

Und das erhörte die Fledermaus, sie ging wohl vor des Igels Haus,
Igel lieber Herr, nun wohlan, die Leinwebers dräuen dich sehre.
    So mein Igel so, so mein Igel so.

Der Igel war ein zorniger Mann, er zog zwei blanke Sporen an,
Blank biss auf Erden, nun wohlan, gegen die Leinwebers wollte er sich wehren.
    So mein Igel so, so mein Igel so.

Die Kurtzweil währte da nicht lang, die Schwerter gingen klingenklang,
Der Leinweber wollt sich bücken, nun wohlan, vor dem Igel mußt er sich strecken,
    So mein Igel so, so mein Igel so.

Ach lieber Igel laß mich leben, ich will dir meine Schwester geben,
Meine Schwester Grete, nun wohlan, sie kann die Spulen schießen,
    So mein Igel so, so mein Igel so.

Und deine Schwester will ich nicht, sie ist eine böse, böse Hure,
Sie ist mir ungetreue, nun wohlan, sie stillt mir das vierte Kläwen,
    So mein Igel so, so mein Igel so.

Sie stahl mir einen Umehang, der war wohl vierzig Ellen lang,
Sie nahm ihn auf den Rücken, nun wohlan, sie lief damit über eine Brücke,
    So mein Igel so, so mein Igel so.

Sie lief wohl einen Berg hinan, da sah die Frau und auch der Mann;
Das sahen alle Leute, nun wohlan, was will uns das bedeuten,
    So mein Igel so, so mein Igel so.

Sie liefen wohl hinter einen grünen Busch, da spielten sie beide ihres Herzenlust,
Da lebten sie in Freuden, nun wohlan, damit hat die Lieb ein Ende,
    So mein Igel so, so mein Igel so.

Wer ist der uns dies Liedlein sang, ein freier Igel ist er genannt,
Er hat es wohl gesungen, pfui dich an, die Leinewebers hat er überwunden.
    So mein Igel so, so mein Igel so.

 

Vielweiberei

Der Kuckuck war ein närrischer Mann,
er wollte gern zwölf Weiber ha'n.

Die erste kehrt die Stube aus,
die zweite trägt das Kehricht 'raus.

Die dritte zünd't das Feuer an,
die vierte legt ein Scheitel dran.

Die fünfte setzt das Töpfel zu,
die sechste sucht was drein zu tun.

Die siebente schenkt den Wein ihm ein,
die achte streicht das Geld ihm ein.

Die neunte bettet das Bettelein,
die zehnte legt das Kissen drein.

Die elfte macht das Bette warm,
die zwölfte schläft in Kuckucks Arm.

 

Ein Jäger aus Kurpfalz

Ein Jäger aus Kurpfalz,
Der reitet durch den grünen Wald
Und schießt das Wild daher,
Gleich wie es ihm gefallt,
    Juja, juja!
Gar lustig ist die Jägerei
Allhier auf grüner Heid'.

Bursch sattle mir mein Pferd
Und lege drauf mein' Mantelsack,
Ich reite wieder umher
Als Jäger aus Kurpfalz.

Wohl zwischen seine Bein,
Da muß der Hirsch geschossen sein,
Geschossen muß er sein
Auf eins, zwei, drei.

Hubertus auf der Jagd,
Der schoß ein' Hirsch und einen Has;
Er traf ein Mägdlein an,
Und das war achtzehn Jahr.

Jetzt reit ich nicht mehr heim,
Bis daß der Kuckuck Kuckuck schreit,
Er schreit die ganze Nacht
Allhier auf grüner Heid.

Die Schildbürger

Gustav Schwab

Ein andermal gingen die Schildbürger, die gar ernstlich auf den allgemeinen Nutzen bedacht waren, hinaus, eine Mauer zu besehen, die noch von einem alten Bau übrig geblieben war, ob sie die Steine nicht mit Vorteil anwenden könnten. Nun war auf der Mauer schönes, langes Gras gewachsen, das dauerte die Bauern, wenn es verloren sein sollte, deswegen hielten sie Rat, wie man es etwa benutzen könnte. Die einen waren der Meinung, man sollte es abmähen; aber niemand wollte sich dem unterziehen und auf die hohe Mauer wagen; andere meinten, wenn Schützen unter ihnen wären, so dürfte es das beste sein, wenn man es mit einem Pfeile herabschösse. Endlich trat der Schultheiß hervor und riet, man sollte das Vieh auf der Mauer weiden lassen, das würde mit dem Gras wohl fertig werden; so dürfte man es weder abmähen, noch abschießen. Diesem Rate neigte sich die ganze Gemeinde zu, und zur Danksagung wurde erkannt, daß des Schultheißen Kuh die erste sein sollte, die den guten Rat zu genießen hätte. Darein willigte der Schultheiß mit Freuden. So schlangen sie der Kuh ein starkes Seil um den Hals, warfen dasselbe über die Mauer und fingen auf der anderen Seite an zu ziehen. Als nun aber Strick zu ging, wurde, wie vorauszusehen, die Kuh erwürgt, und reckte die Zunge aus dem Schlunde. Als ein langer Schildbürger dies gewahr wurde, rief er ganz erfreut: »Ziehet, ziehet nur noch ein wenig!« und der Schultheiß selber schrie: »Ziehet, sie hat das Gras schon gerochen! Seht, wie sie die Zunge darnach ausstreckt! Sie ist nur zu tölpisch und ungeschickt, daß sie sich nicht selbst hinaufhelfen kann! Es sollte sie einer hinaufstoßen.« Aber es war vergebens; die Schildbürger konnten die Kuh nicht hinaufbringen, und ließen sie daher wieder herab. Und jetzo wurden sie erst inne, daß die Kuh schon lange tot war.

*

Den Schildbürgerinnen ging es nicht anders, als den Schildbürgern. Sie gebärdeten sich so närrisch, als wenn sie es von jeher gewesen wären. Eine Witwe, die nur eine einzige Henne hatte, welche ihr alle Tage ein Ei legte, hatte einst so viele Eier gesammelt, daß sie hoffen durfte, drei Groschen dafür zu lösen. Sie nahm deswegen ihr Körbchen und zog damit zu Markte. Unterwegs, da sie keine Gefährten hatte, fielen ihr allerlei Gedanken ein; und so dachte sie unter anderem an den Kram, den sie zu Markte trug; den ganzen Weg über redete sie mit sich selbst, und machte sich folgende Rechnung: »Siehe,« sagte sie zu sich, »du lösest auf dem Markte drei Groschen. Was willst du damit tun? Du willst damit zwei Bruthennen kaufen, die zwei, samt denen, die du hast, legen dir in so und so viel Tagen so und so viel Eier. Wenn du diese verkaufest, kannst du noch drei Hennen kaufen; dann hast du sechs Hennen. Diese legen dir in einem Monat so und so viel Eier; die verkaufst du und legst das Geld zusammen. Die alten Hennen, welche nicht mehr legen, verkaufst du auch; die jungen fahren fort, dir Eier zu legen, und brüten dir Junge aus; diese kannst du zum Teil ziehen und deine Hühnerzucht dadurch mehren, zum Teil Geld daraus lösen, endlich auch rupfen, wie man die Gänse rupft. Aus dem zusammengelegten Gelde kaufst du dir darnach etliche Gänse, die tragen dir auch Nutzen mit Eiern, mit Jungen, mit Federn. So kommst du in acht Tagen so weit, daß du eine Ziege kaufen kannst; die gibt dir Milch und junge Zicklein. Auf diese Weise hast du junge und alte Hühner, junge und alte Gänse, Eier, Federn, Milch, Zicklein, Wolle. Vielleicht läßt sich gar die Ziege auch scheren; du kannst es wenigstens versuchen, darauf kaufst du ein Mutterschwein; da hast du Nutzen über Nutzen, von jungen Spanferkeln, von Speck, Würsten und anderem. Daraus lösest du so viel, daß du eine Kuh kaufen kannst; die gibt dir Milch, Kälblein und Dünger. Was willst du aber mit dem Dünger anfangen? Wahrhaftig, du mußt auch einen Acker kaufen; der gibt dir Korn genug; dann brauchst du keins mehr einzukaufen! Darnach schaffest du dir Rosse an, dingst Knechte, die versehen dir das Vieh und bauen dir den Acker. Alsdann vergrößerst du dein Haus, daß du Hausgesinde beherbergen und dein Geld aufheben kannst. Darnach kaufst du noch mehr Güter, denn es kann dir nicht fehlen; du hast ja den Nutzen von Hühnern, von Gänsen, von Eiern, von Geismilch, von Wolle, von Zicklein, von Milchlamm, von Spanferkeln, von Kühen – denen kannst du noch dazu die Hörner absägen und sie an den Messerschmied verkaufen; – du hast ferner den Nutzen von Kälbern, von Äckern, von Wiesen, von Hauszins und anderem. Darnach willst du einen jungen Mann nehmen, mit dem kannst du in Freuden leben und eine reiche stolze Frau sein! O wie wohl willst du es dir sein lassen, und niemand ein gutes Wörtchen geben! Juchhe, Juchheisa, Hopsasa!« So jubelte die junge Witwe, warf dazu einen Arm in die Höhe und tat einen Sprung. Aber als sie sich so aufschwang und dazu jauchzte, da stieß sie von ungefähr mit ihrem Arm an den Eierkorb, daß dieser ganz ungestüm zu Boden fiel und die Eier alle zerbrachen. Da waren alle ihre Wünsche mit zerbrochen, nur der Junggesell nicht, den sie sich zum Manne erkoren hatte. Der konnte ja noch immer kommen. So stand sie nun auf dem Wege zum Markte und wartete sein.

Aus
Des Knaben Wunderhorn

 

Ablösung

Kuckuck hat sich zu Tod gefallen
An einer hohlen Weiden,
Wer soll uns diesen Sommer lang
Die Zeit und Weil vertreiben?
Ei, das soll tun Frau Nachtigall,
Die sitzt auf grünem Zweige,
Sie singt und springt, ist allzeit froh,
Wenn andre Vögel schweigen.

 

Käuzlein

Ich armes Käuzlein kleine,
Wo soll ich fliegen aus.
Bei Nacht so gar alleine,
Bringt mir so manchen Graus;
Das macht der Eulen Ungestalt,
Ihr Trauern mannigfalt.

Ich will's Gefieder schwingen
Gen Holz in grünen Wald,
Die Vöglein hören singen
In mancherlei Gestalt.
Vor allen lieb ich Nachtigall,
Vor allen liebt mich Nachtigall.

Die Kinder unten glauben,
Ich deute Böses an,
Sie wollen mich vertreiben,
Daß ich nicht schreien kann:
Wenn ich was deute, tut mir's leid,
Und was ich schrei, ist keine Freud.

Mein Ast ist mir entwichen,
Darauf ich ruhen sollt,
Sein Blättlein all verblichen,
Frau Nachtigall geholt:
Das schafft der Eulen falsche Tück,
Die störet all mein Glück.

 

Morgenlied von den Schäfchen

Schlaf, Kindlein, schlaf,
Der Vater hüt' die Schaf,
Die Mutter schüttelt's Bäumelein,
Da fällt herab ein Träumelein.
Schlaf, Kindlein, schlaf!

Schlaf, Kindlein, schlaf,
Am Himmel ziehn die Schaf,
Die Sternlein sind die Lämmerlein,
Der Mond, der ist das Schäferlein,
Schlaf, Kindlein, schlaf!

Schlaf, Kindlein, schlaf,
Christkindlein hat ein Schaf,
Ist selbst das liebe Gotteslamm,
Das um uns all zu Tode kam,
Schlaf, Kindlein, schlaf!

Schlaf, Kindlein, schlaf,
So schenk ich dir ein Schaf,
Mit einer goldnen Schelle fein,
Das soll dein Spielgeselle sein,
Schlaf, Kindlein, schlaf!

 

Des Antonius von Padua Fischpredigt

Antonius zur Predig
Die Kirche findt ledig,
Er geht zu den Flüssen
Und predigt den Fischen;
Sie schlag'n mit den Schwänzen,
Im Sonnenscheinglänzen.

Die Karpfen mit Rogen
Sind all hierher zogen,
Haben d' Mäuler aufrissen,
Sich Zuhörens beflissen:
Kein Predig niemalen
Den Karpfen so g'fallen.

Spitzgoschete Hechte,
Die immerzu fechten,
Sind eilend herschwommen
Zu hören den Frommen:
Kein Predig niemalen
Den Hechten so g'fallen.

Auch jene Phantasten,
So immer beim Fasten,
Die Stockfisch ich meine,
Zur Predig erscheinen.
Kein Predig niemalen
Den Stockfisch so g'fallen.

Gut Aalen und Hausen,
Die Vornehme schmausen,
Die selber sich bequemen,
Die Predig vernehmen:
Kein Predig niemalen
Den Aalen so g'fallen.

Auch Krebsen, Schildkroten,
Sonst langsame Boten,
Steigen eilend vom Grund,
Zu hören diesen Mund:
Kein Predig niemalen
Den Krebsen so g'fallen.

Fisch große, Fisch kleine,
Vornehme und gemeine,
Erheben die Köpfe
Wie verständige Geschöpfe:
Auf Gottes Begehren
Antonium anzuhören.

Die Predig geendet.
Ein jedes sich wendet,
Die Hechte bleiben Diebe,
Die Aale viel lieben.
Die Predig hat g'fallen,
Sie blieben wie alle.

Die Krebs' gehn zurücke,
Die Stockfisch bleiben dicke,
Die Karpfen viel fressen,
Die Predig vergessen.
Die Predig hat g'fallen,
Sie bleiben wie alle.

 

Marienwürmchen

Marienwürmchen, setze dich
auf meine Hand, auf meine Hand;
ich tu dir nichts zuleide.
Es soll dir nichts zuleid geschehn.
Ich will nur deine bunten Flügel sehn,
bunte Flügel meine Freude.

Marienwürmchen, fliege weg,
dein Häuschen brennt, die Kinder schrein
so sehre, ach, so sehre.
Die böse Spinne spinnt sie ein;
Marienwürmchen, flieg hinein,
deine Kinder schreien sehre.

Marienwürmchen, fliege hin,
zu Nachbars Kind, zu Nachbars Kind;
sie tun dir nichts zuleide.
Es soll dir ja kein Leid geschehn.
Sie wollen deine bunten Flügel sehn.
Und grüß sie alle beide.

 

Klapperstorch

Storch, Storch, Langbein,
Wann fliegst du ins Land herein,
Bringst dem Kind ein Brüderlein?
Wenn der Roggen reifet,
Wenn der Frosch pfeifet,
Wenn die goldnen Ringen
In der Kiste klingen,
Wenn die roten Appeln
In der Kiste rappeln.

 

Die Amsel

Gestern Abend in der stillen Ruh
Hört ich im Walde einer Amsel zu,
Als ich nun so saß.
Meiner ganz vergaß,
Kam mein Schatz und schmeichelt sich um mich
Und küßte mich.

So viel Laub an Busch und Linde ist,
So viel mal hat mich mein Schatz geküßt;
Dieweil es ist geschehn,
Es hats kein Mensch gesehn,
Die Amsel in dem Wald allein
Soll Zeuge sein.

 

Bienensegen

Christ, die Immen sind draußen!
Nun fliegt, meine Tierchen, her und hin.
Friedlich, fromm, in Gottes Hut,
sollt ihr heimkommen gut.
Sitze, sitze, Biene, da!
Gebot die Sankte Maria.
Urlaub nicht hast du!
Zu Holze nicht flieg du,
daß du mir nicht entrinnest,
noch dich mir entwindest.
Sitze viel stille.
Wirke Gottes Willen.

 

Käferhochzeit

Ein Käfer auf dem Baume saß,
der hatt' ein goldnes Hemdlein an.

Es saß ein' Fliege drunter,
den Käfer nahm's groß Wunder.

»Ei, Jungfer Fliege, wollt Ihr mich han?
Ich bin ein wackrer Käfersmann!«

Jungfer Fliege ging zu Bade,
sieben Mägde mußt' sie haben.

Die eine trug den Badestuhl,
die and're trug ein Paar rote Schuh'.

Die dritte trug die Seife,
die vierte tat sie abschweifen.

Die fünfte trug eine Kanne Wein,
die sechste mußte Schenkin sein.

»Wo ist denn meine Magd Mücke?
Sie soll mir krau'n meinen Rücken.

Sie soll mir krau'n meine weiße Haut,
denn ich bin eines Käfers Braut.« –

Die Fliege flog vom Bade,
viel Leute mußt sie haben.

Sie führten die Braut zu Tische,
sie hatten Wildbret und Fische.

Sie führten die Braut zum Tanze,
in ihrem grünen Kranze.

Sie tanzten all im Sprunge,
der Käfer mit der Brumme.

Ich weiß nicht was sie taten,
daß sie die Braut zertraten.

Da ging der Käfer im Harme,
mit seinem ganzen Schwarme.

Da kam der Hahn gesprungen,
der hat den Käfer verschlungen.

Nun haben die Hochzeitsleut' große
denn Braut und Bräutigam sind tot.

 

Kinderspiellied

Zwischen Berg und tiefem, tiefem Tal
saßen einst zwei Hasen,
fraßen ab das grüne Gras
bis auf den Rasen.

Als sie sich nun satt gefressen hatten,
setzten sie sich nieder,
bis daß der Jäger kam
und schoß sie nieder.

Als sie sich nun aufgerappelt hatten,
und sie sich besannen,
ob sie auch noch Leben hatten,
hupften sie von dannen.

Der gestiefelte Kater

Erbschaft allein tut's nicht. Kleines Erbe hat oft schon mehr genützt als großes; und keines mehr als kleines. Auf eigenen Füßen kommt man weiter als auf Stelzen, und eigene zwei Beine sind sicherer als die vier eines Rosses, das tausend Louisd'or kostet. Wir Alle kennen Millionäre, deren Väter nicht das Brot hatten, und Bettler, deren Großväter in Palästen wohnten. Etwas Grütze im Kopf ist mehr wert als große Ländereien außerhalb des Kopfes – und etwas Mutterwitz mehr als alles Mütterliche und Väterliche zusammengenommen. Der erste Taler ist schwerer zu verdienen als die zweite Million, und alle Millionen sind leichter auszugeben, als der erste Taler zu erwerben. Und Behalten ist bekanntermaßen noch schwerer als Erwerben.

Ein Müller hatte drei Söhne und den drei Söhnen hinterließ er eine Mühle, einen Esel und eine Katze. Der Älteste nahm nach dem Rechte der Erstgeburt die Mühle, der zweite den Esel – blieb für den Jüngsten nichts als die Katze. Das war eine leichte und natürliche Teilung und die Advokaten und Gerichte verdienten nicht viel dabei.

»Eine Katze!« rief der Jüngste unzufrieden, »eine Katze! Was tu' ich mit einer Katze? Das ist für die Katz! War's noch eine Geldkatze? Was nützt es mir, daß die Katze Mäuse fängt, fressen doch die Mäuse nicht meinen Speck! Schlage ich sie tot, habe ich höchstens ein Katzenfell, aus dem ich mir eine Pelzmütze machen lasse, während ich mit nackten Füßen herumlaufe. Was nützt ein warmer Kopf bei kalten Füßen? Wenn ich zum Fenster hinaussehe, werden die Leute sagen, der hat's gut, er hat eine Pelzmütze! – aber wer mich ganz sieht, wird über mich lachen oder mich bedauern.«

So dachte er nach Art der Leute, die mit ihrem Los wie mit ihrer Erbschaft unzufrieden sind. Der Kater, der ihm zuhörte, tat nichts dergleichen, spielte nicht den Beleidigten und sagte mit einer Miene, die ihrer Sache sicher ist: »Seid nicht so traurig, mein Herr und Gebieter! Gebt mir nur einen Sack und lasset mir ein Paar guter Stiefel machen, daß ich ins Gestrüpp gehen könne, und Ihr werdet Euch überzeugen, daß der schlechteste Teil der Erbschaft nicht Euch zugefallen.«

Der Herr des Katers zuckte mitleidig die Achseln und gab nicht viel auf diese Worte. Indessen hatte er aber so oft Gelegenheit, seine Klugheit und Geschicklichkeit beim Mäusefangen zu beobachten, daß er dachte: Man kann nicht wissen! Oft schon hat ein geschickter Diener seinen Herrn aus der Not gerissen, und manch' ein König dankt sein Reich einem Minister, der ursprünglich ein verachteter armer Teufel gewesen. So tat er denn, wie der Kater sagte.

Als der Kater hatte, was er wünschte, zog er schön die Stiefel an und hängte den Sack um, den er mit Kleie und allerlei Spülicht anfüllte. Die Schnüre des Sackes nahm er zwischen die Vorderpfoten und machte sich auf den Weg, und ging in ein Gehege, wo es von Kaninchen wimmelte. Dort angekommen, legte er sich wie tot hin und wartete, ob nicht irgendein junges, unerfahrenes, mit den Listen und Tücken der Welt noch unbekanntes Kaninchen komme, um von den Lockspeisen zu kosten, die er in seinen Sack getan hatte.

Er hatte sich kaum ausgestreckt, als er seine List schon gelingen sah. Ein junger Leichtsinn von Kaninchen schlüpfte in den Sack; Meister Kater zog die Schnüre, fing es und tötete es ohne Gnade und Barmherzigkeit. »Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um!« sagte er dabei in moralisch und fromm näselndem Tone.

Stolz auf seinen Sieg, ging er geraden Weges zu Hof und verlangte den König zu sprechen. Man führte ihn in die innersten Gemächer Seiner Majestät, wo er sich tief verneigte und also sprach: »Mein König! Hier habe ich die Ehre, ein ganz ausgezeichnetes Kaninchen allerdevotest im Auftrage meines Herrn und Gebieters, des Marquis von Habenichts, als Zeichen seiner Treue und Untertänigkeit zu überreichen.«

»Sage Deinem Herrn,« geruhte der König zu antworten, »daß ich ihm danke, und daß ich ihm in Gnaden gewogen bleibe.«

Bald darauf legte sich der Kater in ein Kornfeld, öffnete seinen Sack und zog die Schnur, als zwei Rebhühner hineingeschlüpft waren, und fing sie alle beide. Sogleich lief er wieder zum König, und überreichte ihm die Rebhühner, wie das erste Mal das Kaninchen, im Namen seines Herrn. Der König dankte wieder und ließ ihm ein Trinkgeld verabreichen.

So trieb es der Kater durch mehrere Monate, indem er dem König jeden Augenblick Wildbret von den Jagden seines Gebieters, des Marquis von Habenichts, als Zeichen seiner Treue und Untertänigkeit überreichte.

Eines Tages, da er in Erfahrung brachte, daß der König mit seiner Tochter, einer der schönsten Personen der Welt, längs des Flusses eine Spazierfahrt machen sollte, sagte der gestiefelte Kater zu seinem Herrn: »Wenn Ihr jetzt auf meinen Rat hören wollt, ist Euer Glück gemacht. Gehet hin und badet im Flusse an der Stelle, die ich Euch bezeichnen werde. Im übrigen lasset mich machen.«

Der Marquis von Habenichts tat nach dem Rate seines Katers, ohne zu wissen, wohin es führen sollte. Während er badete, kam der König vorbei, und da fing der Kater aus Leibeskräften zu schreien an: »Zu Hilfe! Zu Hilfe! Der Herr Marquis von Habenichts ertrinkt!«

Auf dieses Geschrei streckte der König den Kopf zum Wagenfenster heraus, erkennt den Kater, der ihm so viele Geschenke gebracht, und befiehlt seinen Garden, daß sie dem Herrn Marquis von Habenichts zu Hilfe eilen.

Während man mit der Rettung des armen Marquis beschäftigt war, näherte sich der Kater der Leibkarosse und erzählte dem König, daß, während jener sich badete, Diebe seine Kleider davongetragen, obwohl er mit aller Macht: »Halt den Dieb!« geschrieen, und daß jetzt der arme Marquis dastehe, wie ihn Gott geschaffen. Der Spitzbub von Kater hatte die Lumpen seines Herrn unter einem großen Stein versteckt. Der König befahl sofort dem Beamten seiner allerhöchsten Leibgarderobe, daß man augenblicklich für den Herrn Marquis von Habenichts einen seiner schönsten Anzüge herbeischaffe.

Der König überhäufte ihn währenddem mit allen möglichen Gunstbezeugungen, und da die Kleider, die man indessen herbeibrachte, ihm, der ohnehin schon von Natur ein schöner Junge war, trefflich standen, fand ihn die Königstochter ganz nach ihrem Geschmack, und der Marquis von Habenichts brauchte ihr nur einige aus Hochachtung und Zärtlichkeit gemischte Blicke zuzuwerfen, um sie ganz und bis zur Narrheit verliebt zu machen.

Der König lud ihn ein, in den Wagen zu steigen und an der Spazierfahrt teilzunehmen. Da saß er nun der Prinzessin gegenüber und so nahe – daß sie als kurzsichtige Person in seinen Augen hätte lesen können, was drin stand und nicht stand. »Jetzt,« dachte der Kater, »jetzt blüht unser Weizen!« und lief, bis er an eine große Wiese kam, die eben von den Bauern abgemäht wurde. Er stellte sich in ihre Mitte und hielt eine gewaltige Volksrede, in der er ihnen alles mögliche Gute versprach und die so endete: »Edles Volk, Bürger, freie Menschen, ehrliche Landleute! So ihr jetzt, wenn der König, unser allergnädigster Herr, hier vorbeikommt, nicht Alle und einstimmig behauptet, daß diese Wiese, die ihr hier abmähet, dem edlen Marquis von Habenichts gehört und von jeher gehört hat, so werdet ihr samt und sonders, ohne Gnade und Barmherzigkeit, in die Pfanne gehauen!«

Nachdem er so die Volksstimme – »Volkesstimme, Gottesstimme,« dachte er bei sich – vorbereitet hatte, eilte er weiter, damit der König ja nicht sehe, auf welche Weise das Volk für seine Abstimmung dressiert wird.

Der König verfehlte nicht, die braven Landleute zu fragen, wem die Wiese gehöre. Sie antworteten Alle aufs Freimütigste: »Unserem gnädigen Herrn, dem Marquis von Habenichts.«

»Sie haben da ein recht schönes Stück Landes, Herr Marquis!« bemerkte der König.

»Zu dienen, Majestät, ein recht einträgliches Stück Feld!« schmunzelte der Marquis bescheiden.

Der gestiefelte Kater, immer dem Wagen des Königs voraus, begegnete wieder Landleuten, die auf einem Felde ernteten. Er hielt wieder eine herrliche Volksrede, die wieder so endete: »So ihr nicht, wenn der König, unser allergnädigster Herr, hier vorbeikommt, Alle und einstimmig behauptet, daß all' diese Kornfelder dem edlen Marquis von Habenichts gehören und immer gehört haben, so werdet ihr samt und sonders, ohne Gnade und Barmherzigkeit, in die Pfanne gehauen!« Der König, der gleich darauf vorüber fuhr, tat, wie er gewohnt war, fragte und erhielt die anbefohlene Antwort, indem alle Bauern zusammen schrieen:

siehe Bildunterschrift

Joh. Elias Ridinger, Die wilden Schweine.

»Diese Felder alle gehören und haben immer gehört unserem gnädigen Herrn, dem Marquis von Habenichts!«

Der König bekomplimentierte den Marquis aufs Neue über die Größe, Schönheit und Einträglichkeit seiner Besitzungen. Der Kater lief immer voraus, befahl Allen, denen er begegnete, dasselbe und der König staunte mehr und mehr über den großen Reichtum und die ausgedehnten Besitzungen des Herrn Marquis von Habenichts. So kam der Kater, immer vorauseilend, vor das Schloß eines der reichsten Oger, denn alle die Güter, die der König auf seinem Wege bewunderte, gehörten ihm. Der Kater hatte sich betreffs der Person und der Fähigkeiten des Ogers genau unterrichtet und bat um eine Audienz, indem er versicherte, daß er am Schlosse Seiner Herrlichkeit unmöglich vorbeireisen könne, ohne hochderoselben seine Aufwartung gemacht zu haben.

Der Oger empfing ihn so freundlich, als ein Oger sein kann und lud ihn ein, sich zu setzen. »Man erzählt sich im Volke,« nahm der Kater das Wort, »daß Euer Gnaden die Kunst besitzen, jede beliebige Tiergestalt anzunehmen, z. B. sich in einen Elefanten oder Löwen zu verwandeln. Das wird wohl eine Sage sein, wie man sie von bedeutenden Männern zu erzählen pflegt. Ich gestehe, daß ich dergleichen als aufgeklärter Kater nicht glauben kann.«

»Nicht glauben!« rief der Oger entrüstet, »Du wirst wohl daran glauben müssen!« und augenblicklich verwandelte er sich in einen Löwen. Den Kater ergriff ein solcher Schreck, daß er zum Fenster hinaussprang, und sich über die Dachrinne retten wollte, wobei er, von seinen für dergleichen Wege nicht gebauten Stiefeln behindert, beinahe den Hals gebrochen hätte. Erst als er das höhnische Gelächter des Ogers vernahm und sich überzeugte, daß dieser den Löwen wieder abgelegt hatte, kehrte er zu ihm zurück mit den größten Komplimenten über seine wunderbaren Künste. »Aber,« fügte er hinzu, »man sagt auch, daß Euer Gnaden sich auch in kleine Tiere, wie z. B. in eine Ratte oder Maus, verwandeln könne. Das halte ich für platterdings unmöglich.«

»Unmöglich!« rief der Oger. Gleich war er eine Maus und lief über das Parkett hin. Da machte der Kater einen Sprung, und aus war es mit der Maus und mit dem Oger für immer. Die Maus ist für die Katze, und wenn ein Riese sich auch nur für einen Augenblick klein und schwach zeigt, kann er sicher sein, gefressen zu werden. Unterdessen fuhr der König über die Zugbrücke in das Schloß, dessen Pracht ihn schon von ferne angezogen hatte. Der Kater hörte das Gerumpel und Getrampel, eilte hinab und hieß Seine Majestät im Schlosse seines Herrn, des Marquis von Habenichts, hoch willkommen. »Wie, Herr Marquis, auch dieses Schloß Euer Eigentum?« rief der König, »man kann nichts Schöneres sehen, als dieses Tor, diese Türme, diesen Hof, diese Treppen! Da müßt Ihr mich schon einige Zeit zu Gaste nehmen.«

Der Marquis von Habenichts gab der Prinzessin den Arm und folgte dem König, der die Treppen hinaufstieg, in einen Saal, wo der Oger für seine Freunde, die er diesen Tag erwartete, ein großes Gastmahl bereitet hatte. Man setzte sich zu Tische und war lustig und guter Dinge. Nur die Prinzessin war etwas melancholisch und das kam von der Liebe, die sich von Stunde zu Stunde in ihrem Herzen immer breiter machte. Der König bemerkte das und diese Bemerkung in Verbindung mit der anderen, daß der Marquis von Habenichts wohl einer der reichsten Granden des Landes sei, bewog ihn beim sechsten oder siebenten Glas zu dem Ausruf: »Wenn Ihr mein Eidam werden wolltet, Herr Marquis, ich wüßte nicht, daß dem etwas im Wege stünde!« Darauf lachte der König wie über einen Witz. Der Marquis nahm die Sache ernst, und noch denselben Abend wurde er des Königs Schwiegersohn.

Der gestiefelte Kater wurde Minister, und ging nur noch zu seinem Vergnügen auf die Mäusejagd, denn nur ein gemeiner Emporkömmling verleugnet die Freuden seiner Jugend.

Ostpreußisch, Der Katzensteig

In Königsberg von der Tuchmacherstraße nach der Löbenichtschen Bergstraße führt ein schmaler Steig, der den Namen Katzensteig trägt, und man möchte den Grund dieses Namens leicht darin finden, daß wirklich, besonders im Winter, die Turnkunst einer Katze dazu gehört, um ihn zu passieren. Der Grund liegt aber tiefer. In der Bergstraße wohnte nämlich eine Frau, welche die Brauerei betrieb und nebenbei die Hexerei. Sie und ein anderes Weib verwandelten sich alle Nacht in Katzen und gingen mit einem Braukessel den Katzensteig hinunter nach dem Pregel und gondelten dann in dem Kessel auf dem Wasser herum. Die Wache, welche früher an der Holzbrücke stand, sah dieses sonderbare Schauspiel oft an, und von ihr erfuhr es der Brauknecht der Hexe. Dieser versteckte sich in der Brauerei und sah wirklich, wie die beiden Katzen mit seinem Braukessel abgingen und nach dem Pregel wanderten. Nun erzählte ers diesem und dem, und das Gerede kam endlich auch zu Ohren der Frau, die darüber sehr böse auf den Brauknecht ward und sich an ihm zu rächen vornahm. Eines Tages nun, als der Knecht am Braukessel steht, kommt eine große Katze, umwindet ihn schmeichelnd, versucht ihn aber dabei in den Kessel zu werfen. Ihm ward ganz bange zumut, indes hat er doch noch so viel Fassung, daß er das heilige Kreuz schlägt, die Katze sodann mit beiden Händen ergreift und sie in das siedende Gebräu stürzt. Andern Tages fand man die Bräuerin im Kessel liegen, schon ganz verkohlt.

 

Ostpreußisch, Von dem Tolkemiter Aal und andern gefährlichen Sachen

Die Stadt Tolkemit hat schon viele große Gefahren auszustehen gehabt; unter anderm trieb viele Jahrhunderte lang ein Riesenaal sein Unwesen im Haff, fügte den Fischern großen Schaden zu und bedrohte sogar die gute Stadt Tolkemit. Um des lieben Friedens willen mußten die Bürger ihn gut verpflegen. Einstmals aber verabreichten sie ihm auch ein Tönnchen Tolkemiter Bier – es hieß Rorkatter, oder Rarkater, gleich Brüllkater. Da starb er an heftiger Magenverstimmung und wurde unter Jubel an die Kette gelegt. Dem Fremden wird noch heute im Tolkemiter Hafen die Stelle gezeigt, wo er gelegen hat. Auch die Kette soll noch vorhanden sein, und ein langer, abschüssiger Waldweg in der Wieker Forst zwischen Frauenburg und Tolkemit heißt zur Erinnerung an jenes Abenteuer noch heute »Der lange Aal«.

Ein andermal hatte die gute Stadt Tolkemit eine Belagerung durch ein Heer von Stinten auszuhalten, die aber durch die Tapferkeit der Bürger siegreich abgeschlagen wurde. Seitdem heißen die Tolkemiter die Stintstecher.

Grimm' Märchen

 

Katze und Maus in Gesellschaft

Eine Katze hatte Bekanntschaft mit einer Maus gemacht und ihr so viel von der großen Liebe und Freundschaft vorgesagt, die sie zu ihr trüge, daß die Maus endlich einwilligte mit ihr zusammen in einem Hause zu wohnen und gemeinschaftliche Wirtschaft zu führen. »Aber für den Winter müssen wir Vorsorge tragen, sonst leiden wir Hunger,« sagte die Katze, »du Mäuschen, kannst dich nicht überall hinwagen und gerätst mir am Ende in eine Falle.« Der gute Rat ward also befolgt und ein Töpfchen mit Fett angekauft. Sie wußten aber nicht wo sie es hinstellen sollten, endlich nach langer Überlegung sprach die Katze: »ich weiß keinen Ort, wo es besser aufgehoben wäre, als die Kirche, da getraut sich niemand etwas wegzunehmen: wir stellen es unter den Altar und rühren es nicht eher an als bis wir es nötig haben.« Das Töpfchen ward also in Sicherheit gebracht, aber es dauerte nicht lange, so trug die Katze Gelüsten danach und sprach zur Maus: »was ich dir sagen wollte, Mäuschen, ich bin von meiner Base zu Gevatter gebeten: sie hat ein Söhnchen zur Welt gebracht, weiß mit braunen Flecken, das soll ich über die Taufe halten. Laß mich heute ausgehen und besorge du das Haus allein.« – »Ja, ja,« antwortete die Maus, »geh in Gottes Namen, wenn du was Gutes issest, so denk an mich: von dem süßen roten Kindbetterwein tränk ich auch gerne ein Tröpfchen.« Es war aber alles nicht wahr, die Katze hatte keine Base, und war nicht zu Gevatter gebeten. Sie ging geradeswegs nach der Kirche, schlich zu dem Fetttöpfchen, fing an zu lecken und leckte die fette Haut ab. Dann machte sie einen Spaziergang auf den Dächern der Stadt, besah sich die Gelegenheit, streckte sich hernach in der Sonne aus und wischte sich den Bart so oft sie an das Fetttöpfchen dachte. Erst als es Abend war, kam sie wieder nach Hause. »Nun, da bist du ja wieder,« sagte die Maus, »du hast gewiß einen lustigen Tag gehabt.« – »Es ging wohl an,« antwortete die Katze. »Was hat denn das Kind für einen Namen bekommen?« fragte die Maus. » Hautab,« sagte die Katze ganz trocken. »Hautab,« rief die Maus, »das ist ja ein wunderlicher und seltsamer Name, ist der in eurer Familie gebräuchlich?« – »Was ist da weiter,« sagte die Katze, »er ist nicht schlechter als Bröseldieb, wie deine Paten heißen.«

Nicht lange danach überkam die Katze wieder ein Gelüsten. Sie sprach zur Maus: »du mußt mir den Gefallen tun und nochmals das Hauswesen allein besorgen, ich bin zum zweiten Mal zu Gevatter gebeten, und da das Kind einen weißen Ring um den Hals hat, so kann ich's nicht absagen.« Die gute Maus willigte ein, die Katze aber schlich hinter der Stadtmauer zu der Kirche und fraß den Fetttopf halb aus. »Es schmeckt nichts besser,« sagte sie, »als was man selber ißt,« und war mit ihrem Tagewerk ganz zufrieden. Als sie heimkam, fragte die Maus: »wie ist denn dieses Kind getauft worden?« – » Halbaus,« antwortete die Katze. »Halbaus! was du sagst! den Namen hab ich mein Lebtag noch nicht gehört, ich wette, der steht nicht in dem Kalender.«

Der Katze wässerte das Maul bald wieder nach dem Leckerwerk, »Aller guten Dinge sind drei,« sprach sie zu der Maus, »da soll ich wieder Gevatter stehen, das Kind ist ganz schwarz und hat bloß weiße Pfoten, sonst kein weißes Haar am ganzen Leib, das trifft sich alle paar Jahr nur einmal: du lässest mich doch ausgehen?« – »Hautab! Halbaus!« antwortete die Maus, »es sind so kuriose Namen, die machen mich so nachdenksam.« – »Da sitzest du daheim in deinem dunkelgrauen Flausrock und deinem langen Haarzopf,« sprach die Katze, »und fängst Grillen: das kommt davon, wenn man bei Tage nicht ausgeht.« Die Maus räumte während der Abwesenheit der Katze auf und brachte das Haus in Ordnung, die naschhafte Katze aber fraß den Fetttopf rein aus. »Wenn erst alles aufgezehrt ist, so hat man Ruhe,« sagte sie zu sich selbst und kam satt und dick erst in der Nacht nach Hause. Die Maus fragte gleich nach dem Namen, den das dritte Kind bekommen hätte. »Er wird dir wohl auch nicht gefallen,« sagte die Katze, »er heißt Ganzaus.« – »Ganzaus!« rief die Maus, »gedruckt ist er mir noch nicht vorgekommen. Ganzaus! was soll das bedeuten?« Sie schüttelte den Kopf, rollte sich zusammen und legte sich schlafen.

Von nun an wollte niemand mehr die Katze zu Gevatter bitten, als aber der Winter herangekommen und draußen nichts mehr zu finden war, gedachte die Maus ihres Vorrats und sprach: »komm Katze, wir wollen zu unserm Fetttopfe gehen, den wir uns aufgespart haben, der wird uns schmecken.« – »Jawohl,« antwortete die Katze, »der wird dir schmecken, als wenn du deine feine Zunge zum Fenster hinausstreckst.« Sie machten sich auf den Weg, und als sie anlangten, stand zwar der Fetttopf noch an seinem Platz, er war aber leer. »Ach,« sagte die Maus, »jetzt merke ich, was geschehen ist, jetzt kommt's an den Tag, du bist mir die wahre Freundin! aufgefressen hast du alles, wie du zu Gevatter gestanden hast: erst Haut ab, dann halb aus, dann ...« – »Willst du schweigen,« rief die Katze, »noch ein Wort, und ich fresse dich auf.« – »Ganz aus« hatte die arme Maus schon auf der Zunge, kaum war es heraus, so tat die Katze einen Satz nach ihr, packte sie und schluckte sie hinunter. Siehst du, so geht's in der Welt.

 

Grimm, Der Hund und der Sperling

Ein Schäferhund hatte keinen guten Herrn, sondern einen, der ihn Hunger leiden ließ. Wie er's nicht länger bei ihm aushalten konnte, ging er ganz traurig fort. Auf der Straße begegnete ihm ein Sperling, der sprach »Bruder Hund, warum bist du so traurig?« Antwortete der Hund, »ich bin hungrig, und habe nichts zu fressen.« Da sprach der Sperling, »lieber Bruder, komm mit in die Stadt, so will ich dich satt machen.« Also gingen sie zusammen in die Stadt, und als sie vor einen Fleischerladen kamen, sprach der Sperling zum Hunde, »da bleib stehen, ich will dir ein Stück Fleisch herunter picken,« setzte sich auf den Laden, schaute sich um, ob ihn auch niemand bemerkte, und pickte, zog und zerrte so lang an einem Stück, das am Rande lag, bis es herunter rutschte. Da packte es der Hund, lief in eine Ecke und fraß es auf. Sprach der Sperling, »nun komm mit zu einem andern Laden, da will ich dir noch ein Stück herunter holen, damit du satt wirst.« Als der Hund auch das zweite Stück gefressen hatte, fragte der Sperling, »Bruder Hund, bist du nun satt?« – »Ja, Fleisch bin ich satt,« antwortete er, »aber ich habe noch kein Brot gekriegt.« Sprach der Sperling, »das sollst du auch haben, komm nur mit.« Da führte er ihn an einen Bäckerladen und pickte an ein paar Brötchen, bis sie herunter rollten, und als der Hund noch mehr wollte, führte er ihn zu einem andern und holte ihm noch einmal Brot herab. Wie das verzehrt war, sprach der Sperling, »Bruder Hund, bist du nun satt?« – »Ja,« antwortete er, »nun wollen wir ein bißchen vor die Stadt gehen.«

Da gingen sie beide hinaus auf die Landstraße. Es war aber warmes Wetter, und als sie ein Eckchen gegangen waren, sprach der Hund, »ich bin müde und möchte gerne schlafen.« – »Ja, schlaf nur,« antwortete der Sperling, »ich will mich derweil auf einen Zweig setzen.« Der Hund legte sich also auf die Straße und schlief fest ein. Während er da lag und schlief, kam ein Fuhrmann heran gefahren, der hatte einen Wagen mit drei Pferden, und hatte zwei Fässer Wein geladen. Der Sperling aber sah, daß er nicht ausbiegen wollte, sondern in der Fahrgleise blieb, in welcher der Hund lag, da rief er, »Fuhrmann, tu's nicht, oder ich mache dich arm.« Der Fuhrmann aber brummte vor sich, »du wirst mich nicht arm machen,« knallte mit der Peitsche und trieb den Wagen über den Hund, daß ihn die Räder tot fuhren. Da rief der Sperling, »du hast mir meinen Bruder Hund tot gefahren, das soll dich Karre und Gaul kosten.« – »Ja, Karre und Gaul,« sagte der Fuhrmann, »was könntest du mir schaden!« und fuhr weiter. Da kroch der Sperling unter das Wagentuch und pickte an dem einen Spundloch so lange, bis er den Spund losbrachte: da lief der ganze Wein heraus, ohne daß es der Fuhrmann merkte. Und als er einmal hinter sich blickte, sah er, daß der Wagen tröpfelte, untersuchte die Fässer und fand, daß eins leer war. »Ach, ich armer Mann!« rief er. »Noch nicht arm genug,« sprach der Sperling und flog dem einen Pferd auf den Kopf und pickte ihm die Augen aus. Als der Fuhrmann das sah, zog er seine Hacke heraus und wollte den Sperling treffen, aber der Sperling flog in die Höhe, und der Fuhrmann traf seinen Gaul auf den Kopf, daß er tot hinfiel. »Ach, ich armer Mann!« rief er. »Noch nicht arm genug,« sprach der Sperling, und als der Fuhrmann mit den zwei Pferden weiter fuhr, kroch der Sperling wieder unter das Tuch und pickte den Spund auch am zweiten Faß los, daß aller Wein herausschwankte. Als es der Fuhrmann gewahr wurde, rief er wieder, »ach, ich armer Mann!« aber der Sperling antwortete »noch nicht arm genug,« setzte sich dem zweiten Pferd auf den Kopf und pickte ihm die Augen aus. Der Fuhrmann lief herbei und holte mit seiner Hacke aus, aber der Sperling flog in die Höhe: da traf der Schlag das Pferd, daß es hinfiel. »Ach, ich armer Mann!« – »Noch nicht arm genug,« sprach der Sperling, setzte sich auch dem dritten Pferd auf den Kopf und pickte ihm nach den Augen. Der Fuhrmann schlug in seinem Zorn, ohne umzusehen, auf den Sperling los, traf ihn aber nicht, sondern schlug auch sein drittes Pferd tot. »Ach, ich armer Mann!« rief er. »Noch nicht arm genug,« antwortete der Sperling, »jetzt will ich dich daheim arm machen« und flog fort.

Der Fuhrmann mußte den Wagen stehen lassen, und ging voll Zorn und Ärger heim. »Ach,« sprach er zu seiner Frau, »was hab ich Unglück gehabt! der Wein ist ausgelaufen, und die Pferde sind alle drei tot.« – »Ach, Mann,« antwortete sie, »was für ein böser Vogel ist ins Haus gekommen! er hat alle Vögel auf der Welt zusammen gebracht, und die sind droben über unsern Weizen hergefallen und fressen ihn auf.« Da stieg er hinauf, und tausend und tausend Vögel saßen auf dem Boden, und hatten den Weizen aufgefressen, und der Sperling saß mitten darunter. Da rief der Fuhrmann, »ach, ich armer Mann!« – »Noch nicht arm genug,« antwortete der Sperling, »Fuhrmann, es kostet dir noch dein Leben,« und flog hinaus.

Da hatte der Fuhrmann all sein Gut verloren, ging hinab in die Stube, setzte sich hinter den Ofen und zwar ganz bös und giftig. Der Sperling aber saß draußen vor dem Fenster und rief, »Fuhrmann, es kostet dir dein Leben.« Da griff der Fuhrmann die Hacke und warf sie nach dem Sperling: aber er schlug nur die Fensterscheiben entzwei und traf den Vogel nicht. Der Sperling hüpfte nun herbei, setzte sich auf den Ofen und rief, »Fuhrmann, es kostet dir dein Leben.« Dieser, ganz toll und blind vor Wut, schlägt den Ofen entzwei, und so fort, wie der Sperling von einem Ort zum andern fliegt, sein ganzes Hausgerät, Spieglein, Bänke, Tisch, und zuletzt die Wände seines Hauses, und kann ihn nicht treffen. Endlich aber erwischte er ihn doch mit der Hand. Da sprach seine Frau »soll ich ihn totschlagen?« – »Nein,« rief er, »das wäre zu gelind, der soll viel mörderlicher sterben, ich will ihn verschlingen« und nimmt ihn, und verschlingt ihn auf einmal. Der Sperling aber fängt an in seinem Leibe zu flattern, flattert wieder herauf, dem Mann in den Mund: da streckte er den Kopf heraus und ruft, »Fuhrmann, es kostet dir doch dein Leben.« Der Fuhrmann reicht seiner Frau die Hacke und spricht, »Frau, schlag mir den Vogel im Munde tot.« Die Frau schlägt zu, schlägt aber fehl, und schlägt dem Fuhrmann gerade auf den Kopf, so daß er tot hinfällt. Der Sperling aber fliegt auf und davon.

 

Grimm, Von dem Tode des Hühnchens

Auf eine Zeit ging das Hühnchen mit dem Hähnchen in den Nußberg, und sie machten miteinander aus, wer einen Nußkern fände, sollte ihn mit dem andern teilen. Nun fand das Hühnchen eine große, große Nuß, sagte aber nichts davon und wollte den Kern allein essen. Der Kern war aber so dick, daß es ihn nicht hinunter schlucken konnte, und er ihm im Hals stecken blieb, daß ihm angst wurde, es müßte ersticken. Da schrie das Hühnchen, »Hähnchen, ich bitte dich lauf, was du kannst, und hol mir Wasser, sonst erstick ich.« Das Hähnchen lief, was es konnte, zum Brunnen, und sprach, »Born, du sollst mir Wasser geben; das Hühnchen liegt auf dem Nußberg, hat einen großen Nußkern geschluckt und will ersticken.« Der Brunnen antwortete, »lauf erst hin zur Braut, und laß dir rote Seide geben.« Das Hähnchen lief zur Braut, »Braut du sollst mir rote Seide geben: rote Seide will ich dem Brunnen geben, der Brunnen soll mir Wasser geben, das Wasser will ich dem Hühnchen bringen, das liegt auf dem Nußberg, hat einen großen Nußkern geschluckt und will daran ersticken.« Die Braut antwortete, »lauf erst und hol mir mein Kränzlein, das blieb an einer Weide hängen.« Da lief das Hähnchen zur Weide und zog das Kränzlein von dem Ast und brachte es der Braut, und die Braut gab ihm rote Seide dafür, die brachte es dem Brunnen, der gab ihm Wasser dafür. Da brachte das Hähnchen das Wasser zum Hühnchen, wie es aber hinkam, war dieweil das Hühnchen erstickt, und lag da tot und regte sich nicht. Da war das Hähnchen so traurig, daß es laut schrie, und kamen alle Tiere und beklagten das Hühnchen; und sechs Mäuse bauten einen kleinen Wagen, das Hühnchen darin zum Grabe zu fahren; und als der Wagen fertig war, spannten sie sich davor, und das Hähnchen fuhr. Auf dem Wege aber kam der Fuchs, »wo willst du hin, Hähnchen?« – »Ich will mein Hühnchen begraben.« – »Darf ich mitfahren?«

»Ja, aber setz dich hinten auf den Wagen,
Vorn können's meine Pferdchen nicht vertragen.«

Da setzte sich der Fuchs hinten auf, dann der Wolf, der Bär, der Hirsch, der Löwe und alle Tiere in dem Wald. So ging die Fahrt fort, da kamen sie an einen Bach. »Wie sollen wir nun hinüber?« sagte das Hähnchen. Da lag ein Strohhalm am Bach, der sagte, »ich will mich quer drüber legen, so könnt ihr über mich fahren.« Wie aber die sechs Mäuse auf die Brücke kamen, rutschte der Strohhalm und fiel ins Wasser, und die sechs Mäuse fielen alle hinein und ertranken. Da ging die Not von neuem an, und kam eine Kohle und sagte, »ich bin groß genug, ich will mich darüber legen und ihr sollt über mich fahren.« Die Kohle legte sich auch an das Wasser, aber sie berührte es unglücklicherweise ein wenig, da zischte sie, verlöschte und war tot. Wie das ein Stein sah, erbarmte er sich und wollte dem Hähnchen helfen, und legte sich über das Wasser. Da zog nun das Hähnchen den Wagen selber, wie es ihn aber bald drüben hatte, und war mit dem toten Hühnchen auf dem Land und wollte die andern, die hintenauf saßen, auch heranziehen, da waren ihrer zu viel geworden, und der Wagen fiel zurück, und alles fiel miteinander in das Wasser und ertrank. Da war das Hähnchen noch allein mit dem toten Hühnchen, und grub ihm ein Grab und legte es hinein, und machte einen Hügel darüber, auf den setzte es sich und grämte sich so lang, bis es auch starb; und da war alles tot.

 

Grimm, Der Zaunkönig und der Bär

Zur Sommerszeit gingen einmal der Bär und der Wolf im Wald spazieren, da hörte der Bär so schönen Gesang von einem Vogel, und sprach, »Bruder Wolf, was ist das für ein Vogel, der so schön singt?« – »Das ist der König der Vögel,« sagte der Wolf, »vor dem müssen wir uns neigen;« es war aber der Zaunkönig. »Wenn das ist,« sagte der Bär, »so möcht ich auch gerne seinen königlichen Palast sehen, komm und führe mich hin.« – »Das geht nicht so, wie du meinst,« sprach der Wolf, »du mußt warten bis die Frau Königin kommt.« Bald darauf kam die Frau Königin und hatte Futter im Schnabel, und der Herr König auch, und wollten ihre Jungen atzen. Der Bär wäre gerne nun gleich hinterdrein gegangen, aber der Wolf hielt ihn am Ärmel und sagte »nein, du mußt warten bis Herr und Frau Königin wieder fort sind.« Also nahmen sie das Loch in acht, wo das Nest stand, und trabten wieder ab. Der Bär aber hatte keine Ruhe, wollte den königlichen Palast sehen, und ging nach einer kurzen Weile wieder vor. Da waren König und Königin richtig ausgeflogen: er guckte hinein und sah fünf oder sechs Junge, die lagen darin. »Ist das der königliche Palast!« rief der Bär, »das ist ein erbärmlicher Palast! ihr seid auch keine Königskinder, ihr seid unehrliche Kinder.« Wie das die jungen Zaunkönige hörten, wurden sie gewaltig bös, und schrieen »nein, das sind wir nicht, unsere Eltern sind ehrliche Leute; Bär, das soll ausgemacht werden mit dir.« Dem Bär und dem Wolf ward Angst, sie kehrten um und setzten sich in ihre Höhlen. Die jungen Zaunkönige aber schrieen und lärmten fort, und als ihre Eltern wieder Futter brachten, sagten sie, »wir rühren keine Fliegenbeinchen an, und sollten wir verhungern, bis ihr erst ausgemacht habt, ob wir ehrliche Kinder sind oder nicht: der Bär ist dagewesen, und hat uns gescholten.« Da sagte der alte König, »seid nur ruhig, das soll ausgemacht werden.« Flog darauf mit der Frau Königin dem Bären vor seine Höhle und rief hinein, »alter Brummbär, warum hast du meine Kinder gescholten? das soll dir übel bekommen, das wollen wir in einem blutigen Krieg ausmachen.« Also war dem Bären der Krieg angekündigt, und ward alles vierfüßige Getier berufen, Ochs, Esel, Rind, Hirsch, Reh, und was die Erde sonst alles trägt. Der Zaunkönig aber berief alles was in der Luft fliegt; nicht allein die Vögel groß und klein, sondern auch die Mücken, Hornissen, Bienen und Fliegen mußten herbei.

Als nun die Zeit kam, wo der Krieg angehen sollte, da schickte der Zaunkönig Kundschafter aus, wer der kommandierende General des Feindes wäre. Die Mücke war die listigste von allen, schwärmte im Wald, wo der Feind sich versammelte, und setzte sich endlich unter ein Blatt auf den Baum, wo die Parole ausgegeben wurde. Da stand der Bär, rief den Fuchs vor sich und sprach, »Fuchs, du bist der schlauste unter allem Getier, du sollst General sein, und uns anführen.« – »Gut,« sagte der Fuchs, »aber was für Zeichen wollen wir verabreden?« Niemand wußte es. Da sprach der Fuchs, »ich habe einen schönen langen buschigen Schwanz, der sieht aus fast wie ein roter Federbusch; wenn ich den Schwanz in die Höhe halte, so geht die Sache gut, und ihr müßt darauf los marschieren: laß ich ihn aber herunterhängen, so lauft was ihr könnt.« Als die Mücke das gehört hatte, flog sie wieder heim und verriet dem Zaunkönig alles haarklein.

Als der Tag anbrach, wo die Schlacht sollte geliefert werden, hu, da kam das vierfüßige Getier dahergerennt mit Gebraus, daß die Erde zitterte; Zaunkönig mit seiner Armee kam auch durch die Luft daher, die schnurrte, schrie und schwärmte, daß einem angst und bange ward; und gingen sie da von beiden Seiten aneinander. Der Zaunkönig aber schickte die Hornisse hinab, sie sollte sich dem Fuchs unter den Schwanz setzen und aus Leibeskräften stechen. Wie nun der Fuchs den ersten Stich bekam, zuckte er, daß er das eine Bein aufhob, doch ertrug er's und hielt den Schwanz noch in der Höhe: beim zweiten Stich mußt er ihn einen Augenblick herunter lassen: beim dritten aber konnte er sich nicht mehr halten, schrie und nahm den Schwanz zwischen die Beine. Wie das die Tiere sahen, meinten sie alles wäre verloren und fingen an zu laufen, jeder in seine Höhle: und hatten die Vögel die Schlacht gewonnen.

Da flog der Herr König und die Frau Königin heim zu ihren Kindern, und riefen, »Kinder, seid fröhlich, eßt und trinkt nach Herzenslust, wir haben den Krieg gewonnen.« Die jungen Zaunkönige aber sagten, »noch essen wir nicht, der Bär soll erst vors Nest kommen und Abbitte tun und soll sagen, daß wir ehrliche Kinder sind.« Da flog der Zaunkönig vor das Loch des Bären und rief, »Brummbär, du sollst vor das Nest zu meinen Kindern gehen und Abbitte tun und sagen, daß sie ehrliche Kinder sind, sonst sollen dir die Rippen im Leib zertreten werden.« Da kroch der Bär in der größten Angst hin und tat Abbitte. Jetzt waren die jungen Zaunkönige erst zufrieden, setzten sich zusammen, aßen und tranken und machten sich lustig bis in die späte Nacht hinein.

 

Grimm, Hase und Swinegel

Diese Geschichte ist ganz lügenhaft zu erzählen, Jungens, aber wahr ist sie doch, denn mein Großvater, von dem ich sie habe, pflegte immer, wenn er sie erzählte, dabei zu sagen:

»Wahr muß es doch sein, meine Söhne, denn sonst könnte man sie doch nicht erzählen.« Die Geschichte aber hat sich so zugetragen:

Es war einmal an einem Sonntagmorgen in der Herbstzeit, just als der Buchweizen blühte. Die Sonne war goldig am Himmel aufgegangen, der Morgenwind ging frisch über die Stoppeln, die Lerchen sangen in der Luft, die Bienen summten in dem Buchweizen, und die Leute gingen in ihren Sonntagskleidern nach der Kirche, kurz, alle Kreatur war vergnügt, und der Swinegel auch.

Der Swinegel aber stand vor seiner Tür, hatte die Arme übereinander geschlagen, guckte dabei in den Morgenwind hinaus und trällerte ein Liedchen vor sich hin, so gut und so schlecht, als es nun eben am lieben Sonntagmorgen ein Swinegel zu singen vermag. Indem er nun so halbleise vor sich hin sang, fiel ihm auf einmal ein, er könne wohl, während seine Frau die Kinder wasche und anziehe, ein bißchen im Felde spazieren gehen, und dabei sich umsehen, wie seine Steckrüben stünden. Die Steckrüben waren das Nächste bei seinem Hause, und er pflegte davon zu essen, und deshalb sah er sie auch als die seinigen an. Der Swinegel machte die Haustüre hinter sich zu und schlug den Weg nach dem Felde ein. Er war noch nicht sehr weit vom Hause und wollte just um den Schlehenbusch, der da vor dem Felde liegt, hinaufschlendern, als ihm der Hase begegnete, der in ähnlichen Geschäften ausgegangen war, nämlich um seinen Kohl zu besehen. Als der Swinegel des Hasen ansichtig wurde, bot er ihm einen guten Morgen. Der Hase aber, der nach seiner Weise ein ganz vornehmer Herr war und grausam hochfahrig dazu, antwortete nichts auf des Swinegels Gruß, sondern sagte zu ihm, wobei er eine gewaltig hohe Miene annahm: »Wie kommt es denn, daß du schon bei so frühem Morgen im Felde rumläufst?« »Ich gehe spazieren,« sagte der Swinegel. »Spazieren?« lachte der Hase, »mich deucht, du könntest deine Beine auch wohl zu besseren Dingen gebrauchen.« Diese Antwort verdroß den Swinegel über alle Maßen, denn alles kann er vertragen, aber auf seine Beine läßt er nichts kommen, eben weil sie von Natur schief sind. »Du bildest dir wohl ein,« sagte nun der Swinegel, »daß du mit deinen Beinen mehr ausrichten kannst?« »Das denk ich,« sagte der Hase. »Nun, es käme auf einen Versuch an,« meinte der Swinegel, »ich pariere, wenn wir Wettlaufen, ich laufe dir vorbei.« »Das ist zum Lachen, du mit deinen schiefen Beinen!« sagte der Hase, »aber meinetwegen mag es sein, wenn du so übergroße Lust hast. Was gilt die Wette?« »Einen goldenen Lujedohr und eine Buttelje Schnaps,« sagte der Swinegel. »Angenommen,« sprach der Hase, »schlag ein, und dann kann's gleich losgehen.« »Nein, so große Eile hat es nicht,« meinte der Swinegel, »ich bin noch ganz nüchtern; erst will ich zu Hause gehen und ein bißchen frühstücken. In einer halben Stunde bin ich auf dem Platze.« Darauf ging der Swinegel, denn der Hase war zufrieden. Unterwegs dachte der Swinegel bei sich: »Der Hase verläßt sich auf seine langen Beine, aber ich will ihn schon kriegen. Er dünkt sich zwar ein vornehmer Herr zu sein, ist aber doch ein dummer Kerl und bezahlen muß er doch.«

Als nun der Swinegel nach Hause kam, sagte er zu seiner Frau: »Frau, zieh dich eilig an, du mußt mit ins Feld hinaus.« »Was gibt es denn?« sagte die Frau. »Ich habe mit dem Hasen um einen goldenen Lujedor und eine Buttelje Schnaps gewettet, ich will mit ihm um die Wette laufen, und da sollst du dabei sein.« »O mein Gott, mein Mann!« schrie dem Swinegel seine Frau, »bist du nicht klug, hast du den Verstand verloren? Wie kannst du mit dem Hasen um die Wette laufen wollen?« »Halt das Maul, Weib,« sagte der Swinegel, »das ist meine Sache. Raisonniert nicht in Männergeschäfte. Marsch, zieh dich an und dann komm mit.« Was sollte dem Swinegel seine Frau machen? Sie mußte wohl folgen, sie mochte wollen oder nicht.

Als sie nun miteinander unterwegs waren, sprach der Swinegel zu seiner Frau also: »Nun paß auf, was ich dir sagen werde. Sieh, auf dem langen Acker dort wollen wir unsern Wettlauf machen. Der Hase läuft nämlich in der einen Furche, und ich in der anderen, und von oben fangen wir an zu laufen. Nun hast du weiter nichts zu tun, als du stellst dich hier unten in die Furche, und wenn der Hase auf der andern Seite ankommt, so rufst du ihm entgegen: »›Ich bin schon da.‹« Damit waren sie beim Acker angelangt, der Swinegel wies seiner Frau ihren Platz an und ging nun den Acker hinauf. Als er oben ankam, war der Hase schon da. »Kann es losgehen?« fragte der Hase. »Jawohl,« erwiderte der Swinegel. »Dann man zu!« Und damit stellte sich jeder in seine Furche. Der Hase zählte: »Eins, zwei, drei!« und los ging er wie ein Sturmwind den Acker hinunter. Der Swinegel aber lief nur ungefähr drei Schritte, dann duckte er sich in die Furche nieder und blieb ruhig sitzen. Als nun der Hase in vollem Laufen unten ankam, rief ihm dem Swinegel seine Frau entgegen: »Ich bin schon da!« Der Hase aber, ganz außer sich vor Eifer, schrie: »Nochmal gelaufen, wieder herum!« »Mir recht,« antwortete der Swinegel, »meinetwegen so oft als du Lust hast.« So lief der Hase dreiundsiebzigmal, und der Swinegel hielt es immer noch aus mit ihm. Jedesmal, wenn der Hase unten oder oben ankam, sagte der Swinegel oder seine Frau: »Ich bin schon da.«

Zum vierundsiebzigsten Male aber kam der Hase nicht mehr zu Ende. Mitten auf dem Acker stürzte er zur Erde, das Blut floß ihm aus dem Halse, und er blieb tot auf dem Platze. Der Swinegel nahm seinen gewonnenen Louisdor und die Flasche Branntwein, rief seine Frau von der Furche ab, und beide gingen vergnügt nach Hause, und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch.

So begab es sich, daß auf der Buxtehuder Heide der Swinegel den Hasen zu Tode gelaufen hat. Und seit jener Zeit hat es sich kein Hase mehr einfallen lassen, mit dem Buxtehuder Swinegel um die Wette zu laufen. Die Lehre aber aus dieser Geschichte ist erstens, daß keiner, und wenn er sich noch so vornehm dünkt, sich soll beikommen lassen, über den geringen Mann sich lustig zu machen, und wäre es auch nur ein Swinegel. Und zweitens, daß es geraten ist, wenn einer freiet, daß er sich eine Frau aus seinem Stande nimmt, die just so aussieht wie er selbst. Wer also ein Swinegel ist, der muß darauf sehen, daß seine Frau auch ein Swinegel sei.

Philomele

Goethe

Dich hat Amor gewiß, o Sängerin, fütternd erzogen;
Kindisch reichte der Gott dir mit dem Pfeile die Kost.
So durchdrungen von Gift die harmlos atmende Kehle,
Trifft mit der Liebe Gewalt nun Philomele das Herz.

 

Goethe, Adler und Taube

Ein Adlerjüngling hob die Flügel
Nach Raub aus.
Ihn traf des Jägers Pfeil und schnitt
Der rechten Schwinge Sehnkraft ab.
Er stürzt' herab in einen Myrtenhain,
Fraß seinen Schmerz drei Tage lang
und zuckt' an Qual
Drei lange, lange Nächte lang.
Zuletzt heilt ihn
Allgegenwärt'ger Balsam
Allheilender Natur.

Er schleicht aus dem Gebüsch hervor
Und reckt die Flügel – ach!
Die Schwingkraft weggeschnitten –
Hebt sich mühsam kaum
Am Boden weg
Unwürd'gem Raubbedürfnis nach
Und ruht tieftrauernd
Auf dem niedern Fels am Bach;
Er blickt' zur Eich' hinauf,
Hinauf zum Himmel,
Und eine Träne füllt sein hohes Aug'.

Da kommt mutwillig durch die Myrtenäste
Dahergerauscht ein Taubenpaar,
Läßt sich herab und wandelt nickend
Über goldnen Sand am Bach
Und rukt einander an;
Ihr rötlich Auge buhlt umher,
Erblickt den Innigtrauernden.
Der Tauber schwingt neugiergesellig sich
Zum nahen Busch und blickt
Mit Selbstgefälligkeit ihn freundlich an.
Du trauerst, liebelt er,
Sei guten Mutes, Freund!
Hast du zur ruhigen Glückseligkeit
Nicht alles hier?
Kannst du dich nicht des goldnen Zweiges freun
Der vor des Tages Glut dich schützt?

Kannst du der Abendsonne Schein
Auf weichem Moos am Bache nicht
Die Brust entgegenheben?
Du wandelst durch der Blumen frischen Tau,
Pflückst aus dem Überfluß
Des Waldgebüsches dir
Gelegne Speise, letzest
Den leichten Durst am Silberquell.
O Freund, das wahre Glück
Ist die Genügsamkeit,
Und die Genügsamkeit
Hat überall genug. –
O Weise! sprach der Adler, und tief ernst
Versinkt er tiefer in sich selbst,
O Weisheit! Du redest wie eine Taube!

 

Goethe, Zigeunerlied

Im Nebelgeriesel, im tiefen Schnee,
Im wilden Wald in der Winternacht,
Ich hörte der Wölfe Hungergeheul,
Ich hörte der Eulen Geschrei:
    Wille wau wau wau!
    Wille wo wo wo!
    Witu hu!

Ich schoß' einmal eine Katz am Zaun
Der Anne, der Hex', ihre schwarze liebe Katz';
Da kamen des Nachts sieben Werwölf zu mir,
Waren sieben, sieben Weiber vom Dorf.
    Wille wau wau wau!
    Wille wo wo wo!
    Wito hu!

Ich kannte sie all, ich kannte sie wohl,
Die Anne, die Ursel, die Käth',
Die Liese, die Barbe, die Ev' die Beth;
Sie heulten im Kreise mich an.
    Wille wau wau wau!
    Wille wo wo wo!
    Wito hu!

Da nannt' ich sie alle bei Namen laut:
Was willst du Anne?, was willst du Beth?
Da rüttelten sie sich, da schüttelten sie sich
Und liefen und heulten davon.
    Wille wau wau wau!
    Wille wo wo wo!
    Wito hu!

 

Goethe, Epigramme: Venedig 1790

»Längst schon hätt' ich euch gern von jenen Tierchen gesprochen,
Die so zierlich und schnell fahren dahin und daher.
Schlängelchen scheinen sie gleich, doch viergefüßet, sie laufen
Kriechen und schleichen, und leicht schleppen die Schwänzchen sie nach.
Seht, hier sind sie! und hier! Nun sind sie verschwunden!
Wo sind sie?
Welche Ritze, welch Kraut nahm die Entfliehenden auf?
Wollt ihr mirs künftig erlauben, so nenn ich die Tierchen Lacerten,
Denn ich brauche sie noch oft als gefälliges Bild.«

 

Goethe, Aus den Weissagungen des Bakis

Sprich, wie werd' ich die Sperlinge los? so sagte der Gärtner:
      Und die Raupen dazu, ferner das Käfergeschlecht,
Maulwurf, Erdfloh, Wespe, die Würmer, das Teufelsgezüchte? –
    »Laß sie nur alle, so frißt Einer den Andern auf.«

 

Goethe, Aus fremden Sprachen

Die Nachtigall, sie war entfernt,
Der Frühling lockt sie wieder;
Was Neues hat sie nicht gelernt,
Singt alte, liebe Lieder.

siehe Bildunterschrift

Fukusastickerei. Falken.

 

Goethe, Die Frösche

Ein großer Teich war zugefroren;
Die Fröschlein, in der Tiefe verloren,
Durften ferner nicht quaken noch springen,
Versprachen sich aber, im halben Traum,
Fänden sie nur da oben Raum,
Wie Nachtigallen wollten sie singen,
Der Tauwind kam, das Eis zerschmolz,
Nun ruderten sie und landeten stolz,
Und saßen am Ufer weit und breit
Und quakten wie vor alter Zeit.

 

Goethe, Fliegentod

Sie saugt mit Gier verrätrisches Getränke
Unabgesetzt, vom ersten Zug verführt;
Sie fühlt sich wohl, und längst sind die Gelenke
Der zarten Beinchen schon paralysiert;
Nicht mehr gewandt, die Flügelchen zu putzen,
Nicht mehr geschickt, das Köpfchen aufzustutzen –
Das Leben so sich im Genuß verliert.
Zum Stehen kaum wird noch das Füßchen taugen;
So schlürft sie fort und, mitten unterm Saugen,
Umnebelt ihr der Tod die tausend Augen.

Die Hunde und der Vogel

H. v. Kleist

Zwei ehrliche Hühnerhunde, die, in der Schule des Hungers zu Schlauköpfen gemacht, alles griffen, was sich auf Erden blicken ließ, stießen auf einen Vogel. Der Vogel, verlegen, weil er sich nicht in seinem Element befand, wich hüpfend bald hie, bald dorthin aus, seine Gegner triumphierten schon; doch bald darauf, zu hitzig bedrängt, regte er die Flügel und schwang sich in die Luft: da standen sie, die Helden der Triften und klemmten den Schwanz ein und gafften ihm nach.

Der junge Engländer

Wilhelm Hauff

Im südlichen Teil von Deutschland liegt das Städtchen Grünwiesel. Es ist ein Städtchen, wie sie alle sind. In der Mitte ein kleiner Marktplatz mit einem Brunnen, an der Seite ein kleines, altes Rathaus, umher auf dem Markt die Häuser des Friedensrichters und der angesehensten Kaufleute, und in ein paar engen Straßen wohnen die übrigen Menschen. Alles kennt sich, jedermann weiß, wie es da und dort zugeht, und wenn der Oberpfarrer und der Bürgermeister oder der Arzt ein Gericht mehr auf der Tafel hat, so weiß es schon am Mittagessen die ganze Stadt. Nachmittags kommen dann die Frauen zueinander in die Visite, wie man es nennt, besprechen sich bei starkem Kaffee und süßem Kuchen über diese große Begebenheit, und der Schluß ist, daß der Oberpfarrer wahrscheinlich in die Lotterie gesetzt und unchristlich viel gewonnen habe, daß der Bürgermeister sich »schmieren« lasse, oder daß der Doktor vom Apotheker einige Goldstücke bekommen habe, um recht teure Rezepte zu verschreiben. Ihr könnt Euch denken, wie unangenehm es für eine so wohleingerichtete Stadt wie Grünwiesel sein mußte, als ein Mann dorthin zog, von dem niemand wußte, woher er kam, was er wollte, von was er lebte. Der Bürgermeister hatte zwar seinen Paß gesehen und untersucht und in einer Kaffeegesellschaft bei Doktors geäußert, der Paß sei zwar ganz richtig visiert von Berlin bis Grünwiesel, aber es stecke doch was dahinter. Denn der Mann sehe etwas verdächtig aus. Der Bürgermeister hatte das größte Ansehen in der Stadt, kein Wunder, daß von da an der Fremde als eine verdächtige Person angesehen wurde. Und sein Lebenswandel konnte die Leute nicht von dieser Meinung abbringen. Der fremde Mann mietete sich für einige Goldstücke ein ganzes Haus, das bisher öde gestanden, ließ einen ganzen Wagen voll sonderbarer Gerätschaften, als Ofen, Kunstherde, große Tiegel und dergleichen hineinschaffen und lebte von da an ganz für sich allein. Ja, er kochte sich sogar selbst, und es kam keine menschliche Seele in sein Haus als ein alter Mann aus Grünwiesel, der ihm seine Einkäufe in Brot, Fleisch und Gemüse besorgen mußte. Doch auch dieser durfte nur in den Flur des Hauses kommen, und dort nahm der fremde Mann das Gekaufte in Empfang.

Groß war die Unruhe, die dieser Mann im Städtchen verursachte. Er kam nachmittags nicht wie andere Männer auf die Kegelbahn, er kam abends nicht ins Wirtshaus, um wie die übrigen bei einer Pfeife Tabak über die Zeitung zu sprechen. Umsonst lud ihn nach der Reihe der Bürgermeister, der Friedensrichter, der Doktor und der Oberpfarrer zum Essen oder Kaffee ein, er ließ sich immer entschuldigen. Daher hielten ihn einige für verrückt, andere für einen Juden, eine dritte Partei behauptete steif und fest, er sei ein Zauberer oder Hexenmeister. Als er schon acht oder zehn Jahre in unserer Stadt gelebt hatte, – er hieß immer noch »Der fremde Herr«.

Es begab sich aber eines Tages, daß Leute mit fremden Tieren in die Stadt kamen. Es ist dies hergelaufenes Gesindel, das ein Kamel hat, welches sich verbeugen kann, einen Bären, der tanzt, einige Hunde und Affen, die in menschlichen Kleidern komisch genug aussehen und allerlei Künste machen. Diese Leute durchziehen gewöhnlich die Stadt, halten an den Kreuzstraßen und Plätzen, machen mit einer kleinen Trommel und einer Pfeife eine übeltönende Musik, lassen ihre Truppe tanzen und springen, und sammeln dann in den Häusern Geld ein. Die Truppe aber, die sich diesmal in Grünwiesel sehen ließ, zeichnete sich durch einen ungeheuren Orang-Utan aus, der beinahe Menschengröße hatte, auf zwei Beinen ging und allerlei artige Künste zu machen verstand. Diese Hunds- und Affenkomödie kam auch vor das Haus des fremden Herrn. Er erschien, als die Trommel und Pfeife ertönte, von Anfang ganz unwillig hinter den dunkeln, vom Alter angelaufenen Fenstern. Bald aber wurde er freundlicher, schaute zu jedermanns Verwundern zum Fenster heraus und lachte herzlich über die Künste des Orang-Utans. Ja, er gab für den Spaß ein so großes Silberstück, daß die ganze Stadt davon sprach.

Am anderen Morgen zog die Tierbande weiter. Das Kamel mußte viele Körbe tragen, in welchem die Hunde und Affen ganz bequem saßen, die Tiertreiber aber und der große Affe gingen hinter dem Kamel. Kaum aber waren sie einige Stunden zum Tore hinaus, so schickte der fremde Herr auf die Post, verlangte zu großer Verwunderung des Postmeisters einen Wagen und Extrapost und fuhr zu demselben Tor hinaus, den Weg hin, den die Tiere genommen hatten. Das ganze Städtchen ärgerte sich, daß man nicht erfahren konnte, wohin er gereist sei. Es war schon Nacht, als der fremde Herr wieder im Wagen vor dem Tor ankam. Es saß aber noch eine Person im Wagen, die den Hut tief ins Gesicht gedrückt und um Mund und Ohren ein seidenes Tuch gebunden hatte. Der Torschreiber hielt es für seine Pflicht, den anderen Fremden anzureden und um seinen Paß zu bitten; er antwortete aber sehr grob, indem er in einer ganz unverständlichen Sprache brummte.

»Es ist mein Neffe,« sagte der fremde Mann freundlich zum Torschreiber, indem er ihm einige Silbermünzen in die Hand drückte; »es ist mein Neffe und versteht bis dato noch wenig deutsch. Er hat soeben in seiner Mundart ein wenig geflucht, daß wir hier aufgehalten werden.«

»Ei, wenn es dero Neffe ist,« antwortete der Torschreiber, »so kann er wohl ohne Paß hereinkommen. Er wird wohl ohne Zweifel bei Ihnen wohnen?«

»Allerdings,« sagte der Fremde, »und hält sich wahrscheinlich längere Zeit hier auf.«

Der Torschreiber hatte keine weitere Einwendung mehr, und der fremde Herr und sein Neffe fuhren ins Städtchen. Der Bürgermeister und die ganze Stadt war übrigens nicht sehr zufrieden mit dem Torschreiber. Er hätte doch wenigstens einige Worte von der Sprache des Neffen sich merken sollen. Daraus hätte man dann leicht erfahren, was für ein Landeskind er und der Onkel wäre. Der Torschreiber versicherte aber, daß es weder französisch noch italienisch sei, wohl aber habe es so breit geklungen wie englisch, und wenn er nicht irre, so habe der junge Herr gesagt: »God dam!« So half der Torschreiber sich selbst aus der Not und dem jungen Mann zu einem Namen. Denn man sprach im Städtchen jetzt nur von dem jungen Engländer.

Aber auch der junge Engländer wurde nicht sichtbar, weder auf der Kegelbahn noch im Bierkeller; wohl aber gab er den Leuten auf andere Weise viel zu schaffen. – Es begab sich nämlich oft, daß in dem sonst so stillen Hause des Fremden ein schreckliches Geschrei und ein Lärm ausging, daß die Leute haufenweise vor dem Hause stehen blieben und hinaufsahen. Man sah den jungen Engländer, angetan mit einem roten Frack und grünen Beinkleidern, mit struppigem Haar und schrecklicher Miene, unglaublich schnell an den Fenstern hin und her durch alle Zimmer laufen; der alte Fremde lief ihm in einem roten Schlafrock, einer Hetzpeitsche in der Hand, nach, verfehlte ihn oft, aber einigemal kam es doch der Menge auf der Straße vor, als müsse er den Jungen erreicht haben; denn man hörte klägliche Angsttöne und klatschende Peitschenhiebe. An dieser grausamen Behandlung des fremden jungen Mannes nahmen die Frauen des Städtchens so lebhaften Anteil, daß sie endlich den Bürgermeister bewogen, einen Schritt in der Sache zu tun. Er schrieb dem fremden Herrn ein Billett, worin er ihm die unglimpfliche Behandlung seines Neffen in ziemlich derben Ausdrücken vorwarf und ihm drohte, wenn noch ferner solche Szenen vorfielen, den jungen Mann unter seinen besonderen Schutz zu nehmen.

Wer aber war mehr erstaunt als der Bürgermeister, wie er den Fremden selbst, zum erstenmal seit zehn Jahren, bei sich eintreten sah! Der alte Herr entschuldigte sein Verfahren mit dem besonderen Auftrag der Eltern des Jünglings, die ihm solchen zu erziehen gegeben; er sei sonst ein kluger, anstelliger Junge, äußerte er, aber die Sprachen erlerne er sehr schwer; er wünsche so sehnlich, seinem Neffen das Deutsche recht geläufig beizubringen, um sich nachher die Freiheit zu nehmen, ihn in die Gesellschaften von Grünwiesel einzuführen, und dennoch gehe demselben diese Sprache so schwer ein, daß man oft nichts Besseres tun könne, als ihn gehörig durchzupeitschen. Der Bürgermeister fand sich durch diese Mitteilung völlig befriedigt, riet dem Alten zur Mäßigung und erzählte abends im Bierkeller, daß er selten einen so unterrichteten, artigen Menschen gefunden wie den Fremden: »Es ist nur schade,« setzte er hinzu, »daß er so wenig in Gesellschaft kommt; doch ich denke, wenn der Neffe nur erst ein wenig Deutsch spricht, besucht er meine Cercles öfter.«

Durch diesen einzigen Vorfall war die Meinung des Städtchens völlig umgeändert. Man hielt den Fremden für einen artigen Mann, sehnte sich nach seiner näheren Bekanntschaft und fand es ganz in der Ordnung, wenn hie und da in dem öden Hause ein gräßliches Geschrei aufging; »er gibt dem Neffen Unterricht in der deutschen Sprache,« sagten die Grünwieseler und blieben nicht mehr stehen.

Nach einem Vierteljahr ungefähr schien der Unterricht im Deutschen beendigt; denn der Alte ging jetzt um eine Stufe weiter vor. Es lebte ein alter gebrechlicher Franzose in der Stadt, der den jungen Leuten Unterricht im Tanzen gab; diesen ließ der Fremde zu sich rufen und sagte ihm, daß er seinen Neffen im Tanzen unterrichten lassen wolle. Er gab ihm zu verstehen, daß derselbe zwar sehr gelehrig, aber, was das Tanzen betreffe, etwas eigensinnig sei; er habe nämlich früher bei einem anderen Meister tanzen gelernt, und zwar nach so sonderbaren Touren, daß er sich füglich nicht in der Gesellschaft produzieren könne; der Neffe halte sich aber eben deswegen für einen großen Tänzer, obgleich sein Tanz nicht die entfernteste Ähnlichkeit mit Walzer oder Galopp, nicht einmal Ähnlichkeit mit Eccossaise oder Française habe. Er versprach übrigens einen Taler für die Stunde, und der Tanzmeister war mit Vergnügen bereit, den Unterricht des eigensinnigen Zöglings zu übernehmen.

Es gab, wie der Franzose unter der Hand versicherte, auf der Welt nichts so Sonderbares wie diese Tanzstunden. Der Neffe, ein ziemlich großer, schlanker junger Mann, der nur etwas sehr kurze Beine hatte, erschien in einem roten Frack, schon frisiert, in grünen, weiten Beinkleidern und glacierten Handschuhen. Er sprach wenig und mit fremdem Akzent, war von Anfang ziemlich artig und anstellig; dann verfiel er aber oft plötzlich in fratzenhafte Sprünge, tanzte die kühnsten Touren, wobei er Entrechats machte, daß dem Tanzmeister Hören und Sehen verging, wollte er ihn zurechtweisen, so zog er die zierlichen Tanzschuhe von den Füßen, warf sie dem Franzosen an den Kopf und setzte nun auf allen vieren im Zimmer umher. Bei diesem Lärm fuhr dann der alte Herr plötzlich in einem weiten, roten Schlafrock, eine Mütze von Goldpapier auf dem Kopf, aus seinem Zimmer heraus und ließ die Hetzpeitsche ziemlich unsanft auf den Rücken des Neffen niederfallen. Der Neffe fing dann an schrecklich zu heulen, sprang auf Tische und hohe Kommoden, ja selbst an den Kreuzstöcken der Fenster hinauf und sprach eine fremde seltsame Sprache. Der Alte im roten Schlafrock aber ließ sich nicht irre machen, faßte ihn am Bein, riß ihn herab, bläute ihn durch und zog ihm mittels einer Schnalle die Halsbinde fester an, worauf er immer wieder artig und manierlich wurde, und die Tanzstunde ohne Störung weiterging.

Als aber der Tanzmeister seinen Zögling so weit gebracht hatte, daß man Musik zu der Stunde nehmen konnte, da war der Neffe wie umgewandelt. Ein Stadtmusikant wurde gemietet, der im Saal des öden Hauses auf einen Tisch sich setzen mußte. Der Tanzmeister stellte dann die Dame vor, indem ihm der alte Herr einen Frauenrock von Seide und einen ostindischen Schal anziehen ließ; der Neffe forderte ihn auf und fing nun an mit ihm zu tanzen und zu walzen; er aber war ein unermüdlicher, rasender Tänzer, er ließ den Meister nicht aus seinen langen Armen, ob er ächzte und schrie, er mußte tanzen, bis er ermattet umsank, oder bis dem Stadtmusikus der Arm lahm wurde an der Geige. Den Tanzmeister brachten diese Unterrichtsstunden beinahe unter den Boden, aber der Taler, den er jedesmal richtig ausgezahlt bekam, der gute Wein, den er Alte aufwartete, machte, daß er immer wiederkam, wenn er auch den Tag zuvor sich fest vorgenommen hatte, nicht mehr in das öde Haus zu gehen.

Die Leute in Grünwiesel sahen aber die Sache ganz anders an als der Franzose. Sie fanden, daß der junge Mann viel Anlagen zum Gesellschaftlichen habe, und die Frauenzimmer im Städtchen freuten sich, bei dem großen Mangel an Herren, einen so flinken Tänzer für den nächsten Winter zu bekommen.

Eines Morgens berichteten die Mägde, die vom Markte heimkehrten, ihren Herrschaften ein wunderbares Ereignis. Vor dem öden Hause sei ein prächtiger Glaswagen gestanden, mit schönen Pferden bespannt, und ein Bedienter in reicher Livree habe den Schlag gehalten. Da sei die Türe des öden Hauses aufgegangen und zwei schön gekleidete Herren herausgetreten, wovon der eine der alte Fremde und der andere wahrscheinlich der junge Herr gewesen, der so schwer Deutsch gelernt und so rasend tanze. Die beiden seien in den Wagen gestiegen, der Bediente hinten aufs Brett gesprungen, und der Wagen, man stelle sich vor! sei geradezu auf Bürgermeisters Haus zugefahren.

Als die Frauen solches von ihren Mägden erzählen hörten, rissen sie eilends die Küchenschürzen und die etwas unsauberen Hauben ab und versetzten sich in Staat. »Es ist nichts gewisser,« sagten sie zu ihrer Familie, indem alles umherrannte, um das Besuchszimmer, das zugleich zu sonstigem Gebrauch diente, aufzuräumen; »es ist nichts gewisser, als daß der Fremde jetzt seinen Neffen in die Welt einführt. Der alte Narr war seit zehn Jahren nicht so artig, einen Fuß in unser Haus zu setzen, aber es sei ihm wegen des Neffen verziehen, der ein scharmanter Mensch sein soll.« So sprachen sie und ermahnten ihre Söhne und Töchter, recht manierlich auszusehen, wenn die Fremden kämen, sich gerade zu halten und sich auch einer bessern Aussprache zu bedienen als gewöhnlich. Und die klugen Frauen im Städtchen hatten nicht unrecht geraten; denn nach der Reihe fuhr der alte Herr mit seinem Neffen umher, sich und ihn in die Gewogenheit der Familien zu empfehlen.

Man war überall ganz erfüllt von den beiden Fremden und bedauerte, nicht schon früher diese angenehme Bekanntschaft gemacht zu haben. Der alte Herr zeigte sich als einen würdigen, sehr vernünftigen Mann, der zwar bei allem, was er sagte, ein wenig lächelte, so daß man nicht gewiß war, ob es ihm Ernst sei oder nicht, aber er sprach über das Wetter, über die Gegend, über das Sommervergnügen auf dem Keller am Berge so klug und durchdacht, daß jedermann davon bezaubert war. Aber der Neffe! Er bezauberte alles, er gewann alle Herzen für sich. Man konnte zwar, was sein Äußeres betraf, sein Gesicht nicht schön nennen; der untere Teil, besonders die Kinnlade, stand allzu sehr hervor, und der Teint war sehr bräunlich, auch machte er zuweilen allerlei sonderbare Grimassen, drückte die Augen zu und fletschte mit den Zähnen, aber dennoch fand man den Schnitt seiner Züge ungemein interessant. Es konnte nichts Beweglicheres, Gewandteres geben als seine Gestalt. Die Kleider hingen ihm zwar etwas sonderbar am Leib, aber es stand ihm alles trefflich; er fuhr mit großer Lebendigkeit im Zimmer umher, warf sich hier in ein Sofa, dort in einen Lehnstuhl und streckte die Beine von sich; aber was man bei einem anderen jungen Mann höchst gemein und unschicklich gefunden hätte, galt bei dem Neffen für Genialität. »Er ist ein Engländer,« sagte man, »so sind sie alle; ein Engländer kann sich aufs Kanapee legen und einschlafen, während zehn Damen keinen Platz haben und umherstehen müssen; einem Engländer kann man so etwas nicht übelnehmen. Gegen den alten Herrn, seinen Oheim, war er sehr fügsam; denn wenn er anfing, im Zimmer umherzuhüpfen oder, wie er gerne tat, die Füße auf den Sessel hinaufzuziehen, so reichte ein ernsthafter Blick hin, ihn zur Ordnung zu bringen. Und wie konnte man ihm so etwas übelnehmen, als vollends der Onkel in jedem Haus zu der Dame sagte: »Mein Neffe ist noch ein wenig roh und ungebildet, aber ich verspreche mir viel von der Gesellschaft, die wird ihn gehörig formen und bilden, und ich empfehle ihn namentlich Ihnen aufs angelegenste.«

So war der Neffe also in die Welt eingeführt, und ganz Grünwiesel sprach an diesem und den folgenden Tagen von nichts anderem als von diesem Ereignis. Der alte Herr blieb aber dabei nicht stehen; er schien seine Denk- und Lebensart gänzlich geändert zu haben. Nachmittags ging er mit dem Neffen hinaus in den Felsenkeller am Berg, wo die vornehmen Herren von Grünwiesel Bier tranken und sich am Kegelschieben ergötzten. Der Neffe zeigte sich dort als einen flinken Meister im Spiel; denn er warf nie unter fünf oder sechs; hie und da schien zwar ein sonderbarer Geist über ihn zu kommen; es konnte ihm einfallen, daß er pfeilschnell mit der Kugel hinaus und unter die Kegel hinein fuhr und dort allerhand tollen Rumor anrichtete, oder wenn er den Kranz oder den König geworfen, stand er plötzlich auf seinem schön frisierten Haar und streckte die Beine in die Höhe, oder wenn ein Wagen vorbeifuhr, saß er, ehe man sich dessen versah, oben auf dem Kutschenhimmel und machte Grimassen herab, fuhr ein Stückchen weit mit und kam dann wieder zur Gesellschaft gesprungen.

Der alte Herr pflegte dann bei solchen Szenen den Bürgermeister und die anderen Männer sehr um Entschuldigung zu bitten wegen der Ungezogenheit seines Neffen; sie aber lachten, schrieben es seiner Jugend zu, behaupteten, in diesem Alter selbst so leichtfüßig gewesen zu sein, und liebten den jungen Springinsfeld, wie sie ihn nannten, ungemein.

Es gab aber auch Zeiten, wo sie sich nicht wenig über ihn ärgerten und dennoch nichts zu sagen wagten, weil der junge Engländer allgemein als ein Muster von Bildung und Verstand galt. Der alte Herr pflegte nämlich mit seinem Neffen auch abends in den Goldenen Hirsch, das Wirtshaus des Städtchens, zu kommen. Obgleich der Neffe noch ein ganz junger Mensch war, tat er doch schon ganz wie ein alter, setzte sich hinter sein Glas, tat eine ungeheure Brille auf, zog eine gewaltige Pfeife heraus, zündete sie an und dampfte unter allen am ärgsten. Wurde nun über die Zeitungen, über Krieg und Frieden gesprochen, gab der Doktor die Meinung, der Bürgermeister jene, waren die anderen Herren ganz erstaunt über so tiefe politische Kenntnisse, so konnte es dem Neffen plötzlich einfallen, ganz anderer Meinung zu sein; er schlug dann mit der Hand, von welcher er nie die Handschuhe ablegte, auf den Tisch, und gab dem Bürgermeister und dem Doktor nicht undeutlich zu verstehen, daß sie von diesem allem nichts genau wüßten, daß er diese Sachen ganz anders gehört habe und tiefere Einsicht besitze. Er gab dann in einem sonderbar gebrochenen Deutsch seine Meinung preis, die alle, zum großen Ärgernis des Bürgermeisters, ganz trefflich fanden; denn er mußte als Engländer natürlich alles besser wissen.

Setzten sich dann der Bürgermeister und der Doktor in ihrem Zorn, den sie nicht laut werden lassen durften, zu einer Partie Schach, so rückte der Neffe hinzu, schaute dem Bürgermeister mit seiner großen Brille über die Schulter herein und tadelte diesen oder jenen Zug, sagte dem Doktor, so und so müsse er ziehen, so daß beide Männer heimlich ganz grimmig wurden. Bot ihm dann der Bürgermeister ärgerlich eine Partie an, um ihn gehörig matt zu machen, denn er hielt sich für einen zweiten Philidor, so schnallte der alte Herr dem Neffen die Halsbinde fester zu, worauf dieser ganz artig und manierlich wurde und den Bürgermeister matt machte.

Man hatte bisher in Grünwiesel beinahe jeden Abend Karten gespielt, die Partie um einen halben Kreuzer; das fand nun der Neffe erbärmlich, setzte Kronentaler und Dukaten, behauptete, kein einziger spiele so fein wie er, söhnte aber die beleidigten Herren gewöhnlich dadurch wieder aus, daß er ungeheure Summen an sie verlor. Sie machten sich auch gar kein Gewissen daraus, ihm recht viel Geld abzunehmen; denn »er ist ja ein Engländer, also von Hause aus reich,« sagten sie und schoben die Dukaten in die Tasche.

So kam der Neffe des fremden Herrn in kurzer Zeit bei Stadt und Umgegend in ungemeines Ansehen. Man konnte sich seit Menschengedenken nicht erinnern, einen jungen Mann dieser Art in Grünwiesel gesehen zu haben, und es war die sonderbarste Erscheinung, die man je bemerkt. Man konnte nicht sagen, daß der Neffe irgend etwas gelernt hätte, als etwa tanzen. Latein und Griechisch waren ihm, wie man zu sagen pflegt, böhmische Dörfer. Bei einem Gesellschaftsspiel in Bürgermeisters Hause sollte er etwas schreiben, und es fand sich, daß er nicht einmal seinen Namen schreiben konnte; in der Geographie machte er die auffallendsten Schnitzer; denn es kam ihm nicht darauf an, eine deutsche Stadt nach Frankreich, oder eine dänische nach Polen zu versetzen, er hatte nichts gelesen, nichts studiert, und der Oberpfarrer schüttelte oft bedenklich den Kopf über die rohe Unwissenheit des jungen Mannes; aber dennoch fand man alles trefflich, was er tat oder sagte; denn er war so unverschämt, immer recht haben zu wollen, und das Ende jeder seiner Reden war: »Ich verstehe das besser!«

*

So kam der Winter heran, und jetzt trat der Neffe mit noch größerer Glorie auf. Man fand jede Gesellschaft langweilig, wo nicht er zugegen war, man gähnte, wenn ein vernünftiger Mann etwas sagte; wann aber der Neffe selbst das törichtste Zeug in schlechtem Deutsch vorbrachte, war alles Ohr. Es fand sich jetzt, daß der treffliche junge Mann auch ein Dichter war; denn nicht leicht verging ein Abend, an welchem er nicht einiges Papier aus der Tasche zog und der Gesellschaft einige Sonette vorlas. Es gab zwar einige Leute, die von dem einen Teil dieser Dichtungen behaupteten, sie seien schlecht und ohne Sinn, einen anderen Teil wollten sie schon irgendwo gedruckt gelesen haben; aber der Neffe ließ sich nicht irre machen, er las und las, machte dann auf die Schönheiten seiner Verse aufmerksam, und jedesmal erfolgte rauschender Beifall.

Sein Triumph aber waren die Grünwieseler Bälle. Es konnte niemand anhaltender, schneller tanzen als er, keiner machte so kühne und ungemein zierliche Sprünge wie er. Dabei kleidete ihn sein Onkel immer aufs prächtigste nach dem neuesten Geschmack, und obgleich ihm die Kleider nicht recht am Leibe sitzen wollten, fand man dennoch, daß ihn alles allerliebst kleide. Die Männer fanden sich zwar bei diesen Tänzen etwas beleidigt durch die neue Art, womit er auftrat. Sonst hatte immer der Bürgermeister in eigener Person den Ball eröffnet, die vornehmsten jungen Leute hatten das Recht, die übrigen Tänze anzuordnen, aber seit der fremde junge Herr erschien, war dies alles ganz anders. Ohne viel zu fragen, nahm er die nächste beste Dame bei der Hand, stellte sich mit ihr oben an, machte alles, wie es ihm gefiel, und war Herr und Meister und Ballkönig. Weil aber die Frauen diese Manieren ganz trefflich und angenehm fanden, so durften die Männer nichts dagegen einwenden, und der Neffe blieb bei seiner selbstgewählten Würde.

Das größte Vergnügen schien ein solcher Ball dem alten Herrn zu gewähren; er verwandte kein Auge von seinem Neffen, lächelte immer in sich hinein, und wenn alle Welt herbeiströmte, um ihm über den anständigen, wohlerzogenen Jüngling Lobsprüche zu erteilen, so konnte er sich vor Freude gar nicht fassen, er brach dann in ein lustiges Gelächter aus und bezeigte sich wie närrisch; die Grünwieseler schrieben diese sonderbaren Ausbrüche der Freude seiner großen Liebe zu dem Neffen zu und fanden es ganz in der Ordnung. Doch hie und da mußte er auch sein väterliches Ansehen gegen den Neffen anwenden; denn mitten in den zierlichsten Tänzen konnte es dem jungen Mann einfallen, mit einem kühnen Sprung auf die Tribüne, wo die Stadtmusikanten saßen, zu setzen, dem Organisten den Kontrabaß aus der Hand zu reißen und schrecklich darauf herumzukratzen; oder er wechselte auf einmal und tanzte auf den Händen, indem er die Beine in die Höhe streckte. Dann pflegte ihn der Onkel auf die Seite zu nehmen, machte ihm dort ernstliche Vorwürfe und zog ihm die Halsbinde fester an, daß er wieder ganz gesittet wurde.

So betrug sich nun der Neffe in Gesellschaft und auf Bällen. Wie es aber mit den Sitten zu geschehen pflegt, die schlechten verbreiten sich immer leichter als die guten, und eine neue, auffallende Mode, wenn sie auch höchst lächerlich sein sollte, hat etwas ansteckendes an sich für junge Leute, die noch nicht über sich selbst und die Welt nachgedacht haben. So war es auch in Grünwiesel mit dem Neffen und seinen sonderbaren Sitten. Als nämlich die junge Welt sah, wie derselbe mit seinem linkischen Wesen, mit seinem rohen Lachen und Schwatzen, mit seinen groben Antworten gegen Ältere eher geschätzt als getadelt werde, daß man dies alles sogar sehr geistreich finde, so dachten sie bei sich: »Es ist mir ein leichtes, auch solch ein geistreicher Schlingel zu werden.« Sie waren sonst fleißige, geschickte junge Leute gewesen; jetzt dachten sie: »Zu was hilft Gelehrsamkeit, wenn man mit Unwissenheit besser fortkommt?« Sie ließen die Bücher liegen und trieben sich überall umher auf Plätzen und Straßen. Sonst waren sie artig gewesen und höflich gegen jedermann, hatten gewartet, bis man sie fragte, und anständig und bescheiden geantwortet; jetzt standen sie in den Reihen der Männer, schwatzten mit, gaben ihre Meinung preis, und lachten selbst dem Bürgermeister unter die Nase, wenn er etwas sagte, und behaupteten, alles viel besser zu wissen.

Sonst hatten die jungen Grünwieseler Abscheu gehegt gegen rohes und gemeines Wesen. Jetzt sangen sie allerlei schlechte Lieder, rauchten aus ungeheuren Pfeifen Tabak und trieben sich in gemeinen Kneipen umher; auch kauften sie sich, obgleich sie ganz gut sahen, große Brillen, setzten solche auf die Nase und glaubten nun gemachte Leute zu sein; denn sie sahen ja aus wie der berühmte Neffe. Zu Hause, oder wenn sie auf Besuch waren, lagen sie mit Stiefel und Sporen auf dem Kanapee, schaukelten sich auf dem Stuhl in guter Gesellschaft, oder stützten die Wangen in beide Fäuste, die Ellbogen aber auf den Tisch, was nun überaus reizend anzusehen war. Umsonst sagten ihnen ihre Mütter und Freunde, wie töricht, wie ungeschickt dies alles sei, sie beriefen sich auf das glänzende Beispiel des Neffen. Umsonst stellte man ihnen vor, daß man dem Neffen, als einem jungen Engländer, eine gewisse Nationalroheit verzeihen müsse, die jungen Grünwieseler behaupteten, ebensogut wie der beste Engländer das Recht zu haben, auf geistreiche Weise ungezogen zu sein; kurz, es war ein Jammer, wie durch das böse Beispiel des Neffen die Sitten und guten Gewohnheiten in Grünwiesel völlig untergingen.

Aber die Freude der jungen Leute an ihrem rohen, ungebundenen Leben dauerte nicht lange; denn folgender Vorfall veränderte auf einmal die ganze Szene. Die Wintervergnügungen sollte ein großes Konzert beschließen, das teils von den Stadtmusikanten, teils von geschickten Musikfreunden in Grünwiesel aufgeführt werden sollte. Der Bürgermeister spielte das Violoncell, der Doktor das Fagott ganz vortrefflich, der Apotheker, obgleich er keinen rechten Ansatz hatte, blies die Flöte, einige Jungfrauen aus Grünwiesel hatten Arien einstudiert, und alles war trefflich vorbereitet. Da äußerte der alte Fremde, daß zwar das Konzert auf diese Art trefflich werden würde, es fehle aber offenbar an einem Duett, und ein Duett müsse in jedem ordentlichen Konzert notwendigerweise vorkommen. Man war etwas betreten über diese Äußerung; die Tochter des Bürgermeisters sang zwar wie eine Nachtigall, aber wo einen Herrn herbekommen, der mit ihr ein Duett singen könnte? Man wollte endlich auf den alten Organisten verfallen, der einst einen trefflichen Baß gesungen hatte; der Fremde aber behauptete, dies alles sei nicht nötig, indem sein Neffe ganz ausgezeichnet singe. Man war nicht wenig erstaunt über diese neue treffliche Eigenschaft des jungen Mannes, er mußte zur Probe etwas singen, und einige sonderbare Manieren abgerechnet, die man für englisch hielt, sang er wie ein Engel. Man studierte also in der Eile das Duett ein, und der Abend erschien endlich, an welchem die Ohren der Grünwieseler durch das Konzert erquickt werden sollten.

Der alte Fremde konnte leider dem Triumph seines Neffen nicht beiwohnen, weil er krank war; er gab aber dem Bürgermeister, der ihn eine Stunde zuvor noch besuchte, einige Maßregeln über seinen Neffen auf. »Es ist eine gute Seele, mein Neffe,« sagte er, »aber hie und da verfällt er in allerlei sonderbare Gedanken und fängt dann tolles Zeug an; es ist mir eben deswegen leid, daß ich dem Konzert nicht beiwohnen kann; denn vor mir nimmt er sich gewaltig in acht, er weiß wohl warum! Ich muß übrigens zu seiner Ehre sagen, daß dies nicht geistiger Mutwillen ist, sondern es ist körperlich, es liegt in seiner ganzen Natur; wollten Sie nun, Herr Bürgermeister, wenn er etwa in solche Gedanken verfiele, daß er sich auf ein Notenpult setzte, oder daß er durchaus den Kontrabaß streichen wollte oder dergleichen, wollten Sie ihm dann nur seine hohe Halsbinde etwas lockerer machen, oder, wenn es auch dann nicht besser wird, ihm solche ganz ausziehen, Sie werden sehen, wie artig und manierlich er dann wird.«

Der Bürgermeister dankte dem Kranken für sein Zutrauen und versprach, im Falle der Not also zu tun, wie er ihm geraten.

Der Konzertsaal war gedrängt voll; denn ganz Grünwiesel und die Umgegend hatte sich eingefunden. Alle Jäger, Pfarrer, Amtleute, Landwirte und dergleichen aus dem Umkreis von drei Stunden waren mit zahlreicher Familie herbeigeströmt, um den seltenen Genuß mit den Grünwieselern zu teilen. Die Stadtmusikanten hielten sich vortrefflich, nach ihnen trat der Bürgermeister auf, der das Violoncell spielte, begleitet vom Apotheker, der die Flöte blies; nach diesen sang der Organist eine Baßarie mit allgemeinem Beifall, und auch der Doktor wurde nicht wenig beklatscht, als er auf dem Fagott sich hören ließ.

Die erste Abteilung des Konzerts war vorbei, und jedermann war nun auf die zweite gespannt, in welcher der junge Fremde mit des Bürgermeisters Tochter ein Duett vortragen sollte. Der Neffe war in einem glänzenden Anzug erschienen und hatte schon längst die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich gezogen. Er hatte sich nämlich, ohne viel zu fragen, in den prächtigen Lehnstuhl gelegt, der für eine Gräfin aus der Nachbarschaft hergesetzt worden war; er streckte die Beine weit von sich, schaute jedermann durch ein ungeheures Perspektiv an, das er noch außer seiner großen Brille gebrauchte, und spielte mit einem großen Fleischerhund, den er, trotz des Verbotes, Hunde mitzunehmen, in die Gesellschaft eingeführt hatte. Die Gräfin, für welche der Lehnstuhl bereitet war, erschien, aber wer keine Miene machte, aufzustehen und ihr den Platz einzuräumen, war der Neffe; er setzte sich im Gegenteil noch bequemer hinein, und niemand wagte es, dem jungen Mann etwas darüber zu sagen; die vornehme Dame aber mußte auf dem ganz gemeinen Strohsessel mitten unter den übrigen Frauen des Städtchens sitzen und soll sich nicht wenig geärgert haben.

Während des herrlichen Spieles des Bürgermeisters, während des Organisten trefflicher Baßarie, ja sogar während der Doktor auf dem Fagott phantasierte und alles den Atem anhielt und lauschte, ließ der Neffe den Hund das Schnupftuch apportieren oder schwatzte ganz laut mit seinen Nachbarn, so daß jedermann, der ihn nicht kannte, über die absonderlichen Sitten des jungen Herrn sich wunderte.

Kein Wunder daher, daß alles sehr begierig war, wie er sein Duett vortragen würde. Die zweite Abteilung begann; die Stadtmusikanten hatten etwas Weniges aufgespielt, und nun trat der Bürgermeister mit seiner Tochter zu dem jungen Mann, überreichte ihm ein Notenblatt und sprach: »Mosjöh! wäre es Ihnen jetzt gefällig, das Duetto zu singen?« Der junge Mann lachte, fletschte mit den Zähnen, sprang auf, und die beiden anderen folgten ihm an das Notenpult, und die ganze Gesellschaft war voll Erwartung. Der Organist schlug den Takt und winkte dem Neffen, anzufangen. Dieser schaute durch seine großen Brillengläser in die Noten und stieß greuliche, jämmerliche Töne aus. Der Organist aber schrie ihm zu: »Zwei Töne tiefer, Wertester, C müssen Sie singen, C!«

Statt aber C zu singen, zog der Neffe einen seiner Schuhe ab und warf ihn dem Organisten an den Kopf, daß der Puder weit umherflog. Als dies der Bürgermeister sah, dachte er: »Ha! jetzt hat er wieder seine körperlichen Zufälle,« sprang hinzu, packte ihn am Hals und band ihm das Tuch etwas leichter; aber dadurch wurde es nur noch schlimmer mit dem jungen Mann. Er sprach nicht mehr deutsch, sondern eine ganz sonderbare Sprache, die niemand verstand, und machte große Sprünge. Der Bürgermeister war in Verzweiflung über diese unangenehme Störung, er faßte daher den Entschluß, dem jungen Mann, dem etwas ganz Besonderes zugestoßen sein mußte, das Halstuch vollends abzulösen. Aber kaum hatte er dies getan, so blieb er vor Schrecken wie erstarrt stehen. Denn statt menschlicher Haut und Farbe umgab den Hals des jungen Menschen ein dunkelbraunes Fell, und alsobald setzte derselbe auch seine Sprünge noch höher und sonderbarer fort, fuhr sich mit den glacierten Handschuhen in die Haare, zog diese ab, und, o Wunder! diese schönen Haare waren eine Perücke, die er dem Bürgermeister ins Gesicht warf, und sein Kopf erschien jetzt mit demselben braunen Fell bewachsen.

Er setzte über Tische und Bänke, warf die Notenpulte um, zertrat Geigen und Klarinetten und erschien wie ein Rasender. »Fangt ihn, fangt ihn,« rief der Bürgermeister ganz außer sich, »er ist von Sinnen, fangt ihn!« Das war aber eine schwierige Sache; denn er hatte die Handschuhe abgezogen und zeigte Nägel an den Händen, mit welchen er den Leuten ins Gesicht fuhr und sie jämmerlich kratzte. Endlich gelang es einem mutigen Jäger, seiner habhaft zu werden. Er preßte ihm die langen Arme zusammen, daß er nur noch mit den Füßen zappelte und mit heiserer Stimme lachte und schrie. Die Leute sammelten sich umher und betrachteten den sonderbaren jungen Herrn, der jetzt gar nicht mehr aussah wie ein Mensch. Aber ein gelehrter Herr aus der Nachbarschaft, der ein großes Naturalienkabinett und allerlei ausgestopfte Tiere besaß, trat näher, betrachtete ihn genau und rief dann voll Verwunderung: »Mein Gott, verehrte Herren und Damen, wie bringen Sie nur dies Tier in honette Gesellschaft? Das ist ja ein Affe, der Homo Troglodytes Linnaei, ich gebe sogleich sechs Taler für ihn, wenn Sie mir ihn ablassen, und bälge ihn aus für mein Kabinett.«

Wer beschreibt das Erstaunen der Grünwieseler, als sie dies hörten! »Was, ein Affe, ein Orang-Utan in unserer Gesellschaft? Der junge Fremde ein ganz gewöhnlicher Affe!« riefen sie, und sahen einander ganz dumm vor Verwunderung an. Man wollte nicht glauben, man traute seinen Ohren nicht, die Männer untersuchten das Tier genauer, aber es war und blieb ein ganz natürlicher Affe.

»Aber wie ist dies möglich!« rief die Frau Bürgermeisterin, »hat er mir nicht oft seine Gedichte vorgelesen? Hat er nicht wie ein anderer Mensch bei mir zu Mittag gespeist?«

»Was?« eiferte die Frau Doktorin. »Wie? Hat er nicht oft und viel den Kaffee bei mir getrunken und mit meinem Manne gelehrt gesprochen und geraucht?«

»Wie! ist es möglich!« riefen die Männer. »Hat er nicht mit uns am Felsenkeller Kugeln geschoben und über Politik gestritten wie unsereiner?«

»Und wie?« klagten sie alle, »hat er nicht sogar vorgetanzt auf unseren Bällen? Ein Affe! ein Affe? Es ist ein Wunder, es ist Zauberei!«

»Ja, es ist Zauberei und teuflischer Spuk,« sagte der Bürgermeister, indem er das Halstuch des Neffen oder Affen herbeibrachte. »Seht! In diesem Tuche steckte der ganze Zauber, der ihn in unseren Augen liebenswürdig machte. Da ist ein breiter Streifen elastischen Pergaments, mit allerlei wunderlichen Zeichen beschrieben. Ich glaube gar, es ist Lateinisch; kann es niemand lesen?«

Der Oberpfarrer, ein gelehrter Mann, der oft an den Affen eine Partie Schach verloren hatte, trat hinzu, betrachtete das Pergament und sprach: »Mitnichten! Es sind nur lateinische Buchstaben, es heißt:

Der . Affe . sehr . possierlich . ist .
zumal . wenn . er . vom . Apfel . frisst.

Ja, ja, es ist höllischer Betrug, eine Art von Zauberei,« fuhr er fort, »und es muß exemplarisch bestraft werden.«

Der Bürgermeister war derselben Meinung und machte sich sogleich auf den Weg zu dem Fremden, der ein Zauberer sein mußte, und sechs Stadtsoldaten trugen den Affen, denn der Fremde sollte sogleich ins Verhör genommen werden.

Sie kamen, umgeben von einer ungeheuren Anzahl Menschen, an das öde Haus; denn jedermann wollte sehen, wie sich die Sache weiter begeben würde. Man pochte an das Haus, man zog die Glocke, aber vergeblich, es zeigte sich niemand. Da ließ der Bürgermeister in seiner Wut die Türe einschlagen und begab sich hierauf in das Zimmer des Fremden. Aber dort war nichts zu sehen als allerlei alter Hausrat. Der fremde Mann war nicht zu finden. Auf seinem Arbeitstisch aber lag ein großer versiegelter Brief, an den Bürgermeister überschrieben, den dieser auch sogleich öffnete. Er las:

 

»Meine lieben Grünwieseler!

Wenn ihr dies leset, bin ich nicht mehr in eurem Städtchen, und ihr werdet dann längst erfahren haben, wes Standes und Vaterlandes mein lieber Neffe ist. Nehmet den Scherz, den ich mir mit euch erlaubte, als eine gute Lehre auf, einen Fremden, der für sich leben will, nicht in eure Gesellschaft zu nötigen. Ich selbst fühlte mich zu gut, um euer ewiges Klatschen, um eure schlechten Sitten und euer lächerliches Wesen zu teilen. Darum erzog ich einen jungen Orang-Utan, den ihr als meinen Stellvertreter so lieb gewonnen habt. Lebet wohl und benutzet diese Lehre nach Kräften.«

Die Grünwieseler schämten sich nicht wenig vor dem ganzen Land. Ihr Trost war, daß dies alles mit unnatürlichen Dingen zugegangen war. Am meisten schämten sich aber die jungen Leute in Grünwiesel, weil sie die schlechten Gewohnheiten und Sitten des Affen nachgeahmt hatten. Sie stemmten von jetzt an keinen Ellbogen mehr auf, sie schaukelten nicht mit dem Sessel, sie schwiegen, bis sie gefragt wurden, sie legten die Brillen ab und waren artig und gesittet wie zuvor, und wenn je einer wieder in solche schlechte, lächerliche Sitten verfiel, so sagten die Grünwieseler: »Es ist ein Affe.« Der Affe aber, welcher so lange die Rolle eines jungen Herrn gespielt hatte, wurde dem gelehrten Mann, der ein Naturalienkabinett besaß, überantwortet. Dieser läßt ihn in seinem Hof umhergehen, füttert ihn und zeigt ihn als Seltenheit jedem Fremden, wo er noch bis auf den heutigen Tag zu sehen ist.

Der Bettler und sein Hund

Chamisso

Drei Thaler erlegen für meinen Hund!
So schlage das Wetter mich gleich in den Grund!
Was denken die Herrn von der Polizei?
Was soll nun wieder die Schinderei?

Ich bin ein alter, ein kranker Mann,
Der keinen Groschen verdienen kann;
Ich habe nicht Geld, ich habe nicht Brod,
Ich lebe ja nur von Hunger und Not.

Und wann ich erkrankt, und wann ich verarmt,
Wer hat sich da noch meiner erbarmt?
Wer hat, wann ich auf Gottes Welt
Allein mich fand, zu mir sich gesellt?

Wer hat mich geliebt, wann ich mich gehärmt,
Wer, wann ich fror, hat mich gewärmt?
Wer hat mit mir, wenn ich hungrig gemurrt,
Getrost gehungert und nicht geknurrt?

Es geht zur Neige mit uns zwein,
Es muß, mein Tier, geschieden sein;
Du bist, wie ich, nun alt und krank,
Ich soll dich ersäufen, das ist der Dank!

Das ist der Dank, das ist der Lohn!
Dir gehts, wie manchem Erdensohn.
Zum Teufel! ich war bei mancher Schlacht,
Den Henker hab ich noch nicht gemacht.

Das ist der Strick, das ist der Stein,
Das ist das Wasser, – es muß ja sein.
Komm her, du Köter, und sieh mich nicht an,
Noch nur ein Fußstoß, so ist es gethan.

Wie er in die Schlinge den Hals ihm gesteckt.
Hat wedelnd der Hund ihm die Hand geleckt,
Da zog er die Schlinge sogleich zurück.
Und warf sie schnell um sein eigen Genick.

siehe Bildunterschrift

Franz Krüger, Windhunde.

Und that einen Fluch, gar schauderhaft,
Und raffte zusammen die letzte Kraft,
Und stürzt' in die Flut sich, die tönend stieg,
In Kreise sich zog und über ihm schwieg.

Wohl sprang der Hund zur Rettung hinzu,
Wohl heult' er die Schiffer aus ihrer Ruh',
Wohl zog er sie winselnd und zerrend her,
Wie sie ihn fanden, da war er nicht mehr.

Er war verscharret in stiller Stund,
Es folgt ihm winselnd nur der Hund,
Der hat, wo den Leib die Erde deckt,
Sich hingestreckt und ist da verreckt.

Leda

A. W. Schlegel

Der Vogel Zeus, der Träger mächtiger Blitze,
Als ihn sein Fürst zum Raub auf Ida sandte,
Hielt er den Knaben, der sich zagend wandte,
Behutsam, daß ihn nicht die Klaue ritze.

Doch über Reiz und Anmut rollt in Hitze
Sein Auge hin; auch keinen Kuß entwandte
Der Schnabel, der nur blutige Taten kannte,
So trug er rasch ihn zum Olympschen Sitze.

Du aber, holder Schwan, du weißt die Gaben
Der Lieb in holder Schönheit Schoß zu pflücken,
Du willst nicht im Gesang; im Kusse sterben.

Nicht sterben, nein, nur lebend dich begraben
Im Wollusttaumel, und durch dies Entzücken
Unsterblichkeit, wenn sie nicht dein, erwerben.

Der weiße Hirsch

Ludwig Uhland

Es gingen drei Jäger wohl auf die Birsch,
Sie wollten erjagen den weißen Hirsch.
Sie legten sich unter den Tannenbaum;
Da hatten die drei einen seltsamen Traum.

    Der erste.
»Mir hat geträumt, ich klopf' auf den Busch,
Da rauschte der Hirsch heraus, husch, husch!«

    Der zweite.
»Und als er sprang mit der Hunde Geklaff,
Da brannt' ich ihn auf das Fell, piff, paff!«

    Der dritte.
»Und als ich den Hirsch an der Erde sah,
Da stieß ich lustig ins Horn, trara!«

So lagen sie da und sprachen, die drei,
Da rannte der weiße Hirsch vorbei.
Und eh' die drei Jäger ihn recht gesehn,
So war er davon über Tiefen und Höhn.
Husch, husch! piff, paff! trara!

Schöpfungslied

Heinrich Heine

Im Beginn schuf Gott die Sonne,
Dann die nächtlichen Gestirne;
Hierauf schuf er auch die Ochsen
Aus dem Schweiße seiner Stirne.

Später schuf er wilde Bestien,
Löwen mit den grimmen Tatzen;
Nach des Löwen Ebenbilde
Schuf er hübsche kleine Katzen.

Zur Bevölkerung der Wildnis
Ward hernach der Mensch erschaffen,
Nach des Menschen holdem Bildnis
Schuf er intressante Affen.

Satan sah dem zu und lachte:
»Ei, der Herr kopiert sich selber!
Nach dem Bilde seiner Ochsen
Macht er noch am Ende Kälber!«

 

Heinrich Heine, Das goldne Kalb

Doppelflöten, Hörner, Geigen
Spielen auf zum Götzenreigen,
Und es tanzen Jakob's Töchter
Um das goldne Kalb herum –
Brumm – brumm – brumm –
Paukenschläge und Gelächter!

Hochgeschürzt bis zu den Lenden
Und sich fassend an den Händen,
Jungfraun edelster Geschlechter
Kreisen wie ein Wirbelwind
Um das Rind –
Paukenschläge und Gelächter!

Aron selbst wird, fortgezogen
Von des Tanzes Wahnsinnwogen,
Und er selbst, der Glaubenswächter,
Tanzt im Hohenpriesterrock,
Wie ein Bock –
Paukenschläge und Gelächter!

Der Mäuseturm

August Kopisch

Am Mäuseturm, um Mitternacht,
Des Bischofs harter Geist erwacht:
Er flieht um die Zinnen im Höllenschein,
Und glühende Mäuslein hinter ihm drein!

Der Hungrigen hast du, Hatto, gelacht,
Die Scheuer Gottes zur Hölle gemacht:
Drum ward jedes Körnlein im Speicher dein
Verkehrt in ein nagendes Mäuselein!

Du flohst auf den Rhein, in den Inselturm,
Hinter dir rauschte der Mäusesturm!
Du schlossest den Turm mit eherner Tür
Sie nagten den Stein und drangen herfür:

Sie fraßen die Speise, die Lagerstatt,
Sie fraßen den Tisch dir und wurden nicht satt!
Sie fraßen dich selber zu Aller Graus,
Und nagten den Namen dein überall aus.

Fern rudern die Schiffer um Mitternacht,
Wenn schwirrend dein irrender Geist erwacht,
Er flieht um die Zinnen im Höllenschein,
Und glühende Mäuslein hinter ihm drein.

Der Laubfrosch

Friedrich Kind

Fallen die Blätter, entfärbt Herbststurm grünprangende Auen,
Berg ich mich, scheuend den Schnee, tief ins nächtige Grab;
Wehet des siegenden Frühlings Panier von den sprossenden Zweigen,
Komm ich wieder hervor, selbst ein sprossendes Blatt.

 

Friedrich Kind, Die brasilianische Spinne

Kannst du den Kolibri morden, du giftige Spinne Brasiliens,
Ist er nicht lieblich? Der Flur fliegendes Edelgestein?
»Das ist eitel Geschwätz! wer heißt ihn schweben und flattern,
Leuchten wie Iris' Gewand? – Spinnen sind ernsthaft und grau!«

Schwalbenmärchen

Ferdinand v. Freiligrath

Auf dem stillen schwülen Pfuhle
Tanzt die dumme Wasserspinn.
Unten auf kristallnem Stuhle
Thront die Unkenkönigin.

Von den edelsten Metallen
Hält ein Reif ihr Haupt umzogen,
Und wie Silberglocken schallen
Unkenstimmen durch die Wogen.

Denn der Lenz erschien, die Schollen
Sind zerflossen; Blüten zittern;
Dumpfe Frühlingsdonner rollen
Durch die Luft, schwarz von Gewittern.

Wasserlilienkelche fließen
Auf des Teiches dunklem Spiegel,
Und die ersten Schwalben schießen
Drüberhin mit schnellem Flügel.

Aus den zarten Schnäbeln leise
Tönt Gezwitscher in die Wellen:
»Viele Grüße von der Reise
Haben wir dir zu bestellen.

Lange waren wir in fremden
Sandbedeckten heißen Ländern,
Wo in weiten Kaftanhemden
Träge Turbanträger schlendern.

Purpurfarbne Wunderpflanzen
Dienten uns zu Meilenweisern;
Gelbe Mauren sahn wir tanzen
Nackt vor ihren Leinwandhäusern.

Lechzend auf dem warmen Sattel
Saß der Araber, der leichte,
Während Ziegenmilch und Dattel
Ihm aufs Pferd die Gattin reichte.

Auf die Jagd der Antilopen
Kriegerisch mit Spieß und Pfeile,
Zogen schlanke Äthiopen;
Klagend tönte Memnons Säule.

Aus des Niles Flut getrunken
Haben wir, matt von der Reise;
Gruß dir, Königin der Unken,
Von dem königlichen Greise!

Alles grüßt dich, Blumen, Blätter!
Doch zumeist der Grüße viele
Bringen wir von deinem Vetter,
Von dem Krokodil im Nile!«

Auf meinen ausgebälgten Geier

Lenau

 

I.

Du stehst so still und ernst, mein ausgebälgter Geier,
Ich bringe dir ein Lied mit meiner ernsten Leier.
Zwar hörst du nichts davon, dir geht mein Gruß verloren;
Doch Dichter sind gewohnt, zu singen toten Ohren.
Es lebt ja noch der Geist, der einst dir gab die Schwingen,
Den traf der Jäger nicht, er hört mein Lied erklingen.
Und wenn kein Menschenohr auch meinem Sange lauschte,
So hört mich doch der Geist, der mir das Herz berauschte.
Ich wollt', ich wäre jetzt in fernen Felsenklüften,
Und du hoch über mir, still kreisend in den Lüften;
Ich ließe froh mein Aug' mit deinem Fluge schweifen,
Und wie du niederfährst, die Beute zu ergreifen;
Wie du, atmender Blitz, zu Boden niederzückest
Und mit den Krallen scharf ein armes Leben pflückest;
Wie du das volle Herz ansetzest als ein Zecher,
Daß mit dem Leben trinkt der Tod aus einem Becher.

 

II.

Du, toter Geier, stehst noch immer wild und edel,
Und neben dich gestellt hab ich den bleichen Schädel.
Ich lasse dir nach ihm den Schnabel niederhangen,
Als hättest du gespeist das Fleisch von seinen Wangen.
Es mag an diesem Bild sich gern mein Blick entzünden,
Sehnsüchtig träumen sich nach Himalayagründen.
Den Ganges will ich dort abholen an der Quelle,
Und gehn mit ihm hinab, sein lauschender Geselle.
Der Ganges rauscht vorbei an einem Totenacker,
Und Geier fliegen schnell heran, die Leichenhacker.
Hier Gentlemen, Hindu und Moslemim beisammen,
Die lustig nach Hurdwar zur lauten Messe kamen.
Die Schlange Cholera mit mörderischer Tücke
Verschlang sie rasch und spie sie schwarz und kalt zurücke.
An manchem Herzen jetzt die Geier zehrend haften,
Wie noch vor einem Tag die heißen Leidenschaften.
Die Raben tummeln sich am Rest des Geiermahls,
Und gierig springen dran Wildhunde und Schakals.
Und Störche ziehn heran, gefiederte Giganten,
Vom strenggemessenen Schritt geheißen Adjutanten.
Wie sie auf ihren Fraß zuschreiten leis und sacht,
Unhörbar: ist allein, was hier mich grauen macht;
Und wie bedächtig sie den Schnabel klappernd wetzen;
Nur die Methode weckt mir grieselndes Entsetzen.
Dort Leichen führt hinab der Ganges, dumpf erbrausend,
Viel Geier sitzen drauf und schwimmen mit, fortschmausend
Und andre folgen satt, mit müßigem Geflatter
Dem Leichenzuge nach, wild schwärmende Bestatter.
Hier bin ich rings umbraust von heißem Lebenstriebe,
Natur! Hier rauscht dein Kuß der heft'gen Mutterliebe.
Hier muß das Grauen selbst der Seuche sich verlindern,
Seh! ich, Natur, wie du hier schwelgst in deinen Kindern!
Fort wird das Bild des Tods vom Lebenssturm getragen,
Der Siegesruf verschlingt mir alle Todesklagen.
Und mit den Geiern dort, die um die Leichen schwanken.
Laß' fliegen ich am Strom Unsterblichkeitsgedanken.

An die Brieftaube

Friedrich Rückert

Du, zum schönsten Amt erkoren,
Zu bestellen Liebesklagen,
Worte vom Gefühl geboren
Über Berg und Tal zu tragen,
Daß sie, was man nicht den Ohren
Sagen kann, den Augen singen:
Hab ich dich nicht oft beschworen,
Taube, nichts zu unterschlagen?
Wie kannst du zu meinen Toren
Dich mit leerem Halse wagen?
Nie mehr sollen dich Amoren
Spannen vor der Mutter Wagen!
Falken sollen dich mit Sporen,
Und mit Krallen Geier jagen!
Und die Myrthe sei erfroren,
Wo du willst dein Nest aufschlagen!
Weil du hast das Blatt verloren,
Das der Freund dir gab zu tragen.

 

Friedrich Rückert, Aus der Jugendzeit

Aus der Jugend, aus der Jugendzeit
Klingt ein Lied mir immerdar;
O wie liegt so weit, o wie liegt so weit
Was mein einst war!

Was die Schwalbe sang, was die Schwalbe sang,
Die den Herbst und Frühling bringt;
Ob das Dorf entlang, ob das Dorf entlang
Das jetzt noch klingt?

»Als ich Abschied, als ich Abschied nahm,
Waren Kisten und Kasten schwer;
Als ich wieder kam, als ich wieder kam,
War alles leer.«

O du Kindermund, o du Kindermund,
Unbewußter Weisheit froh,
Vogelsprache kund, Vogelsprache kund
Wie Salomo!

O du Heimatflur, o du Heimatflur,
Laß zu deinem heil'gen Raum
Mich noch einmal nur, mich noch einmal nur
Entfliehn im Traum!

Als ich Abschied nahm, als ich Abschied nahm,
War die Welt mir voll so sehr;
Als ich wieder kam, als ich wieder kam
War alles leer.

Wohl die Schwalbe kehrt, wohl die Schwalbe kehrt,
Und der leere Kasten schwoll,
Ist das Herz geleert, ist das Herz geleert,
Wird's nie mehr voll.

Keine Schwalbe bringt, keine Schwalbe bringt
Dir zurück, wonach du weinst;
Doch die Schwalbe singt, doch die Schwalbe singt
Im Dorfe wie einst:

»Als ich Abschied nahm, als ich Abschied nahm,
Waren Kisten und Kasten schwer;
Als ich wieder kam, als ich wieder kam,
War alles leer.«

 

F. Rückert, Lerchentriller

Ich fuhr am frühen Morgen,
Als noch die Sonne schlief
Und hoch im Blau verborgen
Schon eine Lerche rief.

Als auf der Tag gegangen
Da war ich weit schon fort,
Und hoch im Äther sangen
Die Lerchen hier und dort.

Ich hörte nur das Schwirren
Der Stimmen im Azur
Und nicht der Achse Klirren
Womit ich weiter fuhr.

Und wie durch blüh'nde Triften
Der Wagen hin mich trug,
So setzte hoch in den Lüften
Sich fort der Stimmen Zug.

Als unterging die Sonne,
War ich an meinem Ort,
Da sang im Drang der Wonne
Noch eine Lerche fort.

Dann ward das Tönen stiller,
Als ich im Schlummer lag;
Es war ein Lerchentriller
Der ganze Frühlingstag.

Der kranke Löwe

Eduard von Bauernfeld

Es lag der gnädige Löwe krank.
In seiner Höhle war großer Stank.
Sich zu zerstreu'n ließ seine Gnaden
die Tiere zum Besuche laden.
Des Kämmerers Ruf erging an drei:
an den Esel, den Bock und Fuchsen dabei;
die hätten sich gern der Ehr' enthoben,
so ward der Esel vorgeschoben,
der zitternd trat in die Höhle ein. –
Da lag der König im Dämmerschein.
Der spricht, indem die heiße Gier
aus seinen Feueraugen blinkt:
»Freund Baldwyn, sag', wie riecht es hier?« –
»Herr König,« schnuppert der Esel, »es stinkt!«
Das Eselein, der Wahrheit beflissen,
ward für sein keckes Wort zerrissen. –
Kam d'rauf der Bock gehüpft, vor Graus
steh'n ihm die Augen beim Kopf heraus.
»Mein Böcklein, sprich, wie riecht es dir?« –
»Herr König, wie Bisam duftet es mir.«
Der Schmeichler war nichts Besseres wert:
ihm ward sein Inn'res herausgekehrt. –
Nun kam der Fuchs auf leisen Sohlen,
was wird Herr Reineke sich holen?
»Mein guter Fuchs, du treue Seele,
sprich doch, wie riecht's in meiner Höhle?«
Der Reinhard niest: »Ich kann's nicht sagen,
mich tut ein arger Schnupfen plagen.«
Der König schweigt, beißt in die Lippe
und reicht ihm eine Eselsrippe:
»Da nimm und iß, du kluger Mann,
ich seh's, du bist kein heuriger Hase;
wer den Geruch verleugnen kann,
der hat die allerfeinste Nase.«

Diplomatischer Rat

Franz Grillparzer

Ein Marder fraß die Hühner gern,
doch wußt' er nicht, wie sie erhaschen;
er fragt den Fuchs, 'nen alten Herrn,
dem Steifheit schon verbot das Naschen.
Der sagt ihm: »Freund, der Rat ist alt;
was hilft's, zu zögern?! Brauch' Gewalt!«
Der Marder stürmt in vollem Lauf;
die Hühner aber flattern auf,
die einen gackernd, kreischend jene,
gerade in des Fuchses Zähne,
der gegenüber lauernd lag
und müh'los hielt den Erntetag.
Wenn du nach Hühnern lüstern bist,
frag' keinen, der sie selbst gern frißt!

Die Lerche

Eichendorff

 

1.

Die Lerche grüßt den ersten Strahl,
Daß er die Brust ihr zünde.
Wenn träge Nacht noch überall
Durchschleicht die tiefen Gründe.

Und du willst, Menschenkind, der Zeit
Verzagend unterliegen?
Was ist dein kleines Erdenleid?
Du mußt es überfliegen!

 

2.

Ich kann hier nicht singen,
Aus dieser Mauern dunklen Ringen
Muß ich mich schwingen
Vor Lust und tiefem Weh.
O Freude, in klarer Höh'
Zu sinken und sich zu heben,
In Gesang
Über die grüne Erde dahin zu schweben,
Wie unten die licht' und dunkeln Streifen
Wechselnd im Fluge vorüberschweifen,
Aus der Tiefe ein Wirren und Rauschen und Hämmern,
Die Erde aufschimmernd im Frühlingsdämmern,
Wie ist die Welt so voller Klang;
Herz, was bist du bang?
Mußt aufwärts dringen!
Die Sonne tritt hervor,
Wie glänzen mir Brust und Schwingen,
Wie still und weit ist's droben am Himmelstor!

Das Megatherium

Viktor v. Scheffel

Was hangt denn dort bewegungslos
Zum Knaul zusammgeballt
So riesenfaul und riesengroß
Im Ururururwald?
Dreifach so wuchtig als ein Stier,
Dreifach so schwer und dumm –
Ein Klettertier, ein Krallentier:
Das Megatherium!

Träg glotzt es in die Welt hinein
Und gähnt, als wie im Traum,
Und krallt die scharfen Krallen ein
Am Embahubabaum.
Die Früchte und das saftige Blatt
Verzehrt es und sagt: » Ai
Und wenn's ihn leergefressen hat,
Sagt's auch zuweilen: » Wai

Dann aber steigt es nicht herab,
Es kennt den kürzern Weg;
Gleich einem Kürbis fällt es ab
Und rührt sich nicht vom Fleck.
Mit rundem Eulenangesicht
Nickts sanft und lächelt brav:
Denn nach gelungener Fütterung kommt
Als Hauptarbeit der Schlaf.

... O Mensch, dem solch ein Riesentier
Nicht glaublich scheinen will,
Geh nach Madrid! dort zeigt man dir
Sein ganz Skelett fossil.
Doch bist du staunend ihm genaht,
Verliere nicht den Mut:
So ungeheure Faulheit tat
Nur vor der Sündflut gut.

Du bist kein Megatherium,
Dein Geist kennt höhere Pflicht,
Drum schwänze kein Kollegium
Und überfriß dich nicht.
Nütz' deine Zeit, sie gilt statt Gelds,
Sei fleißig bis zum Grab,
Und steckst du doch im faulen Pelz,
So fall mit Vorsicht ab!

Die tote Lerche

Annette von Droste-Hülshoff

Ich stand an deines Landes Grenzen,
an deinem grünen Saatenwald,
und auf des ersten Strahles Glänzen
ist dein Gesang herabgewallt.
Der Sonne schwirrtest du entgegen
wie eine Mücke nach dem Licht,
dein Lied war wie ein Blütenregen,
dein Flügelschlag wie ein Gedicht.

Da war es mir, als müsse ringen
ich selber nach dem jungen Tag,
als horch ich meinem eignen Singen
und meinem eignen Flügelschlag;
die Sonne sprühte glühe Funken,
in Flammen brannte mein Gesicht,
ich selber taumelte wie trunken,
wie eine Mücke nach dem Licht.

Da plötzlich sank und sank es nieder,
gleich toter Kohle in die Saat
noch zucken sah ich kleine Glieder
und bin erschrocken dann genaht;
dein letztes Lied, es war verklungen,
du lagst, ein armer kalter Rest,
am Strahl verflatternd und versungen
bei deinem halbgebauten Nest.

Ich möchte Tränen um dich weinen,
wie sie das Weh vom Herzen drängt,
denn auch mein Leben wird verscheinen,
ich fühl's, versungen und versengt;
dann du, mein Leib, ihr armen Reste!
dann nur ein Grab auf grüner Flur,
und nah nur, nah bei meinem Neste,
in meiner stillen Heimat nur!

Zitronenfalter im April

Mörike

Grausame Frühlingssonne,
Du weckst mich vor der Zeit,
Denn nur in Maienwonne
Die zarte Kost gedeiht!
Ist nicht ein liebes Mädchen hier,
Das auf der Rosenlippe mir
Ein Tröpfchen Honig beut,
So muß ich jämmerlich vergehn
Und wird der Mai mich nimmer sehn
In meinem gelben Kleid.

 

Mörike, Auf den Tod eines Vogels

O Vogel, ist es aus mit dir?
Krank übergab ich dich Barmherz'gen-Schwester-Händen,
Ob sie vielleicht noch dein Verhängnis wenden;
So war denn keine Hilfe hier?

Zwei Augen, schwarz als wie die deinen,
Sah ich mit deinem Blick sich einen,
Und gleich erlosch dein schönes Licht.
Hast du von ihnen Leids erfahren?
Wohlan! wenn sie dir tödlich waren,
So war dein Tod so bitter nicht.

 

Mörike, Mausfallen-Sprüchlein

Das Kind geht dreimal um die Falle und spricht

Kleine Gäste, kleines Haus,
Liebe Mäusin oder Maus,
Stell dich nur kecklich ein
Heut Nacht bei Mondenschein!
Mach aber die Tür fein hinter dir zu!
Hörst du?
Dabei hüte dein Schwänzchen!
Nach Tische singen wir,
Nach Tische schwingen wir
Und machen ein Tänzchen:
Witt witt!
Meine alte Katze tanzt wahrscheinlich mit.

Rotkehlchen

Hermann Lingg

Schwalben waren schon lang
fort und auf der Reise,
nur ein Rotkehlchen sang
lieblich und leise
unter dem Dach
eines Hauses das, halbzerstört,
allmählich zusammen brach!
Es wurde von niemand gehört,
und dennoch sang es. Das Moos,
wuchs auf der Schwelle,
die Steine bröckelten los,
des Abendlichtes Helle
schlief in den Zimmern allein,
die Stürme gingen aus und ein
in dem großen verödeten Gang,
aber das Rotkehlchen sang.
Lust und Freude war entflohn,
alles war aus,
es wußte nichts davon,
es sang im öden, verfallenden Haus
mit einem eignen lieblichen Ton.

Wilhelm Busch

Es stand vor eines Hauses Tor
Ein Esel mit gespitztem Ohr,
Der käute sich sein Bündel Heu
Gedankenvoll und still entzwei. –
Nun kommen da und bleiben stehn
Der naseweisen Buben zween,
Die auch sogleich, indem sie lachen,
Verhaßte Redensarten machen,
Womit man denn bezwecken wollte,
Daß sich der Esel ärgern sollte. –
Doch dieser hocherfarne Greis
Beschrieb nur einen halben Kreis,
Verhielt sich stumm und zeigte itzt
Die Seite, wo der Wedel sitzt.

 

Wilhelm Busch, Es sitzt ein Vogel

Es sitzt ein Vogel auf dem Leim,
Er flattert sehr und kann nicht heim.
Ein schwarzer Kater schleicht herzu,
Die Krallen scharf, die Augen gluh.
Am Baum hinauf und immer höher
Kommt er dem armen Vogel näher.
Der Vogel denkt: Weil das so ist
Und weil mich doch der Kater frißt,
So will ich keine Zeit verlieren,
Will noch ein wenig quinkilieren
Und lustig pfeifen wie zuvor,
Der Vogel, scheint mir, hat Humor.

siehe Bildunterschrift

Eugène Delacroix, Tiger und Schlange.

 

Wilhelm Busch, Es saß ein Fuchs

Es saß ein Fuchs im Walde tief,
Da schrieb ihm der Bauer einen Brief:
So und so, und er sollte nur kommen,
'S wär alles verziehen, was übel genommen.
Der Hahn, die Hühner und Gänse ließen
Ihn alle zusammen auch vielmals grüßen.
Und wann ihn denn erwarten sollte
Sein guter, treuer Krischan Bolte.
Drauf schrieb der Fuchs mit Gänseblut:
Kann nicht gut.
Meine Alte mal wieder
Gekommen nieder!
Im Übrigen von ganzer Seele
Dein Fuchs in der Höhle.

Matten Has'

Klaus Groth

Lütt Matten de Has',
De mak sik en Spaß,
He weer bit't Studeern,
Dat Danzen to lehrn,
Un danz ganz alleen
Op de achtersten Been.

Keem Reinke de Voß
Und dach: »Das en Kost!«
Un seggt: »Lüttje Matten,
So flink oppe Padden?
Un danzst hier alleen
Oppe achtersten Been?

Kumm, lat uns tosam!
Ik kann as de Dam!
De Krei, de spelt Fitel
Denn geit dat canditel
Denn geit dat mal schön
Op de achtersten Been!«

Lütt Matten gep Pot.
De Voß beet em dot
Und setz sik in Schatten,
Verspis' de Lütt Matten:
De Krei, de krieg een
Vun de achtersten Been.

Von Katzen

Theodor Storm

Vergangnen Maitag brachte meine Katze
zur Welt sechs allerliebste kleine Kätzchen,
Maikätzchen, alle weiß mit schwarzen Schwänzchen.
Fürwahr, es war ein zierlich Wochenbettchen!
Die Köchin aber – Köchinnen sind grausam,
Und Menschlichkeit wächst nicht in einer Küche –
Die wollte von den Sechsen fünf ertränken,
Fünf weiße, schwarzgeschwänzte Maienkätzchen
Ermorden wollte dies verruchte Weib.
Ich half ihr heim! – der Himmel segne
Mir meine Menschlichkeit! Die lieben Kätzchen,
Sie wuchsen auf und schritten binnen kurzem
Erhobnen Schwanzes über Hof und Herd;
Ja, wie die Köchin auch ingrimmig drein sah,
Sie wuchsen auf, und nachts von ihrem Fenster
Probierten sie die allerliebsten Stimmchen.
Ich aber, wie ich sie so wachsen sehe,
Ich pries mich selbst und meine Menschlichkeit. –
Ein Jahr ist um, und Katzen sind die Kätzchen,
Und Maitag ist's! – Wie soll ich es beschreiben,
Das Schauspiel, das sich jetzt vor mir entfaltet!
Mein ganzes Haus vom Keller bis zum Giebel,
Ein jeder Winkel ist ein Wochenbettchen!
Hier liegt das eine, dort das andre Kätzchen,
In Schränken, Körben, unter Tisch und Treppen,
Die Alte gar – nein, es ist unaussprechlich,
Liegt in der Köchin jungfräulichem Bette!
Und jede, jede von den sieben Katzen
Hat sieben, denkt Euch! sieben junge Kätzchen,
Maikätzchen, alle weiß mit schwarzen Schwänzchen!
Die Köchin rast, ich kann der blinden Wut
Nicht Schranken setzen dieses Frauenzimmers.
Ersäufen will sie alle neunundvierzig!
Mir selber! ach, mir läuft der Kopf davon –
O Menschlichkeit, wie soll ich dich bewahren!
Was fang ich an mit sechsundfünfzig Katzen! –

 

Theodor Storm, Die Nachtigall

Das macht, es hat die Nachtigall
die ganze Nacht gesungen;
da sind von ihrem süßen Schall,
da sind in Hall und Widerhall
die Rosen aufgesprungen.

Sie war doch sonst ein wildes Kind,
nun geht sie tief in Sinnen,
trägt in der Hand den Sommerhut
und duldet still der Sonne Glut
und weiß nicht, was beginnen.

Das macht, es hat die Nachtigall
die ganze Nacht gesungen;
da sind von ihrem süßen Schall,
da sind in Hall und Widerhall
die Rosen aufgesprungen.

 

Theodor Storm, Das Käuzlein

Da sitzt der Kauz im Ulmenbaum,
Und heult und heult im Ulmenbaum.
Die Welt hat für uns beide Raum!
Was heult der Kauz im Ulmenbaum
Von Sterben und von Sterben?

Und übern Weg die Nachtigall,
Genüber pfeift die Nachtigall.
O weh, die Lieb ist gangen all!
Was pfeift so süß die Nachtigall
Von Liebe und von Liebe?

Zur Rechten hell ein Liebeslied,
Zur Linken grell ein Sterbelied!
Ach, bleibt denn nichts, wenn Liebe schied,
Denn nichts als nur ein Sterbelied
Kaum wegbreit noch hinüber?

Grashüpfer sitzt im hohen Gras ...

Heinrich Seidel

Grashüpfer sitzt im hohen Gras
und zirpt und zirpt und denkt sich was,
und denkt: »Wie sing' ich doch so schön!«
Mistkäfer fliegt mit viel Getön'
vergnüglich um den Mist herum –
freut sich über sein schönes Gebrumm'.
Sitzt auch ein Frosch im kühlen Rohr;
dem kommt sein Quak recht fürnehm vor.
Ein jeder denkt in seinem Sinn:
»Was für ein künstlich Vieh ich bin!«
Spottet wohl gar des andern Gesang –
das ist so ganz der natürliche Gang.

 

Heinrich Seidel, Das Infusorium

War einst ein Infusorium –
es war das größte um und um
in seinem Wassertropfen;
es saß und dacht': »Wer gleichet mir?
Was bin ich für ein riesig' Tier!
Ich bin so groß! – So weit man sieht,
erschaut man meinesgleichen nicht!«

Kam eine Maus an diesen Ort –
die hatte Durst und trank sofort
den ganzen Wassertropfen
mit samt den Infusorien all –
fünfhunderttausend auf einmal.
Gar mancher Mensch ist solch ein Tor
wie dieses brave Infusor!

Das Klapperstorch-Märchen

Volkmann-Leander

Wovon die Beine der Teckel so kurz sind, und daß sie sich dieselben abgelaufen haben, weiß jeder. Wie aber der Storch zu seinen langen Beinen gekommen ist, das ist eine ganz andere Geschichte.

Drei Tage nämlich, ehe der Storch ein kleines Kind bringt, klopft er mit seinem roten Schnabel an das Fenster der Leute, welche es bekommen sollen, und ruft:

»Schafft eine Wiegen,
Ein' Schleier für die Fliegen,
Ein buntes Röcklein,
Ein weißes Jäcklein,
Mützchen und Windel:
Bring' ein klein Kindel!«

Dann wissen die Leute, woran sie sind. Doch zuweilen, wenn er sehr viel zu tun hat, vergißt er es, und dann gibt's große Not, weil nichts fertig ist.

Bei zwei armen Leuten, welche im Dorf in einer kleinen Hütte wohnten, hatte es der Storch auch vergessen. Als er mit dem Kinde kam, war niemand zu Hause. Mann und Frau waren auf Feldarbeit gegangen und Türe und Fenster verschlossen; auch war nicht einmal eine Treppe vor dem Hause, auf die er es hätte legen können. Da flog er aufs Dach und klapperte so lange, bis das ganze Dorf zusammenlief und eine alte Frau eilend aufs Feld hinaussprang, um die Leute zu holen.

»Herr Nachbar, Frau Nachbarin! Herr Nachbar, Frau Nachbarin!« rief sie schon von weitem, ganz außer Atem, »um Gottes willen! Der Storch sitzt auf eurem Hause und will euch ein kleines Kind bringen. Niemand ist da, der ihm's Fenster aufmachen kann. Wenn ihr nicht bald kommt, läßt er's fallen, und's gibt ein Unglück. Oben beim Müller hat er es vor drei Jahren auch fallen lassen, und das arme Wurm ist noch heute bucklig.«

Da liefen die beiden über Hals und Kopf nach Haus und nahmen dem Storche das Kind ab. Wie sie es besahen, war es ein wunderhübscher kleiner Junge, und Mann und Frau waren vor Freude außer sich. Doch der Storch hatte sich über das lange Warten so geärgert, daß er sich vornahm, ganz bestimmt den beiden Leuten nie wieder ein Kind zu bringen. Als sie endlich kamen, sah er sie schon ganz schief und ärgerlich an, und während er fortflog, sagte er noch: »Heute wird's auch wieder spät werden, ehe ich zu meiner Frau Storchen in den Sumpf komme. Ich habe noch zwölf Kinder auszutragen, und es ist schon spät. Das Leben wird einem doch recht sauer!«

Doch die beiden Leute hatten in ihrer Herzensfreude es gar nicht bemerkt, daß sich der Storch so schwer geärgert. Eigentlich war er ja auch ganz allein daran schuld, daß er so lange hatte warten müssen, weil er es doch vergessen hatte, es ihnen vorher zu sagen. Wie nun das Kind wuchs und täglich hübscher wurde, sagte eines Tages die Frau:

»Wenn wir dem guten Storch, der uns das wunderhübsche Kind gebracht hat, nur irgendetwas schenken könnten, was ihm Spaß machte! Weißt du nichts? Mir will gar nichts einfallen!«

»Das wird schwer halten,« erwiderte der Mann; »er hat schon alles!«

Am nächsten Morgen jedoch kam er zu seiner Frau und sagte zu ihr:

»Was meinst du, wenn ich dem Storch beim Tischler ein paar recht schöne Stelzen machen ließe? Er muß doch immer in den Sumpf, um Frösche zu fangen, und dann wieder in den großen Teich hinterm Dorf, aus dem er die kleinen Kinder herausholt. Da muß er doch sehr oft nasse Füße bekommen! Ich dächte auch, er hätte damals, als er zu uns kam, ganz heiser geklappert.«

»Das ist ein herrlicher Einfall!« entgegnete die Frau. »Aber der Tischler muß die Stelzen recht schön rot lackieren, damit sie zu seinem Schnabel passen!«

»So?« sagte der Mann; »meinst du wirklich rot? Ich hatte an grün gedacht.«

»Aber bester Schatz!« fiel die Frau ein, »wo denkst du hin? Ihr Männer wißt doch niemals, was zusammen paßt und gut steht. Sie müssen unbedingt rot sein!«

Da nun der Mann sehr verständig war und stets auf seine Frau hörte, so bestellte er denn wirklich rote Stelzen, und als sie fertig waren, ging er an den Sumpf und brachte sie dem Storch.

Und der Storch war sehr erfreut, probierte sie gleich und sagte:

»Eigentlich war ich auf euch recht böse, weil ihr mich damals so lange habt warten lassen. Weil ihr aber so gute Leute seid und mir die schönen roten Stelzen schenkt, so will ich euch auch noch ein kleines Mädchen bringen. Heute über vier Wochen werde ich kommen. Daß ihr mir dann aber auch hübsch zu Hause seid, und expreß es erst noch einmal ansagen werde ich nun nicht. Den Weg kann ich mir sparen! – Hörst du?«

»Nein, nein!« erwiderte der Mann. »Wir werden sicher zu Hause sein. Du sollst diesmal keinen Ärger davon haben.«

Als die vier Wochen um waren, kam richtig der Storch geflogen und brachte ein kleines Mädchen; das war noch hübscher als der kleine Junge, und war nun gerade das Pärchen voll. Auch blieben beide Kinder hübsch und gesund, und die Eltern auch, so daß es eine rechte Freude war. –

Nun wohnte aber im Dorf noch ein reicher Bauer, der besaß ebenfalls nur einen Knaben, und der war noch dazu ziemlich garstig, und der Bauer wünschte sich auch noch ein Mädchen dazu. Als er vernahm, wie es die armen Leute angefangen, dachte er bei sich, es könne ihm gar nicht fehlen. Er ging sofort zum Tischler und bestellte ebenfalls ein paar Stelzen, viel schöner wie die, welche die armen Leute hatten anfertigen lassen. Oben und unten mit goldenen Knöpfen und in der Mitte grün, gelb und blau geringelt. Als sie fertig waren, sahen sie in der Tat ungewöhnlich schön aus.

Darauf zog er sich seinen besten Rock an, nahm die Stelzen unter den Arm und ging hinaus an den Sumpf, wo er auch gleich den Storch fand.

»Ganz gehorsamer Diener Euer Gnaden!« sagte er zu ihm und machte ein tiefes Kompliment.

»Meinst du mich?« fragte der Storch, der auf seinen schönen roten Stelzen behaglich im Wasser stand.

»Ich bin so frei!« erwiderte der Bauer.

»Nun, was willst du?«

»Ich möchte gern ein kleines Mädchen haben, und da hat sich meine Frau erlaubt, Euer Gnaden ein kleines Geschenk zu schicken. Ein paar ganz bescheidene Stelzen.«

»Da mach nur, daß du wieder nach Hause kommst!« entgegnete der Storch, indem er sich auf einem Beine umdrehte und den Bauer gar nicht wieder ansah. »Ein kleines Mädchen kannst du nicht bekommen; und deine Stelzen brauche ich auch nicht! Ich habe schon zwei sehr schöne rote, und da ich meist nur eine auf einmal benutze, so werden sie wohl sehr lange vorhalten. – Außerdem sind ja deine Stelzen ganz abscheulich häßlich. Pfui! blau, grün und gelb geringelt wie ein Hanswurst! Mit denen dürfte ich ja der Frau Storchen gar nicht unter die Augen kommen.«

Da mußte der reiche Bauer mit seinen schönen Stelzen abziehen, und ein kleines Mädchen hat er sein Lebtag nicht bekommen. –

Möwenflug

Conr. Ferd. Meyer

Möwen sah um einen Felsen kreisen
ich in unermüdlich gleichen Gleisen,
auf gespannter Schwinge schweben bleibend,
eine schimmernd weiße Bahn beschreibend,
und zugleich in grünem Meeresspiegel
sah ich um dieselben Felsenspitzen
eine helle Jagd gestreckter Flügel
unermüdlich durch die Tiefe blitzen.

Und der Spiegel hatte solche Klarheit,
daß sich anders nicht die Flügel hoben
tief im Meer, als hoch in Lüften oben,
daß sich völlig glichen Trug und Wahrheit.

Allgemach beschlich es mich wie Grauen,
Schein und Wesen so verwandt zu schauen
und ich fragte mich, am Strand verharrend,
ins gespenstische Geflatter starrend:
Und du selber? Bist du echt beflügelt?
Oder nur gemalt und abgespiegelt?
Gaukelst du im Kreis mit Fabeldingen?
Oder hast du Blut in deinen Schwingen?

Vereinsamt

Friedrich Nietzsche

Die Krähen schrei'n
und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
bald wird es schnei'n, –
wohl dem, der eine Heimat hat!

Nun stehst du starr,
schaust rückwärts, ach! wie lange schon!
Was bist du Narr
Vor Winters in die Welt geflohn?

Die Welt – ein Tor
zu tausend Wüsten stumm und kalt!
Wer Das verlor,
was du verlorst, macht nirgends Halt.

Nun stehst du bleich
zur Winter-Wanderschaft verflucht,
dem Rauche gleich,
der stets nach kältern Himmeln sucht.

Flieg, Vogel, schnarr'
dein Lied im Wüstenvogel-Ton! –
Versteck', du Narr,
dein blutend Herz in Eis und Hohn!

Die Krähen schrei'n
und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
bald wird es schnei'n, –
weh Dem, der keine Heimat hat!

Schwalbensiziliane

Detlev von Liliencron

Zwei Mutterarme, die das Kindchen wiegen,
es jagt die Schwalbe weglang auf und nieder.

Maitage, trautes Aneinanderschmiegen,
es jagt die Schwalbe weglang auf und nieder.

Des Mannes Kampf: Sieg oder Unterliegen,
es jagt die Schwalbe weglang auf und nieder!

Ein Sarg, auf den drei Handvoll Erde fliegen,
es jagt die Schwalbe weglang auf und nieder.

Abbild

Peter Hille

Seele meines Weibes, wie zartes Silber bist du.
Zwei flinke Fittiche weißer Möwen
Deine beiden Füße.
Und dir im lieben Blute auf
Steigt ein blauer Hauch,
Und sind die Dinge darin
Alle ein Wunder.

Ästhetisches von den Kühen

Otto Julius Bierbaum

Ah, wie glänzt das neue Tor!
Jede Kuh fürcht sich davor;
Es ist viel zu reine.
Laßt's mit Mist beschmissen sein,
Gehen alle wedelnd ein,
Und es furcht sich keine.

Störche

Otto Erich Hartleben

Melancholisch ernste Störche,
weiß, auf schwarzem Hintergrunde,
klappern mit den langen Schnäbeln
monoton des Abends Rhythmen.

Eine hoffnungsleere Sonne
trifft mit matten schrägen Strahlen
melancholisch ernste Störche,
weiß, auf schwarzem Hintergrunde.

Und der Sumpf, verträumt und müde,
mit metallisch grünen Augen,
drin des Tages letzte Lichter
scheidend blinken – spiegelt wider
melancholisch ernste Störche.

(Aus dem Pierrot Lunaire des Albert Giraud)

Vöglein Schwermut

Christian Morgenstern

Ein schwarzes Vöglein fliegt über die Welt,
das singt so todestraurig ...
Wer es hört, der hört nichts andres mehr,
wer es hört, der tut sich ein Leides an,
der mag keine Sonne mehr schauen.

Allmitternacht, allmitternacht,
ruht es sich aus auf dem Finger des Tods.
Der streichelt's leis und spricht ihm zu:
»Flieg, mein Vöglein! Flieg mein Vöglein!«
Und wieder fliegts flötend über die Welt.

 

Christian Morgenstern, Erster Schnee

Aus silbergrauen Gründen tritt
ein schlankes Reh
im winterlichen Wald
und prüft vorsichtig, Schritt für Schritt,
den reinen, kühlen, frisch gefallenen Schnee.

Und Deiner denk ich, zierlichste Gestalt.

 

Christian Morgenstern, Der Sperling und das Känguru

In seinem Zaun das Känguru –
es hockt und guckt dem Sperling zu.

Der Sperling sitzt auf dem Gebäude –
doch ohne sonderliche Freude.

Vielmehr, er fühlt, den Kopf geduckt.
wie ihn das Känguru beguckt.

Der Sperling sträubt den Federflaus –
die Sache ist auch gar zu kraus.

Ihm ist, als ob er kaum noch säße ...
Wenn nun das Känguru ihn fräße?!

Doch dieses dreht nach einer Stunde
den Kopf, aus irgend einem Grunde,

vielleicht auch ohne tiefern Sinn,
nach einer andern Richtung hin.

 

Christian Morgenstern, Der Leu

Auf einem Wandkalenderblatt
ein Leu sich abgebildet hat.

Er blickt dich an bewegt und stil
den ganzen 17. April.

Wodurch er zu erinnern liebt,
daß es ihn immerhin noch gibt.

Der tote Hund (nach Nizami)

Richard Dehmel

Der Herr Jesus, auf seiner Wanderschaft,
betrat einen Markt, wurde sehr begafft.
Nur ein toter Hund, schon halb verfault,
wurde noch mehr begafft und bemault.
Da lag er – und rings um die üble Gestalt
machten die Menschen wie Aasgeier Halt.
Puh! sprach einer: mir wird ganz krank
von dem entsetzlichen Gestank.
Ein zweiter sprach: er stinkt zwar sehr,
aber der Anblick entsetzt noch mehr.
So gaffte jeder aus anderem Grund,
doch alle schmähten den toten Hund.
Da trat Jesus unter den Schwarm;
hell hob er über den Leichnam den Arm.
Seht! sprach er und stand voll Sonnenschein:
seine Zähne sind wie Perlen rein!
Und lächelte – daß Alle, die's erlebten,
durchglühten Schlacken gleich erbebten.

Böse große Vögel

Richard Schaukal

Und kamen große Vögel durch die Nacht
mit krummen und verachtend starken Schnäbeln,
sie haben alles Leben schnöd betrachtet
mit klugen bösen kalten grauen Augen
und sind in Nebelferne dann geflogen
mit weithin schattenden und stummen Flügeln.


An dieser Stelle:
Hermann Hesse, Der Wolf. Im Jahr der Veröffentlichung 2012 bei Gutenberg noch nicht urheberrechtsfrei.

Der Kuckuck

Peter Altenberg

»Ich der Kuckuck habe eine Riesenwut auf die Dichter! Ich sitz da in diesem faden hellgrünen Aprilwald, von früh bis abends, schrei', kreisch' mir die Kehle heraus nach diesem Mistvieh von Weibchen, sie hört's ganz genau, die Kanaille, aber sie will mich nebbich reizen und warten lassen bis zum Abend, und, hast du nicht gesehen, die Dichter träumen: »Der melancholische, eigentümlich eintönige, ja fast tragische Ruf des unsichtbaren Kuckuck ist gleichsam das tönende Mysterium der ganzen Natur!«

Soll er sich da hinsetzen, von früh bis abends Kuckuck rufen, wegen der Kanaille, die man »belegen« muß! Es ist keine Kunst einen andern zu besingen, wenn man die »Sängerin« schon gehabt hat!«

 

Die Schwalben schossen vorüber tief dir zu Füßen

Max Dauthendey

Die Schwalben schossen vorüber tief Dir zu Füßen,
als sei ihr Flug ihr Zeichen tief Dich zu grüßen.
Oft dünkten die Vögel am Himmel mich mehr klug
wie mancher, den ich nach Wegen der Erde frug.
Schwalben, die früh bis spät in Freiheit schwammen,
die hielten sich in Liebe eng zusammen.
Sie bauen ihr Nest warm wie der Mensch sein Dach.
Sie fliegen von früh bis spät begeistert wach
und eilen stets hurtig dem Weg ihres Herzens nach.

Der Büffel

Theodor Etzel

Ein Büffel weidete in wogender Steppe. Da plötzlich lag ganz nahe ein Löwe auf der Lauer.

»Entfliehe!« rief ein fliehender Fuchs dem Büffel zu.

»Was?« lachte dieser, »vor einem Tiere, das sich vor mir duckt ...?!«

Da sprang der Löwe dem störrischen Büffel den Tod in den Nacken.

*

– Despot! Dein Volk – es liegt geduckt ...

 

Theodor Etzel, Stier und Krähen

Ein starker Stier durchfurchte mit scharfer Pflugschar verwildertes Brachfeld, für neue Saat den Boden lockernd und läuternd. Hinter ihm her in den frischen Furchen trabten die Krähen, um ausgehobene Würmer und Engerlinge zu fressen.

Ein Zug lärmender Wildgänse flog über die Landschaft. »Was macht ihr da unten?« riefen sie neugierig den Krähen zu.

»Seht ihr denn nicht,« entgegneten diese, »daß wir uns von dem großen Stier bedienen und speisen lassen?«

Die Wildgänse hielten bestürzt in ihrem eiligen Fluge inne und verneigten sich zu den Krähen hinunter: »Verzeiht, Hochedle, daß wir es wagten, euch zu stören.«

Die Krähen trabten stolz hinter dem Stiere her, der unermüdlich den Pflug durchs wilde Brachfeld zog.

*

So pflügt das Genie – damit die Kleinen hinter ihm her sich ehren lassen können.

Hilferuf

Alois Wohlmuth

Der Frösche Not im tiefen Moor
war heuer groß wie nie zuvor.
Im Schilfe lag der Schlangen Brut
und dürstete nach ihrem Blut,
und kläglich klagten sie vereint
nach Hilfe gegen ihren Feind.

Den Jammer hört im hohen Nest
der Storch, der gleich sich niederläßt;
er stelzt in gravität'scher Ruh'
im Moose dem Konzerte zu
und frißt die Schlangen in den Tiefen
sowie die Frösche, die ihn riefen.

siehe Bildunterschrift

Albert Brendel, »Lämmer-Club«.

Känguruhjagd

Stephan v. Kotze

»Nun wollen wir mal Känguruh jagen gehen, ehe die Überschwemmung kommt,« meinte der Stationsvorsteher. Das Vieh hatte sich noch nicht genügend von der Dürre erholt, um getrieben zu werden. Der dürstende Boden aber hatte in tiefen Zügen den Regen getrunken, noch ohne Übersättigung. Es war ja auch gar so lange trocken gewesen! Die klaffenden Spalten hatten sich geschlossen und die eiserne Erdrinde eine jugendliche Elastizität angenommen, die man selbst auf dem faulsten Gaule fühlen konnte.

»Jetzt fällt man wenigstens nicht mehr so hart,« sagte ich mir mit einem Schmunzeln innigster Befriedigung.

Auf Wrotham Park gab es einige vorzügliche Känguruh-Hunde, Tiere, wie das Windspiel gebaut, aber viel größer und knochiger, gröber. Und nachdem wir uns so gut wie es die Zeiten gestatteten, beritten gemacht hatten – wir hatten ja die Auswahl unter achthundert Pferden – ging es eines Morgens vor Sonnenaufgang los, Tier und Mensch erfüllt von einem ganz neuen Gefühl der Energie, der Lebenslust.

Wir folgten dem schnurgeraden Stacheldrahtzaun, der, etwa vierzig Meilen lang, die Station in zwei Hälften teilte; auf der einen wurden die Mastochsen, auf der anderen das Zuchtvieh gehalten. Am anderen Ende des Zaunes lag eine kleine Außenstation, mit Wrotham Park durch Fernsprecher verbunden, indem der Induktionsstrom über den Stacheldraht geleitet wurde. Diese Einrichtung ersparte auch einen Grenzreiter, da ein Bruch sofort von der Station aus entdeckt werden konnte. Rechtwinklig durchschnitt der große Mitchellfluß, der in den Golf von Carpentaria mündet, den Zaun, das ganze Gebiet vierteilend.

Übrigens, als der große Überlandtelegraph quer durch Australien gebaut wurde, erschien eines Tages ein alter Neger, eine Autorität in allem, was die Viehzucht betrifft, auf der Bildfläche und beobachtete lange kopfschüttelnd die Drähte. Endlich wandte er sich entrüstet ab.

»Weißer Mann viel Schafskopf. Macht Draht so hoch, alles Vieh läuft drunter weg!«

Sprach's und schlug sich seitwärts in die Büsche.

Als wir über den Fluß setzten, rieselte mitten durch das gewaltige, über fünfhundert Meter breite, tief eingeschnittene Bett ein dünner Faden Wasser, wie ein sehr kleiner Junge in den Hosen seines sehr beleibten Vaters einherstolziert. Aber es war doch wenigstens fließendes, lebendes Wasser. Ich sprach meine Verwunderung aus über das scheinbare Mißverhältnis zwischen Bett und Strom. Aber der Vorsteher lächelte nur und sagte: »Warten Sie mal ab!«

Kurz darauf sichteten wir die ersten Känguruhs.

In Wrotham Park waren die Marsupien ziemlich selten. In anderen Gegenden dagegen werden sie vielfach zur Landplage. Seitdem der Neger, der sie jagte, vor der »Zivilisation« verschwunden ist, haben die Tiere oft unglaublich überhandgenommen. Fast jeder Distrikt im Inneren legt sich eine Steuer auf, die nach der Kopfzahl des Viehbestandes berechnet wird, um einen Kriegsfonds gegen diese Vernichter des Weidelandes zu gründen; und Hunderte von Menschen leben lediglich vom Känguruhschießen. Für den Skalp erhalten sie einen gewissen Preis, und das Fell verkaufen sie auch noch, oft zu fünf bis sechs Mark das Stück.

Der Känguruhjäger muß ein sicherer Schütze sein und dazu ein guter Pfadfinder. Auf seinem Pferde sitzend, verfolgt er mit dem Repetiergewehr eine Familie, vom Sattel eine nach der anderen der hüpfenden Riesenratten erlegend. Dabei darf er, um das Fell zu schonen, nur die Kugel benutzen. Dann kehrt er nach einer Jagd von vielleicht zehn Meilen auf seinen eigenen Spuren zurück und balgt die Beute ab, wo sie gefallen ist, das Pferd mit den Häuten beladend. Habichte, Krähen und Hunde teilen sich in das Fleisch. Im Lager angekommen, spannt er die Felle dann auf dem Boden in der Sonne aus, die Innenseite nach oben, und bestreut sie mit Salz und Asche, bis sie getrocknet und zum Versand bereit sind.

Auf wilde Hunde, die viel Schaden unter den Herden anrichten, steht ein oft sehr hoher Preis. In Südaustralien bezahlte die Regierung vor einiger Zeit zwanzig Mark für den Skalp, während das benachbarte Westaustralien zehn Mark zahlte, aber die Rute als Wahrzeichen verlangte. So taten sich denn die wilden Schützen in beiden Kolonien zusammen, und es entstand ein lebhafter Handel in Ruten und Skalps. Scheinbar zogen allerdings die Westaustralier dabei den kürzeren. Wie die Herren das ausgeglichen haben, weiß ich nicht. Jedenfalls kostete den Regierungen der Hund dreißig Mark.

Wir kletterten das steile Ufer im Zickzack empor und landeten auf einer weiten, baumbestandenen Ebene. Plötzlich schlugen die Hunde an, und nicht hundert Schritt vor uns sprang ein Rudel Känguruhs entsetzt auseinander. Die Hunde suchten sich ein großes Tier aus; es war jedenfalls der Stammvater, grau, sechs Fuß hoch, technisch genannt ein »alter Mann«. Mit gewaltigen Sätzen, den dicken Schwanz wie ein Ruder nach hinten gestreckt, flog er in den Busch hinaus und hinter ihm her die Meute. Tief über den Sattelknopf gebeugt, die Zügelhände am Gurt, mit den Augen sorgfältig das Gelände nach Löchern und Baumstümpfen abstreifend, sausten wir durch den jungen Morgen dahin, Pferd sowohl als Reiter von Jagdlust beseelt, nicht achtend der vorüberhuschenden Zweige, die uns das Gesicht zerpeitschten und die Kleider zerfetzten.

Die Meilen flogen vorbei, aber der »alte Mann« zeigte noch keine Ermattung. Das Terrain wurde schwieriger, denn wir näherten uns den Hügeln. Steine und loses Geröll brachten die Pferde zum Stolpern, und hier und da prellte nackter Fels die unbeschlagenen Hufe. Es ging bergauf, und das Känguruh begann zu gewinnen. Wir setzten die Sporen ein, und die Hunde keuchten mühsam höher.

Endlich war der Kamm der Hügelkette erreicht, und nun ging es wieder bergab. Zwei – drei gewaltige Sprünge machte das Wild, und dann fiel es auf einmal auf die Nase und rollte einige Meter den Abhang hinunter. Wieder sprang es auf, und wieder schlug es einen Purzelbaum. Känguruhs können nicht gut bergab laufen. Da verlieren sie das Gleichgewicht, und der Schwanz ist ihnen im Wege.

»Er hat sich gestellt!« rief plötzlich der Vorsteher, der, allen voraus, und am besten beritten, dicht hinter den Hunden geblieben war. Und wirklich, von der Vergeblichkeit seiner Fluchtversuche überzeugt, hatte der »alte Mann« seinen Stand mit dem Rücken gegen einen mächtigen Felsblock genommen und erwartete kampfbereit seine Verfolger.

Kläffend fielen die Hunde auf den bejahrten Herrn. Aber heulend flohen sie wieder, und einer von ihnen wand sich, von der schrecklichen Klaue des Hinterfußes aufgeschlitzt, im Todeskampfe auf dem Boden.

Jetzt kam der Vorsteher zur Hilfe. In voller Karriere hatte er den rechten Steigbügel und Riemen aus der Sattelschnalle geschlüpft, und, die schwere Waffe um den Kopf schwingend, zielte er, während er so nah wie möglich an dem Känguruh vorbeijagte, nach dessen Hinterschädel – und fehlte!

Es ging alles so schnell, ich sah es kaum. Durch die Wucht des Schlages hatte er wohl das Gleichgewicht verloren und war geradeswegs in die kurzen Arme des großen, aufrechtstehenden Tieres gefallen. Wie ein Bär packte ihn der »alte Mann«, und eines seiner kräftigen Hinterbeine fuhr empor, um das Opfer aufzuschlitzen wie den unglücklichen Hund. Im selben Augenblick sauste der Hauptherdenmann vorbei, seinen Bügel schwingend, und wie von einer Kugel getroffen brach das prächtige Wild zusammen und wälzte sich, noch immer mit dem Vorsteher in den Armen, auf dem Grase umher.

Nun stürzten die Hunde darauf los, und zerfetzt und blutig machte sich der Vorsteher aus der Umarmung frei, erhob sich – und fluchte. Er fluchte wirklich schön. Er rief die Rache des Himmels herab auf das Känguruh und alle seine Verwandten, selbst bis in das vierte Glied. Er verwünschte des Känguruhs Vorfahren zu den tiefsten Tiefen des Ozeans und wandte sich dann an die umliegende Landschaft. Er sprach sich mißbilligend über die Granitblöcke aus und benahm sich höchst unehrerbietig gegen das Klima. Er schimpfte über die Regierung der Kolonie und die Zuverlässigkeit des Sattlers. Er schwor, den Gaul, der ihn getragen, sofort zu erschießen und verprügelte gewissenhaft alle Hunde, die noch am Leben waren, und den einzigen Neger, der uns gefolgt.

Es war herzerhebend. Und offenbar tat es ihm wohl.

Der Vorsteher sagte, daß Känguruhjagden nur für Neulinge und Stadtgigerl wären, und er für seine Person ginge jetzt nach Hause. Wir sollten uns aber nicht stören lassen. Offenbar gefiele es uns ja. Aber seine Mißstimmung wirkte ansteckend. Nur der Herdenmann lächelte, während er seinen Steigbügelriemen an den Sattel schnallte.

Spatz und Spätzin

Karl Mayer

Auf dem Dache sitzt der Spatz,
und die Spätzin sitzt daneben,
und er spricht zu seinem Schatz:
»Küsse mich, mein holdes Leben!

Bald nun wird der Kirschbaum blüh'n,
Frühlingszeit ist so vergnüglich;
ach, wie lieb' ich junges Grün
und die Erbsen ganz vorzüglich!«

Spricht die Spätzin: »Teurer Mann,
denken wir der neuen Pflichten,
fangen wir noch heute an,
uns ein Nestchen einzurichten!«

Spricht der Spatz: »Das Nesterbau'n,
Eierbrüten, Junge füttern
und dem Mann den Kopf zu krau'n –
liegt den Weibern ob und Müttern.«

Spricht die Spätzin: »Du Barbar!
soll ich bei der Arbeit schwitzen,
und du willst nur immerdar
zwitschern und herumstibitzen?«

Spricht der Spatz: »Ich will dich hier
mit zwei Worten kurz berichten:
Für den Spatz ist das Pläsier,
für die Spätzin sind die Pflichten!«

Stumme Bitten

Manfred Kyber

Die Schafherde drängte sich aufgeregt zusammen.

Ein altes Schaf erzählte.

»Meine Großmutter hat es selbst gesehen,« sagte es, »es ist etwas Fabelhaftes, Grauenvolles. Man weiß nicht, was es ist. Sie sah auch nicht alles. Sie kam dran vorüber, als sie zur Weide ging. Es war ein Tor, das in einen dunklen Raum führte. Es roch nach Blut am Tor des dunklen Raumes. Zu sehen war nichts. Aber sie hörte den Schrei eines Hammels darin, einen gräßlichen Schrei. Da lief sie zitternd zur Herde zurück.«

Alles schauderte.

»Man weiß nichts Gewisses,« sagte das Schaf, »aber es muß etwas Wahres daran sein. Jedenfalls ist es furchtbar.«

»Deine Großmutter lebt nicht mehr?« fragte ein junger Hammel.

»Ich weiß es nicht,« sagte das Schaf, »es ist schon lange her – da wurde sie abgeholt.«

»Das soll der Anfang sein, man kommt dann nie wieder,« sagten einige.

Der Schäferhund bellte kläffend und trieb die Herde dem anderen Ende der Weide zu.

Da stand der Schäfer und sprach mit einem fremden Mann, der nicht aussah wie ein Hirt. Sie handelten miteinander. Dann ging der fremde Mann mit festen Schritten in die Herde hinein und prüfte die einzelnen Stücke mit kundigen Augen. Es waren nicht die Augen eines Hirten. Jetzt griff seine Hand nach dem jungen Hammel, der vorhin gefragt hatte. Das Tier überlief es kalt. Die Hand fühlte sich anders an, als die Hand des Hirten.

Der Hammel bekam eine Leine um den Hals.

»Den nehme ich,« sagte der fremde Mann und zog einen schmutzigen Beutel mit Geld aus der Tasche. Er bezahlte. Das lebendige Leben gehörte ihm. Er hatte es gekauft.

Er ergriff die Leine und zerrte den Hammel von der Weide fort auf die Landstraße. Die Herde sah dem Davongehenden erschreckt und verständnislos nach. Der Hammel wandte den Kopf. Seine Augen suchten die Verwandten und Spielgenossen. Etwas in ihm krampfte sich zusammen – etwas in ihm rief ihm zu, sich loszureißen und zurückzulaufen.

»Das ist der Anfang, man wird abgeholt,« dachte er.

Aber er wehrte sich nicht. Er war hilflos. Was hätte es genützt?

»Es braucht ja nicht das Schreckliche zu sein,« tröstete er sich, »es gibt noch andere Weiden. Dahin werde ich vielleicht geführt.«

Es war das Vertrauen, das Tiere haben, die zahm gehalten worden sind.

Jetzt bogen sie um die Ecke. Die Herde war nicht mehr zu sehen. Die Weide verschwand. Nur von Ferne hörte man den Schäferhund bellen und die Töne der Hirtenpfeife. Der Wind verwehte sie.

Es war ein weiter Weg. Der fremde Mann ging schnell. Er hatte es eilig.

»Ich bin müde, ich möchte mich etwas erholen,« bat der Hammel.

Es war eine stumme Bitte.

Sie gingen weiter. Es war heiß und staubig.

»Ich bitte um etwas Wasser,« sagte der Hammel.

Es war eine stumme Bitte.

Endlich kamen sie in eine kleine Stadt. Sie gingen durch enge krumme Straßen, in denen es keine Weiden gab. Diese Hoffnung also hatte sich nicht erfüllt.

Sie hielten vor einem Tore, das in einen dunklen Raum führte. Ein häßlicher Dunst schlug dem Tier entgegen. Der Hammel wandte den Kopf und blökte klagend. Er scheute vor dem Dunst zurück und vor dem dunklen Eingang. Eine Angst wurde in ihm wach, im Unterbewußtsein, eine grenzenlose Angst.

»Ich möchte nach Hause,« sagte der Hammel und sah den fremden Mann an.

Es war eine stumme Bitte.

Stumme Bitten werden nicht gehört.

Der Mann schlang die Leine mit einem geschickten Griff um die Hinterbeine des Tieres und zog es vorwärts. Die Schnur schnitt ein.

»Ja, ja, ich komme schon,« sagte der Hammel erschreckt. Die müden steifen Beine beeilten sich.

Es waren nur wenige Augenblicke, aber sie schienen sehr lang. Dann war er in einem dunklen Raum. Es roch erstickend nach Blut und Abfällen – nach Leichen von seinesgleichen.

Man hält es nicht für nötig, das vorher fortzuschaffen. Es ist ja nur Vieh – Schlachtvieh.

Da packte den Hammel ein hilfloses, lähmendes Entsetzen. Ein Entsetzen, das alle stummen Bitten vorher vergessen ließ. Ein Entsetzen, das ganz allein herrschte.

Der Hammel zitterte am ganzen Körper.

»Jetzt kommt das Fabelhafte – das Grauen,« dachte er.

Und es kam.

*

Die Welt ist voll von stummen Bitten, die nicht gehört werden. Es sind Menschen, die sie nicht hören. Es scheint unmöglich, diese stummen Bitten zu zählen. So viele sind es. Aber sie werden alle gezählt. Sie werden gebucht im Buche des Lebens.

Groß und fragend sehen die Augen des Gautama Buddha auf die europäische Kultur.

Macht der Liebe

Walther Unus

Einem armen Dichter erging es toll,
er lag in Angst und Nöten:
Ihm träumte, die ganze Welt war voll
von lauter krummbeinigen Kröten.

Die glotzten wie Kälber und hupften umher
mit langen, schlappenden Ohren,
und die allereklichste hatte er
zu seiner Liebsten erkoren.

Er wußte nicht, wie das alles geschehn
und schämte sich gebührlich –
doch als ers ein Weilchen mit angesehn,
fand er es ganz natürlich.

Der Kolibri

Else Soffel

Kolibri! Für den Nichteingeborenen klingt der Name wie eins jener farbenprächtigen Märchen, die uns der Orient schenkt: ein Märchen, um heimlich daran weiter zu bauen, ein Bild, um es liebend auszuschmücken in träumerischer Stunde. Und Märchen bleibt er auch für den, der ihn gesehen, da alles, was an ihm entzückt, den unnennbaren Zauber um ihn webt, zugleich dasjenige ist, was ihn uns entrückt, und für immer in jener Ferne hält, die dem Genuß seines Anblicks den Reiz des Flüchtigen, der nie restlos befriedigten Sehnsucht gibt.

Ein Vögelchen, kleiner als mancher unserer großen Schmetterlinge, dessen Lichtschönheit und Zartheit das schönste und zarteste seiner Art weit hinter sich läßt, ein Zauberbild, schwindend im Entstehen, ein Schönheitsgedanke und flüchtig wie dieser, ein kostbar zerbrechlicher Besitz, nimmer zu halten, darum ewig begehrt! Nie zu ruhigem Genießen verweilend, immer enteilend, eh' er recht da. Ein farbig aufzuckender Blitz blendet unser Auge. Nein, es ist nur Täuschung, Sonnengeflimmer auf betauten Zweigen. Aber dort, es schwankt ja die Blüte, goldgelbe Dolde, schwer und weich, leise wogend; zwei fremd-süße Augen dringen in deine, dem ein heißsummender Ton noch in Ohr und Herzen hängt, und aufwärts wirft sich's wie ein Schrei der Lust, Funken streuend, Strahlen werfend, wie Feuer zerstiebend!

Und dieses kaum Geglaubte, Unbegreifliche, dessen Schönheit ein Hauch, das dem Tode geweiht, wenn nur auf Stunden aus seinen Bedingungen gerissen, ist von einem Lebenstrieb erfüllt, der mit der Glut seiner Farben gleichen Schritt hält. Rastlos, geizend im Genuß, spielerisch in der Gefahr, in selbstsicherer Furchtlosigkeit diese als unmöglich ablehnend, verwegen bis zur Tollkühnheit, vertrauend in argloser Kinderweise, ein plötzlicher, blitzender, unbegriffener, darum nicht anzugreifender Schreck selbst den Mächtigen seiner Verwandten.

Fülle und Überschwang liebend, brauchend wie einen Teil seiner selbst, mit diesen wandernd, ziehend, überall dem überflutenden, vollstreuenden, jauchzenden Leben nach, bis dorthin, wo es, schnee- und eisgefangen, kärglich bemessenen, heiß genossenen Frühling schenkt. –

Bilder von fremdgroßartiger Schönheit steigen auf: Sonnenglut über brennenden Mesas, die gleich ungeheuern Tischen aufragen, von Zyklopenhand emporgehalten, aus deren Basaltplatte gepanzerte Kaktusblüten aufgleißen, stechenden Flammen gleich, vom Sonnenlicht entzündet, glotzaugig an Stachelkolben sitzend, großblütig angeheftet wie blitzender Ordensstern, weicharmig in die Luft fassend vom heimatlichen Fels, oder als blasses Licht auf reichem Kandelaber sitzend.

Daneben spitzzüngige Agave, Palmlilie, fremd sich absondernd, in ihr eigenes Leben starrend, das der Nacht mehr angehört als dem Tage, wo in lichterfüllter Dämmerung die schwere weiße Glocke an zu tönen fängt, ein seltsamer Akkord zu dem grünlich leuchtenden Gestein, – phosphorn hineinhängt in den Raum. Und als habe Vulkan die schönsten seiner Steine aus der Tiefe gebrochen, um sie einmal im Licht der Sonne spielen zu sehen, so irren flüchtige Funken über das Ganze, Strahlen farbigen Lichtes schießend, in zitternde Schleierwolke gehüllt, wie festgebannt vor den Blüten in der Luft stehend.

Oder du siehst den Frühling, den schönheitbrausenden, über Kalifornien ziehen. Auf waldigen Bergen, in Dickichten ist Lilienteppich gebreitet. Waldgeißblatt, heimlich-verliebt, schlingt zartwirre Arme um Eiche und Lorbeer, glückleuchtend aus hundert korallroten Blütenkelchen, feierdufthauchend.

Manzanila und Madronasträucher haben ihre Flammen aufgesteckt.

Und heimlich wie der Dieb in der Nacht, plötzlich wie Liebesfeuer und vergänglich wie dieses, fremd wie das Glück und schön wie das Märchen, schimmernd wie Waffen sind sie gekommen, flüchtiges Heer am blühenden Morgen, eingefallen ins Blütenmeer. Flügelschwirrend, Liebeslied girrend, an Blumen weidend, Lüfte durchschneidend wie blitzender Stahl.

Ihr Flug ist dem Auge Trug. Ihre Gegenwart stets Vergangenheit. Pflicht des Genießens läßt ihm nicht Zeit. Den Raubvogel schreckt er, dein suchendes Auge neckt er, Nahrung nimmt er vom Strauß deiner Hand, die er fand, als sein Taumelflug ihn vorübertrug, noch ehe dir klar, ob der dich beraubt, Falter oder Vogel war?

*

Und weiter geht sein Verlangen.

Einzig Lieb' und Liebespflichten bringen den Flüchtigen zu einer Zeit ruhigen Verweilens. Von dürrem Zweige herab, an dem er schlaftrunken gehangen, inmitten verwirrender Blütenwildnis zirpt er ein Liedchen, das an die höchsten Töne einer Violine erinnert, klein von Umfang, doch hell, zu den lauten Farbtönen seines Kleides gestimmt, an das Geigen der Insekten mahnend.

In halber Höhe schwebend, auf blühendem Obstbaum, in dichtem Farngesträuch, von Rhododendron oder Jelängerjelieber überragt, mit Moos und Flechten überkleidet, ist – eine halbe Eierschale groß – das Heim errichtet. Einen Bohnenkern groß ist die Hülle für das lebende Juwel. Da bildet sich der Zauber aus. Hat er aber erst das Licht der Sonne erblickt, spiegeln die Äuglein – schwarzblinkender Turmalin – erst die Umgebung wieder, hat er, lustatmend vom Rand des Nestes die Ferne gespürt, so ist kein Halten mehr.

Kurze Probe hält er vielleicht, sich selbst zum Beweise, dann aber, der angeborenen Kunst sicher, im jubelnden Besitz seiner Fähigkeiten, wirft er sich dem Leben entgegen. Und zweifach beginnt aufs neue das Spiel: das Seit- und Rückwärtsfliegen, wie ein Pfeil Geradeausschießen, als Rakete aufwärtssteigen oder als Meteor vom Himmel fallen, im Zickzack um die Bäume schlängeln und schwirrend vor den Blumen schweben, aus der Tiefe heißgefärbter Blumenkelche Insekten und Honig zu naschen.

Die Alten aber, die durch Liebesspiel und Liebesfolgen – noch einmal sind sie zur Brut geschritten – in ihrem alljährlichen Zug nach dem Norden aufgehalten worden, finden wir in Texas wieder.

Der wandernde Frühling hat sie mitgenommen. Über weite Prärien ziehen die Wolken, darunter die Herden. Gleich silbriger Woge wallen mannshohe Gräser, vom Wind gewiegt und singen ruhelos ein einsames Lied, dessen Schluß immer neuer Anfang, dessen Anfang ohne Ende. Narrenunkräuter treiben ihr heimlich-unheimlich Wesen, daß die Tiere, wenn sie davon genossen, wie toll sich gebärdend, hinausrasen in die Steppe. Juwelgras nickt und Sternblume leuchtet, Helianthus ist hier beheimatet. Hochgewachsene Blütengeschlechter führt der Frühling im Gefolge. Auf den Kolibri wartet »painted-cup«, grünlichgelb mit scharlachrotem Kelch, »osweys-tea« mit roten Blütenköpfchen und würzig duftendem Blatt, deren Sippe weithin im Lande in vielen Familien ansässig, rotblühende Kardinalsblume.

Der Kolibri braucht leuchtende Farben. Was sich seinem Blick entgegendrängt, wenn er in jähem Fluge vorübersaust, sich ihm von weitem anträgt, das ist sein. Nicht suchen will er, sondern auf seinem Wege finden.

Mennigrot sind die acht Zentimeter langen Blütendolden der Kolibriblume, die er in Mexiko umschwärmt, scharlachrot, inwendig gelb die blattwinkelig blühenden Kelche der Trompetenblume. Purpurrot punktiert, gelb gefleckt die weißen in fußlangen Rispen prangenden Kinder der Katalpa.

Blumennymphe: ist es nicht Zusammengehörigkeit, Entgegenkommen, das auf Notwendigkeit beruht, wenn der Leuchtende mit den Leuchtenden sich begegnet?

Wenn das Schimmerköpfchen im lichten Dunkel eines Blütenkelches zum eigenen Glanz noch fremden Schmuck anlegt und goldbestäubt wieder zum Vorschein kommt, den Samen zu hundert neuen Blumenleben nichtahnend mit hin wegtragend?

Darum liebt der Kolibri Blumen, die ihren Honig heimlich versteckt am Grunde glocken- oder trichterförmiger Blüten tragen, für sie ist das feine Werkzeug des klingenspitzen Schnabels, der Zunge gebaut. Und unbewußt leistet er damit zugleich Liebes- und Lebensdienst.

Doch noch fehlt der Norden in der Reihe der Bilder.

Denn bis zum Polarkreis zieht alljährlich der kleine Wanderer. Einen Weltteil durch folgt er der Blüte.

Noch wartet auf ihn die üppige Wildnis appalachischer Wälder, an deren Rand die Kastanie steht, wo zu Füßen des Hikory- und Tulpenbaums Dickichte von Farnen wuchern, Wälder im kleinen, die sanften Kerzen der Azaleen durch das Halbdunkel schimmern und Orchideen, seltsam geformt, phantastisch-sündige Märchen erzählen, Schlingpflanzen die hohen Gestalten der Waldbäume umgarnt halten. Genießt dort heißen kurzen Sommer und eilt, vorüber an dunkeln Wäldern mit den schweigsam ernst ragenden Riesen der Douglas- und Balsamtanne, Zedern und Ulmen, dem schroffen Küstengebirge Labradors zu, den Abhängen mächtiger Kanons, wo zwischen Erlen und Platanen das Nest des schwarzkehligen und Costaskolibri aufgehängt ist. Erst mit dem Eintreten des Frostes kehrt er nach südlichen Staaten zurück.

Kolibri – Blumennymphe, Sylphe, Elfe. Nicht umsonst sind deine Namen aus dem Reich des Märchens genommen!

Montezumas Kleid war mit dem Glanz deiner Federn geziert. Nicht nach Sonne und Sternen mußte er greifen wie Allerleirauh, deren drei Kleider aus Sonne, Mond und Sternen gewebt waren. Von der Erde selbst nahm er das schönste, um seine Herrlichkeit zu schmücken!

 

Else Soffel, Ammer im Frühling

Herzacker, müder, willst du nicht mehr tragen
In diesen Tagen?
Lichtumsponnen?
Liegst still und stumm
Und wartest jede Stunde –
Rief irgendwo ein Vogel in der Runde
»Zerronnen«?

Goldnes Gespinst

Irene Heberle

Von all dem Schönen, all dem Lieben,
Ist nur ihr Hündchen noch bei uns geblieben.
Es war so traurig, als sie uns verließ,
Verschmähte Speis und Trank und stieß
Ein schmerzlich Heulen in die Luft,
Da man die Herrin ihm verneinte,
Kroch unter das verlass'ne Bett und weinte.
– Kein Stein bewegte sich an ihrer Gruft. –
Doch eine große Spinne lief erschrocken
Hervor aus düsterem Versteck,
Vermehrend noch des Hundes Leiden. –
Und als der Morgen schien, erglänzte seiden,
Wo einst geruht die sonnenblonden Locken,
Ein Goldgespinst am Kisseneck.

Der Federschmuck

Egon Freiherr v. Kapherr

Ein leiser Wind flüstert im Röhricht, kräuselt das Wasser des Sumpfsees. Blütenstaub fliegt um die Uferbüsche. Unter dem fauligen Laub des Inselbodens lugen Anemonen hervor, weiße, blaue Blüten, die Farne rollen ihre frischen Blattstengel, lichtgrüne Blätter der Seerose schaukeln neben weißen und gelben Blumen. Und dazwischen glotzt Kopf an Kopf – es plätschert und gluckst, pantscht und schmatzt, und ein Quarren hebt an, laut und lauter: Orr – quoarr, orr, oooarrr, orr quarks ... – Und vom Walde her tönt das err, kerrr, eeeerrrrrr des Laubfrosches, das Rucksen und Gurren der Tauber, das Zirpen der Sumpfmeisen und das Flöten der Drosseln. Es ist ein gar vielstimmig Konzert, so emsig, so fröhlich – und doch wieder so ernst. Besonders das der Frösche. Die nehmen's genau mit dem Chor: orrr, quoarks, oarr, quarr. Der Rohrsänger scheint den Kapellmeister zu machen; er hat seine Stimme dem Froschchor angepaßt. Denn gräßlich knarrt seine Strophe. Und als er loslegt, verdoppeln die Grünen ihre Anstrengungen, blasen die Backen auf. Rasend schallt die gemischte Musik des Sumpforchesters. So laut schwingen die Töne, daß die Drossel im Busche wegfliegt. Sie kommt dagegen nicht auf; ihre Stimmmittel reichen nicht. – Oarrr, kerrr, quoarr, quarks – zizizizikerr, kerr, kerr, zizizikerr ...

Oben im Wipfel der Ulme ertönt heiseres Krächzen. Und über die Schilfwand streicht ein Schatten. Dann Flügelbrausen – und – plump, plupps! verschwunden sind die grünen Sänger im Sumpf. Nur der Rohrsänger knarrt weiter. Ihm ist vor dem großen weißen Vogel nicht bange, vor dem Edelreiher, der dort oben seine Jungen atzt.

Das Krächzen in der Spitze der alten Ulme geht in wildes Kreischen über. Dann rauscht der alte Reiher wieder ab – und die Stimmen da oben sinken wieder zu einem Ton, als riebe ein Ast am anderen. Wie ein Kratzen klingt's. Dann fangen die Frösche wieder an – erst wenige, schüchtern, dann in anschwellendem Chorus. Und dazwischen summen die Mücken, brummen die Käfer, schnarrt der Wachtelkönig, plärrt der Rohrspatz. Warmfeuchter Duft von Schilf, von fauligen Blättern, von Erde. –

Und wieder rauscht's. Die Reihermutter, mit Krächzen empfangen. Und wieder plumpen die Frösche ins Wasser ...

Nochmals streichen die Alten herzu, nochmals bringen sie Atzung. Dann aber hockt die Mutter auf dem Horst, der Vater auf dem dicken Ast daneben.

*

Der Abend. Rosige Nebel steigen auf, brauen in Schilf und Busch, legen sich in dichten Schwaden um den Fuß der Silberpappeln, Ulmen, Linden und Schwarzpappeln am Ufer. Und die Frösche verdoppeln ihre Anstrengungen, Unkenruf schallt dazwischen, Gezeter der Drosseln, die durch irgendein Raubtier aus ihrer Ruhe geschreckt wurden, Eulenruf und Sang des Rohrsperlings. Dazu pfeifender Flügelschlag ziehender Enten, Geschnatter, rauschender Einfall, Plärren der Nachtschwalben, Brüllen der Rohrdommel ...

Und die Nacht sinkt. Noch ein paarmal gaukelt die Rohrweide über den Binsen, noch zieht eine späte Schnepfe, die den Zug nach Norden verpaßte, weil sie, Gott weiß wo, bleiwund ward. Dann aber herrschen die Eulen, die Nachtschwalben und Nachtschmetterlinge. Nur das Unkenrufen und Fröschequarren bleibt laut, das Plätschern eines Fisches im Rohr, das Brüllen der Rohrdommel.

Ü – pruup, üüüüü – prump ... Oarrr, quoarks, aaarrrrr, orrrr, quaaaks. – Und dunkel wird's um den letzten Reiherhorst, den letzten der großen Kolonie am Altwasser des Stromes ...

*

Rotes Morgenfeuer über den Wipfeln der Silberpappeln. Roter und goldener Schein über dem Auwasser. Und mit platschendem Ruderschlage ein Boot. Schweigende Ruderer. Schweigend der Mann vorn im Kahn. Und der Frühschein glitzert auf den Läufen der Flinte. Das Boot windet sich, folgt den Krümmungen des Flusses, durch Fallholz, Astgewirr, hindurch zwischen Faulstämmen, Wurzeln, Ried. – Und stößt knirschend ans Ufer der Insel, wo die Pappeln, wo die uralte Ulme, wo der Horst am Wipfel, der letzte.

Und dann rollt's wie Donner, jäh flammt es auf – prasselnd stürzt die alte Reihermutter durch die Zweige. Und als der Vater mit Atzung heranrauscht, bricht's ihm den Flügel. Und er schwankt, er taumelt, fällt, klatscht aufs Wasser nieder. Da sperrt er den Schnabel seinen Feinden entgegen – rot färbt sich die Lache. Und er rudert, schlägt mit der Schwinge ... Der Mann aber in der Spitze des Kahnes hebt den Stock ... Und dann fährt das Boot davon. Und im Horst ist heiseres Krächzen.

*

Zweimal sank und stieg das Licht. Die Frösche quarrten, die Gelsen summten wie vordem. Da war es still im Horst. Kein Krächzen mehr. Kein Geschmeiß fiel mehr durch die Zweige.

*

Dort in der großen Stadt, wo das Leben am meisten pulsiert, wenn der Tag erlosch, ist eine schlechte Stätte. Und darinnen spielen bunte Musikanten bunte Lieder, und buntbemalte Weiber lauern auf ihr Wild. Und sie sitzen hinter den marmornen Tischen zur Schau, wie Lockvögel am Vogelherd, wo die Gimpel schwirren. Auf ihren Schultern prahlt der Balg des Zobels, den der Jakute im eisigen Sibirien fing, der Fuchs, der Otter, die das tückische Eisen im fernen Nordland quälte, in ihren Locken nickt die Feder des Paradiesvogels.

Auch die der letzten weißen Reiher vom Altwasser des Flusses, wo die alten Silberpappeln, wo die alte Ulme mit dem Horst auf der Insel ...

Bunte Weiber und bunte Musik; Zote und sattes Lachen.

Wer hört das heisere Krächzen?

Zote und sattes Lachen, bunte Weiber und bunte Musik!

Die vierbeinige Gefahr

Hermann Harry Schmitz

Herr, die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister,
Werd' ich nun nicht los –

klagt Goethes Zauberlehrling, klagten die Menschen, als sie sich bewußt wurden, was sie mit der Erziehung der Pferde zu denkenden Wesen angerichtet hatten.

Das intellektuelle Pferd, dessen Denken der ahnungslose Mensch durch harmlose Zahlen- und Buchstabenexperimente weckte, wurde in seiner unaufhaltsam fortschreitenden, starken geistigen Entwicklung von Generation zu Generation ein schwer wiegender Faktor, der sich eines Tages riesengroß und unerbittlich in die überlieferten Institutionen der Menschen schob.

»Gleiches Recht für Pferd und Mensch!«

»Was dem Menschen recht, ist dem Pferde billig!«

Mit dieser Forderung, mit diesem Schlagwort traten die intellektuellen Pferde aus ihrer tierischen Reserve an die Menschheit heran. Sie verlangten Aufnahme in das Staatswesen und in die Gesellschaft als vollwertige Bürger.

Es wurde ein Zentral-Komitee mit dem Sitz in Elberfeld gebildet. Von hier ging eine eindringliche, wohlorganisierte Propaganda aus, die einen Zusammenschluß aller gleichgesinnten Pferde und eine einheitliche Stellungnahme in dieser so wichtigen Existenzfrage erstrebte.

Die überwiegende Mehrzahl der Pferde trat der Emanzipationsbewegung bei.

Nur eine geringe Anzahl geistig schwach entwickelter Pferde ohne Freiheitsgefühl und fortschrittliches Interesse kümmerte sich nicht um die Evolutionen einer neuen Zeit.

Die intellektuellen, positiven Massen sammelten sich im festen Bestreben, unter allen Umständen und mit der größten Energie den Menschen gegenüber ihre Ansprüche auf Gleichberechtigung durchzusetzen.

Man tat alles, was dem förderlich war.

Vereine wurden gegründet. Politische Stammtische entstanden. Zeitungen und Flugblätter kündeten die Maximen des Zentral-Komitees.

Delegierte wurden gewählt, die auf den regelmäßig stattfindenden Versammlungen in Elberfeld die Interessen ihrer beauftragten Verbände zu vertreten hatten.

Die Pferde standen nicht alle auf dem gleichen Niveau der Bildung, es war genau wie bei den Menschen. Namentlich haperte es bei vielen Pferden noch bedenklich mit der Sprache. Klar und deutlich sprachen im Grunde nur wenige. Bei den meisten kamen die Sprachlaute gröhlend und unrein wie die Stimme eines ausgesungenen alten Komikers. Man gewöhnte sich aber auch an dieses unharmonische und unfertige Sprechen, welches dem bisherigen umständlichen Hufklopfsystem, das dem Pferde als erste Äußerung des Intellektes von den Menschen beigebracht worden, unbedingt vorzuziehen war. Es gab noch derartige, weniger begabte Pferde, die zum Ausdruck ihrer Gedanken auf die überholte Klopfmanier angewiesen waren und stets ihre Zahlen- und Buchstabenbretter wie Notenmappen umhängen hatten.

Sie mußten natürlich hinter die sprechenden Pferde zurücktreten. Die meisten aber waren bemüht, sich mit der Kunst des Sprechens vertraut zu machen, und besuchten die Mittwochs und Samstags bei einer gebildeten Stute stattfindenden Sprachkurse. Dort nahm das bildungsbeflissene Pferd auch seine Klavierstunden.

Der große Tag kam, der Tag des großen Pferde-Dings in Elberfeld.

Alle Rassen vom edelsten Vollblüter an bis zum Pferde gemeinen Schlages waren vertreten.

Dort standen in einer Gruppe mehrere englische Vollblüter, glatt rasiert, nach der letzten Mode der Bond Street gekleidet, mit kurz zugestutzten Mähnen, und mokierten sich in unterstrichen arroganter Weise über andere, nicht so gut gekleidete Pferde. Trakehner mit dicken Upman-Zigarren zwischen den Zähnen, mit eleganten Bügelfalten und lackierten Hufen, Schweif und Mähnen mit Kosmetik steil aufrecht »es ist erreicht« gekämmt, benahmen sich höchst anmaßend und warteten, daß sie von den anderen Pferden zuerst gegrüßt würden. Sie machten sich laut und unanständig lustig über eine Gruppe biederer Oldenburger Pferde in Landestracht und mit qualmenden Pfeifen. Ein Orlow-Traber mit weißer Weste und einem Kneifer lief geschäftig umher und stellte sich überall vor. Einige abseits stehende Pferde kratzten sich fortgesetzt unruhig mit den Hufen: es waren sogenannte Jucker. Sie standen ziemlich isoliert; man mied sie und rückte ab. Belgische Kaltblüter stellten sich breitbeinig überall in den Weg; einige repetierten für sich aus dem Sprachführer. Einen betrüblichen Eindruck machte eine Anzahl klapperiger, rassenloser Gäule, die wie schiefe Holzgestelle, mit durchgedrückten Knieen und hängenden Köpfen im Gefühl der Nichtigkeit herumstanden. Dazu trugen sie noch jene lieben Sonnenstrohhüte, die der Mensch in seiner Güte, als Auftakt einer kulturgemäßen, fortschrittlichen Bekleidung, den Droschkengäulen einst stiftete.

Korpulente Ardenner, an den Uhrketten schwere goldene Berlockes, schäkerten mit niedlichen, schicken, lockeren Ponystuten, deren Mähnen zu lustigen Löcklein und deren Schweife zu graziösen Pleureusen frisiert waren; sie trugen Ledertäschchen bei sich. Diese entzückenden Geschöpfe waren wohl kaum aus politischen Gründen zum Meeting gekommen. Ein vierschrötiger Ardenner, der nach Kognak roch, mußte wohl einen anzüglichen Witz gemacht haben, die Ponys kicherten in ihre Taschentücher und platzten schließlich laut aus. Ein Pony verlor Haarnadeln.

Ein Hunter, der übelgelaunt in der Nähe stand, schüttelte mißbilligend den Kopf. Er war verdrossen, daß er so allein war und die Ponys auf sein Augengeblunzel nicht reagierten. Er grub ärgerlich seine Hufe in die Taschen seines Paletots.

Mehrere frauenrechtlerische Stuten in Reformkleidung waren auch erschienen. Sie trugen die Mähnen zu Brezeln geflochten über den Ohren.

Man sah hier und da sprachunkundige oder unsichere Pferde, die sich zur Vorsicht ihre Zahlen- und Buchstabenkopfbretter mitgebracht hatten. Im Grunde war es ihnen peinlich, und sie wurden rot, wenn man sie fixierte. Ja, ja, Nichtwissen ist beschämend.

Das Durcheinander von Stimmen, Scharren und Klopfen, von gelegentlichem atavistischem Wiehern, das Gekicher der losen Ponys wurde plötzlich von einem gellenden Trompetenstoß, den dreißig als Herolde verkleidete Karrenpferde von sich gaben, unterbrochen.

siehe Bildunterschrift

Ernst Moritz Geyger, Nilpferd.

Füllen, in der Uniform von roten Radlern, drangen in die Menge ein und forderten auf, die Plätze in der riesigen Dinghalle, die einst als Luftschiffhalle diente, einzunehmen.

Ein Schieben und Stoßen und gegenseitiges Auf-die-Hufe-Treten begann. Namentlich am Eingange war das Gedränge fast lebensgefährlich. Einer frauenrechtlerischen Stute trat man die Stoßlitze vom Kleid. Einem Ardenner stahl man die Börse. Ein Rotes-Radler-Füllen wurde erdrückt. Ein trauriger Droschkengaul verlor sein Sonnenhütchen.

Es dauerte eine Weile, bis alle Pferde, nach Rassen und politischer Überzeugung sortiert, ihre Plätze eingenommen hatten.

Neben den Juckern wollte niemand sitzen.

Auf dem Podium, das den Saal beherrschte, standen rote Plüschsessel und mit grünem Tuch überzogene Tische. Auf jedem Tisch standen eine Wasserflasche und ein Glas. An den Wänden waren auf Wandbrettern Gipsbüsten von berühmten Pferden, von Hans II., Muhamed, Zarif, Rosinante, Grane, Pegasus u. a., aufgestellt.

Ein alter Schimmel, scheinbar an Podagra leidend, im eleganten mit Orden geschmückten Überrock, wurde von zwei Pferden im Smoking, die schwarze Ledermappen trugen, die Treppe zum Podium hinaufgeführt und in dem roten Sessel, der unterschiedlich von den anderen mit einem sogenannten hohen Haupt, mit vergoldetem Emblem, geschmückt war, niedergesetzt.

Der alte Schimmel war das Oberroß Graf Bertram von Hafersack-Trense aus einer alten Trakehner Familie. Er war der Führer und tatkräftige Organisator der Pferdebewegung. Er leitete mit großem Geschick die Versammlungen. Stellvertretender Vorsitzender und der rechte Huf des Grafen war Isidor Pleißen-Kohn, ein bewährter Finanzmann und gerissener Diplomat. Isidor Pleißen-Kohn trug die Mähne zu Teiteles gedreht. Er war der Sohn eines Althändlerpferdes in Kandrzin; darüber sprach er aber natürlich nicht.

Das ganze Komitee bestand aus zwanzig Mitgliedern, zumeist Abkömmlingen alter Familien mit klingenden Namen. Es waren nicht alle besondere Intelligenzen. Sie saßen erhaben auf den roten Sesseln und imponierten der Masse.

Ganz an der Seite des Podiums, dicht am Ofen, saßen eng zusammengedrückt auf Rohrstühlen fünf Menschen, richtige lebendige Menschen, und ein Phonograph. Die Menschen wirkten kümmerlich und verschwanden ganz neben der Majestät des Pferdekomitees. Das war die Vertretung der Menschheit.

Die Kommission der Menschen bestand aus einem Rechtsanwalt, einem Assessor, einem Pferdearzt, einem Zirkusdirektor und einer Schreibmaschinistin. In den Phonographen war die Rede des Professors Kutschbock eingeschaltet, einer weltberühmten Koryphäe auf dem Gebiet der Rassenvermischung und Entwicklungslehre. Er war ein Mann von 180 Jahren und verließ als scheuer Gelehrter nie seine Studierstube. Er vermittelte der Welt die Ergebnisse seiner Forschungen durch den Phonographen.

Feindliche Blicke aus Pferdeaugen trafen die Menschen, die sich sichtlich unbehaglich fühlten. Nur vor dem Phonographentrichter hatten die Pferde eine gewisse Scheu. Die Menschen rutschten auf ihren Sitzen hin und her. Die Schreibmaschinendame spitzte ihren Bleistift. Der Phonograph räusperte sich.

Plötzlich ließ ein neuer Fanfarenstoß der dreißig Karrenpferde das Stimmengewirr und Geräusch in der Halle verstummen.

Das Oberroß Graf Bertram von Hafersack-Trense erhob sich, begrüßte in markigen Worten kurz die Versammlung und forderte auf, ein gemeinsames Lied zu singen.

»Wir halten fest und treu zusammen, hipp, hipp, hurra!« schallte allsogleich aus kräftigen Pferdestimmen ein schreckliches, ohrenzerreißendes Gegröhle durch die Halle. Jedes Pferd bemühte sich, seine Nachbarn zu überwiehern. Ein ergrautes Roß mit einer Brille und einem Kapotthut, eine Witwe, aus Krefeld, begleitete den Gesang auf dem Harmonium.

Die Büste Granes fiel durch den Spektakel herunter und zerschellte am harten Schädel eines stämmigen Oldenburgers.

Entsetzt schauten die Menschen in das Tohuwabohu aufgerissener Pferdemäuler.

Das Lied war aus.

Graf Bertram von Hafersack-Trense erhob sich, wieherte atavistisch in den Saal und wollte zu reden beginnen. Ein plötzlich ausbrechendes Stimmengewirr, ein wütendes Gekeif ließ ihn nicht zu Wort kommen. Die frauenrechtlerischen Stuten entrüsteten sich über die Ponys und fühlten sich schwer in ihrer Moral verletzt. Die Ponys hielten natürlich auch nicht zurück, und man fiel mit häßlichen Schimpfworten übereinander her. Die Moral siegte. Die Ponys wurden von den Polizeipferden aufgeschrieben und aus der Halle geschafft. Einige Ardenner Lebemannspferde begleiteten sie zu ihrem Trost.

»Sehr peinlich, überaus peinlich,« begann das Oberroß mit vor Erregung zitternder Stimme, als sich der Tumult gelegt hatte; »äußerst peinlich. Ich bedaure diese fatale Störung ungemein. Ich werde Vorkehrungen treffen, um fürderhin derartige unliebsame Vorkommnisse zu vermeiden. Man möchte fast glauben, man wäre unter Menschen« – – –

Der Rechtsanwalt schaute auf, setzte seinen Kneifer auf, der an einer seidenen Schnur auf der gelben Weste baumelte, und unterbrach scharf den Redner: »Wie, unter Menschen? Keine Beleidigungen, wenn ich bitten darf! Wir wollen Ihr Bestes! Benehmen Sie sich aber anständig, ich sage nur Deichsel, ich sage Stall! Merken Sie sich das!« Der Zirkusdirektor klatschte mit der Reitpeitsche an seine Schaftstiefel.

Ein entsetzliches Gewieher und Getrampel folgte dem Zuruf des Rechtsanwaltes. Man drohte den Menschen mit geballten Hufen und schrie ihnen beleidigende Worte zu.

Aus dem Stimmengewirr klang das Organ des Oberrosses, es warf sich in die Brust und schrie zu den Menschen hinüber: »Wir verbitten uns alle Anzüglichkeiten – wr vrbttn, wr... wr – –« Es verlor in der Aufregung die Sprache und begann mit den Hufen zu klopfen nach dem veralteten Buchstaben- und Zahlensystem. Das war eine Blamage, alle Pferde empfanden das. Das Prestige litt erheblich. Graf Bertram von Hafersack-Trense ließ sich zurück in den Sessel fallen und markierte Ohnmacht. Man gab ihm Aspirintabletten, er schluckte das Glasröhrchen mit hinunter.

Das Stimmengewirr im Saal verlief in ein stilles Gemurmel und Schnaufen. Die Pferde fühlten sich plötzlich klein.

Isidor Pleißen-Kohn putzte sich laut die Nase, räusperte sich und sprach beruhigend, zwei Hufe in Börsenmanier in den Armlöchern der Weste, mit fettiger Stimme: »Mer wolle, nebbich, niemande kränke. Gott, wie haißt, der Herr Vorstand der is e altes Roß und nerviös. Da kann schon, nebbich, e Wort falle in de Debatt. Red mer a so, red mer a so, ma kommt in de Hitz, nebbich. – Das wird der Herr von Rechtsanwalt einem alten Mann verzaihe. Mer wolle sage, was mer wolle. Mer müsse zu en a End kommen. Nu, wie haißt, mer müsse wisse, woran mer sinn, nebbich. Benjamin Wallach, unser gebenschtes Komiteemitglied wird e Referat gebe, nebbich. Benjamin Wallach wird spreche.«

Benjamin Wallach, ein Halbblüter mit Spitzbart, galt als tätiger Förderer der Pferdeemanzipation. Er war der Deputierte von Wallachisch-Meseritsch.

»Wir sind heute hier zusammen gekommen,« begann Benjamin Wallach in schlesischer Mundart, »um endgültig festzulegen, was wir Pferde wollen, endgültige Normen zu fixieren, die uns gleiche Rechte mit den Menschen gewährleisten. (Beifallsgewieher.) Der gegenwärtige Zustand ist für uns unhaltbar und entehrend. Das Dilemma ist unserer unwürdig. Im Grunde ist es eigene Schuld der Menschen, daß alles so kam. Die Erfindung der Autos, Dampfpflüge, elektrischen Bahnen, Dampfkarussells usw., die sogenannte Eroberung der Luft durch Äroplane und Luftschiffe, wo wir, bodenständig, wie wir sind, nicht mittun können, alle diese technischen Neuerungen und Erfindungen haben unsere Arbeitskraft überflüssig gemacht. Die animalische Kraft war ausgeschaltet. Eines Tages fanden wir uns beschäftigungslos. Dann begann der Mensch, mehr als Spielerei, unseren Intellekt zu wecken. Man experimentierte mit uns herum, wie im Laboratorium mit Säuren und Salzen, unterwies uns, Buchstaben und Zahlen zu lesen, erweckte die Tätigkeit des Hirns, die bisher brach lag. Die Menschen gaben uns die Anregung; wir haben uns nun weiter entwickelt von Generation zu Generation und stehen heute, ich darf wohl sagen ohne Überhebung, auf gleicher Stufe mit den Menschen. Bei uns kommt zu den intellektuellen Fähigkeiten noch die körperliche Kraft und Schönheit, in der wir die Menschen übertreffen. Es ist nicht unbillig, wenn wir jetzt energisch unsere Ansprüche auf die offizielle Anerkennung einer Gleichberechtigung voll und ganz geltend machen. Was wir wollen?

Wir wollen teilnehmen an allen Äußerungen der Zeit. Wir wollen ein Faktor sein. Alle öffentlichen Einrichtungen, alle Institutionen sollen uns gleich wie den Menschen unbeschränkt zur Verfügung stehen. Müssen wir den Menschen danken, daß sie unsere Gehirne dressierten und uns wie abgeschnittene Windvögel, weil andere Erfindungssensationen, auf technischem Gebiet, sie ganz in Anspruch nahmen, einfach unserem unfertigen Schicksal überließen? Nein, nein und nein! Wir erwarten heute von den Menschen bestimmte Entschließungen. So ist der Zustand auf die Dauer unmöglich. Herr Rechtsanwalt, wollen Sie sich äußern und uns befriedigende Aufschlüsse und Kompromißvorschläge machen?«

Allgemeiner Beifall bei den Pferden, als Benjamin Wallach geendet.

Ein altes Pferd mit einem Kranzbart und einem Patriarchengewand aus Biber drängte sich an das Podium und bat ums Wort. Respektvoll machte man ihm Platz. Mit sonorem Organ begann es: »Denn die Menschenkinder haben ihr Los, und das Tier hat sein Los, und beider Los ist dasselbe. Wie das eine stirbt, stirbt das andere. Sie haben alle einen Geist, und der Mensch hat vor dem Tiere nichts voraus – so schrieb der weise Salomon in seiner Predigt.« Das alte Roß mit den Kranzbart verneigte sich und kletterte vom Podium.

Man war sichtlich ergriffen, und auch die Menschen empfanden den Eindruck dieser alten Offenbarung.

Es meldeten sich noch eine Anzahl anderer Pferde zu Wort, die alles mögliche verlangten, Besuch der Theater, von Tanzlokalen, Restaurants, Bars, Varietes, Fünfuhrtees, gesellschaftlich verkehren zu können, Leutnant zu werden, in den Stadtrat und Reichstag gewählt zu werden, kurz und gut, an allen Amüsements der Menschen teilzunehmen.

Es wurde eine Lehrergehaltserhöhung, Zollermäßigung für den Haferimport, freie Zuchtwahl und Einführung neuer Freimarken von einem konfusen Pferd beantragt. Das war ein Hin und Her.

Ein alter Droschkengaul klopfte seinen Wunsch in die Debatte, man möchte den alten Haferfreßsack wieder einführen, er käme mit Gabel und Messer nicht zurecht.

Man verachtete ihn – was er verlangte, war höchst deplaciert. Das Schreibmaschinenmädel kam kaum mit.

Die Menschen steckten die Köpfe zusammen und berieten. Der Assessor war eingeschlafen.

Der Zirkusdirektor schrie plötzlich in den Saal: »Hotte hüh, hotte hüh!« Die Pferde schreckten zusammen. Der alte wohlbekannte Ruf verfehlte nicht seine Wirkung. Atavistischer Respekt ließ die Pferde verstummen.

Der Rechtsanwalt benutzte die Stille und erklärte in fein juristischer Ausführung, daß es den Menschen keineswegs an einer Steigerung des feindlichen Gegensatzes liege, sondern daß man geneigt sei, in einem geistreichen Kompromiß die Angelegenheit zu erledigen. Dieser Kompromiß beruhe auf der grandiosen Theorie des Professors Kutschbock. »Durch diesen Phonographen« – der Rechtsanwalt legte eine Platte auf – »vermittelt Ihnen der geniale Forscher seine Thesen über Rassenvermischung und kommt zu einer genialen Lösung der entstandenen Gegensätzlichkeit zwischen Pferd und Mensch.«

Er steckte einen Groschen in den Apparat, und schon begann nach kurzem Gekrächze der Vortrag des Professors, deutlich und klar. Die Platte war neu. Die Pferde sperrten die Mäuler auf. »Nimma hon i dös g'sehn,« entfuhr es einem Münchener Bräupferd. Die Pferde lauschten respektvoll den Worten der Wundermaschine.

Über Philosophisches und praktische Lebensweisheit, über kulturelle Errungenschaften, über den Fortschritt auf allen Gebieten, über die politischen Konstellationen und alles Zeitgemäße sprach der berühmte Professor in klarer, übersichtlicher Weise. Er referierte den Entwicklungsgang der Pferde. Er entwickelte seine eigenen wissenschaftlichen Erfahrungen in bezug auf Rassenmischung und Neuzüchtung. Wie ihm die erfolgreiche Kreuzung der heterogensten Tiere gelungen sei und viele neue Tierarten ihm ihr Entstehen verdankten. Er sprach von seinen Forschungen speziell auf dem Gebiet der Anatomie pferdlicher und menschlicher Organismen. Er stellte pferdliche körperliche Vorzüge gegen menschliche Schwächen und umgekehrt. Er folgerte die großen Vorteile, die sich bei einem Ausgleich der Plus- und Minus-Eigentümlichkeiten der beiden Rassen zuverläßlich und logisch ergäben. Er kam in gesteigerter Beredsamkeit und schlagender Beweisführung zu dem Schluß, daß nur in einem Kompromiß zwischen Mensch und Pferd, in einem Zusammenschluß dieser beiden sich ergänzenden Rassen zu einer grandiosen Kreuzung das Heil und eine sichere Zukunft einer stabilen weltbeherrschenden Normalbevölkerung: ein höheres Menschenpferdetum erstehen würde.

Die Platte lief ab. Professor Kutschbocks Rede verlief sich in einem spitzen Gekratze des Stiftes auf der Platte.

Ganz dumm schauten sich die Pferde gegenseitig an. Sie konnten an diese für sie so enorm schmeichelhafte Lösung der Angelegenheit nicht glauben. Es war ein aufgeregtes Gemurmel. Die Pferde bekamen hochrote Köpfe.

Der Rechtsanwalt erhob sich und sprach ernst und in einem der Wichtigkeit der Situation angemessenen, weihevollen Tone: »Ich beziehe mich, meine werten Pferde, auf die geistvollen, schlagenden Ausführungen Professor Kutschbocks und seinen genialen Vorschlag. Ich nehme an, daß Sie entschlossen sind, diesen Kompromiß zum Heil unserer beiden Rassen, zur Schaffung eines neuen, starken Geschlechtes anzunehmen. Wir wollen abstimmen, und ich bitte Sie, durch Hochheben des linken Vorderfußes Ihr Einverständnis mit unserem Vorschlag zu erklären!«

Ein Wald von Hufen schoß jäh in die Höhe. »Hoch die Menschen, hoch der Kompromiß!« schrieen die Pferde, und es war keines, das sich ausgeschlossen hätte.

Ein Festmahl mit französischem Sekt beschloß den Zusammenschluß von Mensch und Pferd.

*

Und der Zentaur war der Herr der Welt.

Eine alte Sage ging in Erfüllung.

Der Grashüpfer

Waldemar Bonsels

Das war einmal ein Tag! Morgens ganz früh hatte es getaut, dann war die Sonne über dem Wald aufgegangen und hatte ihre Strahlen schräg über den grünen Graswald geschickt, so daß ein Glitzern und Funkeln begann, daß man vor Seligkeit und Entzücken über einen Anblick von solcher Pracht nicht wußte, was man sagen oder tun sollte.

Die kleine Maja hatte schon gleich beim Erwachen lauter helle Jubelrufe um sich her vernommen. Teils kamen sie hoch aus den Bäumen, von den gefürchteten Vögeln, deren Stimmen doch so lieblich erklingen konnten, oder aus der Luft von vorüberfliegenden Insekten oder aus Büschen und Gras von Käfern, Schmetterlingen und kleinen und großen Fliegen.

Maja hatte es sich in einem Baumloch recht behaglich eingerichtet. Es war sicher und trocken und blieb auch nachts recht lange warm, da den Tag über die Sonne auf den Eingang schien. Zwar hatte sie einmal in aller Frühe den Specht am Stamm ihres Baumes klopfen hören und sich schleunigst davon gemacht. Denn den Specht klopfen zu hören, das ist für ein kleines Insekt, das sich in der Baumrinde verborgen hält, so schlimm, als wenn unsereins nachts die Geräusche eines Einbrechers hört, der die Fensterläden aufbricht. Aber in der Nacht war sie sicher, dann suchte niemand sie in ihrem hohen Versteck.

In einem zurückliegenden Spältchen, in dem es dunkel und kühl war, hatte sie sich ein kleines Honiglager angelegt, um für Regentage mit Nahrung versorgt zu sein; und den Eingang zu ihrer Waldburg hatte sie mit Wachs ein wenig zugeklebt, so daß er nicht größer als eben nötig war, um bequem hineinschlüpfen zu können.

Und mit einem hellen Jubel voll Lebensfreude schwang sich die kleine Maja an diesem Morgen in den Sonnenschein hinaus, um zu erfahren, was dieser neue schöne Tag ihr bringen würde.

Sie segelte gradaus durch das goldene Licht der Luft, so daß sie wie ein kleines rasches Pünktchen aussah, das der Wind dahintrieb.

»Heute werde ich einem Menschen begegnen,« rief sie, »an solchen Tagen sind sicher auch die Menschen unterwegs, um sich in der hellen Natur zu erfreuen.« Es waren ihr noch niemals so viele Insekten begegnet, es war ein Kommen und Treiben, ein Summen, Lachen und Jubeln in der Luft, daß man unwillkürlich mit einstimmen mußte.

Die kleine Maja ließ sich endlich in einem Graswald nieder, in dem vielerlei Blumen und Pflanzen wuchsen. Die höchsten waren die weißlichen Blütenbüschel der Schafgarbe und Mohnblumen, die knallrot und leuchtend eine große Anziehungskraft ausübten. Als Maja ein wenig Honig aus einer Akeleiblume genommen hatte und eben im Begriff war, weiterzufliegen, begegnete ihr auf einem Grashalm, der sich zu ihrer Blume hinüberbog, ein ganz seltsamer Geselle. Anfangs erschrak sie sehr, weil sie nicht für möglich gehalten hatte, daß solch ein grünes hageres Ungetüm vorkommen könnte, aber dann wurde doch ihr ganzes Interesse in so hohem Maße wach, daß sie wie angewurzelt sitzen blieb und den langbeinigen Fremdling anstarrte. Es sah aus, als habe er Hörner, aber es war nur seine seltsam vorgerückte Stirn, die es so erscheinen ließ. Zwei unendlich lange, fadendünne Fühler waren daran, er erschien sehr schlank und hatte zierliche Vorderbeinchen und ganz dünne unauffällige Flügelchen, mit denen sich nach Majas Meinung nicht viel anfangen ließ. Das Merkwürdigste aber waren seine zwei großen, hohen Hinterbeine, die ihn wie zwei riesige geknickte Stelzen weit überragten. Er war über und über grün, und seine listigen Augen hatten etwas Freches und Erstauntes zugleich, aber man konnte wohl sagen, daß sie nicht boshaft, sondern viel eher gutmütig waren.

»Nun, Mamsell,« sagte er zu Maja, offenbar durch ihren verwunderten Gesichtsausdruck geärgert, »Sie haben wohl noch keinen Grashüpfer gesehen? Oder legen Sie Eier?«

»Was fällt Ihnen ein,« rief Maja zornig. »Wie sollte ich auf diesen Gedanken kommen? Auch wenn ich es könnte, würde ich es niemals tun. Wie sollte ich den heiligen Pflichten der Königin in so leichtsinniger Weise vorgreifen?«

Der Grashüpfer duckte sich etwas zusammen und machte ein ganz unbeschreiblich komisches Gesicht, so daß Maja trotz ihres Verdrusses laut lachen mußte.

»Mamsell,« rief er, aber dann mußte er selber lachen und sagte nur noch: »Nein so was! Sie sind aber Eine!«

Maja wurde ganz ungeduldig durch das Benehmen dieses seltsamen Gesellen. »Warum lachen Sie denn?« fragte sie nicht grade freundlich, »Sie können doch nicht im Ernst verlangen, daß ich Eier legen soll, und noch dazu hier auf den Rasen.«

Da knackte es, der Grashüpfer sagte: »Hoppla,« und fort war er.

Maja war ganz verdutzt. Hoch in die Luft hatte er sich geschwungen, ohne seine Flügel zu brauchen, in einem riesigen Bogen und, wie es Maja erschien, in einer an Wahnsinn grenzenden Tollkühnheit.

Aber da war er schon wieder. Sie hatte nicht sehen können, woher er kam, aber nun saß er neben ihr auf dem Blatt der Akeleiblume.

Er betrachtete sie von allen Seiten, von hinten und von vorn:

»Nein,« sagte er dann schnippisch, »Sie können allerdings keine Eier legen, Sie sind nicht darauf eingerichtet. Sie haben keinen Legestachel.«

»Was,« sagte Maja, »keinen Legestachel?« Sie deckte sich etwas mit ihren Flügeln zu und drehte sich so um, daß der Fremde nur ihr Gesicht sehen konnte.

»Ja natürlich. Fallen Sie nur nicht von Ihrem Podium, Mamsell. Sie sind eine Wespe, nicht wahr?«

Etwas Schlimmeres hätte nun der kleinen Maja in aller Welt nicht begegnen können.

»Schockschwerenot!« rief sie.

»Hoppla!« antwortete der Grashüpfer, und fort war er.

»Ich werde ganz nervös über so einer Person,« sagte Maja und beschloß fortzufliegen. Solange sie denken konnte, war ihr eine solche Beleidigung noch nicht widerfahren. Mit einer Wespe verwechselt zu werden, bedeutete ihr die größte Schmach, mit diesem nutzlosen Raubgesindel, mit diesem Diebsvolk, diesen Landstreichern. Es war in der Tat empörend.

Aber da war der Grashüpfer plötzlich wieder da.

»Mamsell,« rief er, und drehte sich langsam ein wenig, wobei seine langen Hinterbeine aussahen wie Uhrzeiger, wenn es fünf Minuten vor halb sieben ist, »Mamsell, Sie müssen entschuldigen, daß ich zuweilen das Gespräch unterbreche. Aber plötzlich packt es mich. Ich muß springen, um die Welt muß ich springen, wohin es immer sei. Kennen Sie das nicht auch?«

Er zog seinen Mund von einem Ohr zum anderen, indem er Maja anlächelte, Sie konnte nicht anders, sie mußte lachen.

»Nicht wahr?« sagte der Grashüpfer und nickte ermutigend.

»Wer sind Sie denn nur?« fragte Maja, »Sie sind schrecklich aufregend.«

»Aber man kennt mich doch überall,« sagte der Grüne und grinste wieder, so erschöpfend, wie Maja noch niemals jemanden hatte grinsen sehen. Sie wußte nie recht, ob er etwas im Ernst oder im Scherz meinte.

»Ich bin in dieser Gegend fremd,« sagte sie freundlich, »sonst würde ich Sie sicher kennen, aber ich bitte Sie, sich zu merken, daß ich zur Familie der Bienen gehöre, und daß ich durchaus keine Wespe bin.«

»Ach Gott,« sagte der Grashüpfer, »das ist doch dasselbe.«

Maja konnte vor Aufregung kaum sprechen.

»Sie sind ungebildet,« stieß sie endlich hervor. »Schaun Sie sich doch einmal eine Wespe an.«

»Was könnte mich wohl dazu veranlassen?« antwortete der Grüne. »Wohin würde es führen, wenn ich mir Unterschiede merkte, die nur in der Einbildung existieren? Sie fliegen in der Luft herum, stechen alles, was in Ihre Nähe kommt, und können nicht springen. Genau so ist es mit den Wespen. Wo liegt also der Unterschied? Hoppla!« Und fort war er.

Jetzt flieg ich aber, dachte Maja.

Da war er wieder.

»Mamsell,« rief er, »morgen ist Wettspringen im Garten des Pfarrers Sündepiek. Wollen Sie eine Freikarte, um zuschauen zu können? Meine Alte hat deren noch zwei, gegen ein Kompliment gibt sie eine her. Ich hoffe den bestehenden Rekord zu schlagen.«

»Ich interessiere mich nicht für so ein Gehüpfe,« sagte Maja nicht ohne Verdruß. »Wer fliegen kann, hat höhere Interessen.«

Der Grashüpfer grinste, daß man es förmlich zu hören glaubte.

»Überschätzen Sie sich nicht, Mamsell. Die meisten Tiere der Welt können fliegen, aber springen können die wenigsten. Sie haben keinen Überblick über die Interessen der Mitwelt. Den Wunsch nach einem hohen, eleganten Sprung finden Sie sogar bei den Menschen. Kürzlich sah ich den Pfarrer Sündepiek fast einen Meter hoch springen, um einer kleinen Schlange zu imponieren, die vor ihm über den Weg lief. Seine Verachtung gegen alles, was nicht Springen war, ging dabei so weit, daß er seine Pfeife fortschleuderte, ohne die kein Pfarrer leben kann. Begreifen Sie diesen Ehrgeiz! – Ich habe Grashüpfer gekannt, und sie gehörten zu meiner Familie, die dreihundertmal so hoch sprangen, als sie selbst groß waren. Ja, nun staunen Sie und sagen kein Wort mehr, und bereuen innerlich alles, was Sie eben vorgebracht haben, und was Sie eventuell noch hätten behaupten wollen. Dreihundertmal so hoch, als er groß war! Muten Sie so etwas mal jemandem zu! Selbst das größte Tier der Welt, der Elefant, ist nicht in der Lage, einen solchen Sprung auszuführen. Nun? Da schweigen Sie! Habe ich nicht gesagt, daß Sie schweigen würden?«

»Aber wie soll ich denn reden, wenn Sie nicht einen Augenblick still sind,« rief Maja.

»Reden Sie also,« sagte der Grashüpfer freundlich, und dann rief er »Hoppla« und war fort.

Da mußte die kleine Maja trotz ihres Verdrusses doch lachen. So etwas war ihr noch niemals begegnet. So sehr der Grashüpfer sie durch sein scherzhaftes Benehmen in Erstaunen setzte, so bewunderte sie doch seine Welterfahrenheit und seine großen Kenntnisse. Wenn sie es auch mit dem Springen nicht hielt wie er, so war sie doch verwundert über alle die Neuigkeiten, die sie in der kurzen Unterhaltung erfahren hatte. Wenn der Grüne nur etwas zuverlässiger gewesen wäre, sie hätte ihn gar zu gern nach diesem oder jenem gefragt. Oft erleben wirklich diejenigen am meisten, dachte sie, die am wenigsten damit anzufangen wissen.

Ob er die Sprache der Menschen verstehen konnte, da er doch ihre Namen wußte? Danach wollte sie ihn fragen, wenn er noch einmal zurückkam, und auch danach, wie er über eine Annäherung dachte und über den Versuch, den Menschen in seiner Behausung aufzusuchen.

»Mamsell!« rief es neben ihr, und ein Grashalm schwankte.

»Mein Gott,« sagte Maja, »wo kommen Sie nur immer her?«

»Aus der Umgegend,« rief der Grashüpfer.

»Aber ich bitte Sie,« rief Maja, »springen Sie denn so aufs Geratewohl in die Welt, ohne zu wissen, wohin es Sie führt, ohne den Ort zu kennen, wo Sie ankommen?«

»Natürlich,« sagte der Grüne. »Was denn sonst? Können etwa Sie in die Zukunft sehen? Das kann niemand. Nur der Laubfrosch kann es, aber er sagt nicht wie.«

»Was Sie alles wissen,« rief die kleine Maja, »das ist einfach großartig. Verstehen Sie auch die Sprache der Menschen?« «

»Das ist eine Frage, die schwer zu beantworten ist, Mamsell, denn es ist noch nicht nachgewiesen, ob die Menschen eine Sprache haben. Sie stoßen zuweilen Laute aus, deren abscheuliche Klanglosigkeit mit nichts zu vergleichen ist. Offenbar verständigen sie sich dadurch. Was man ihnen lassen muß, ist ein aufrichtiges Verlangen nach erträglichen Stimmen. Ich beobachtete zwei Knaben, die Grashalme zwischen ihre Finger nahmen und mit ihrem Mund Luft darauf bliesen, so daß ein surrender Ton entstand, der dem Zirpen einer Grille vielleicht verglichen werden könnte. Aber er blieb weit dahinter zurück. Jedenfalls tun sie, was sie können. Wollen Sie sonst noch etwas wissen? Ich weiß immerhin mancherlei.«

Und er grinste die kleine Maja an, daß man es förmlich hörte.

Aber als er nun das nächste Mal unversehens davonsprang, blieb er aus, und die Biene wartete eine Weile vergeblich auf ihn. Sie suchte ringsumher im Gras und in den Blumen, aber es war unmöglich, ihn wiederzufinden.

Ein Sonett auf einen Schmetterling in der Leipziger Straße

Herbert Eulenberg

Wo kommst du hergeflattert, zartes Wesen?
Wie irrst du zitternd durch den Menschenstrom!
Unwirklich scheinst du hier wie ein Phantom,
Zum Sterben zwischen Steinen auserlesen.

Und doch, dein Anblick macht das Herz genesen,
So labt uns buntes Glas im grauen Dom,
Catull besang dich schon im welken Rom:
Du bist die Schönheit, sie kann nie verwesen.

Bald schließt du die zitronengelben Schwingen
Und sinkst wie goldner Staub zu Boden nieder.
Doch immer hebt sich deinesgleichen wieder,
Bemüht, vom Irdischen ins Licht zu dringen.

Zieh uns voran im Zickzack, leichter Falter!
Wir folgen dir, der Schönheit Bannerhalter!

Die schwarze Fliege

Robert Michel

Als Leutnant bei einem Regiment in Wien hatte Friedrich an einem Sommersonntag die Kranken im Garnisonspital zu besuchen. Er ging zuerst in das Schwerkrankenzimmer. Obwohl durch die offenen Fenster die erfrischende Morgenluft des Gartens zog, so drückte doch der Anblick Friedrich den Atem in die Brust zurück. Auf dem ersten Bette lag ein siecher Soldat. Nein, Soldat war er nicht mehr; es war ein Sterbender, in dessen Zügen noch die Weichheit des Jünglings lag. Sein Gesicht war durchsichtig weiß und die schwarzen Härchen auf der Oberlippe waren wie künstlich eingesetzt. Seine Stirne hatte einen fettigen Glanz; die offenen Augen schauten nicht mehr. Durch das Fenster kam eine große schwarze Fliege und setzte sich auf seine Stirne; sie leckte an dem fettigen Glanz und dann kroch sie zu den Augenwinkeln und dann auf die Lippen. Von Zeit zu Zeit hob sich schwach die Brust des Kranken; die Fliege saß noch immer auf der Lippe des starr geöffneten Mundes und schillerte grün und violett.

Die Brust des Kranken rührte sich nicht mehr, die Fliege kroch in seinen Mund und alle Kranken hoben bange die Köpfe.

Summend flog die Fliege aus dem Munde des Toten und durch das Zimmer und die Blicke aller folgten angstvoll ihrem Zickzackfluge.

Ein König ohne Namen

Wilhelm Schmidtbonn

Wie immer: unter der blauen Ruhe des Himmels die weiße Ruhe der Arena. An den Steinwänden hochgereiht siebentausend schreiende und bewegte Menschen. Vom Kreis der Schreienden eingeschlossen: dreihundertzwölf nackte Männer, gefangene Bruktererkerle, die mit den Fäusten sich gegen Löwen, Tiger, Bären, Wölfe wehren. Bis nur noch eine ebene Masse von blutigem Fleisch und gelben Haaren daliegt, aus der hier und dort noch einmal ein Arm sich aufreckt. Kaiser Konstantin, ein veilchenfarbiges Tuch um die Schultern, winkt: die Tiere werden mit Stachelstöcken zurückgetrieben, die toten und sterbenden Männer an den Beinen fortgeschleppt. Man hört, wie sie hinter der Arena in das treibende Wasser der Mosel geworfen werden. Jetzt der letzte Triumph: ein nackter, brauner, gelbbärtiger Mann, dem man die silbernen Reifen um die Fußknöchel noch gelassen hat, wird durch die niedere Tür hereingesandt – der König der Brukterer, dessen barbarischer Name niemand kümmert, so daß er auch heute noch unbekannt ist. Obwohl er an der Tür, wo man die Arme von ihm läßt, stehen bleiben könnte und nicht freiwillig zu seiner Richtstätte hinzugehen brauchte, schreitet er mit kurzen, schnellen Schritten, fast nur auf die Zehen tretend, in die helle Weite des Raumes hinein. Mitten im Kreis der Steine und Menschen steht er still, hebt den Kopf, sieht langsam im Kreis herum, hält den Kopf einen Augenblick beim blauen Tuch des Kaisers an, sieht weiter, lacht spöttisch auf, mit einer Stimme, die in dem weiten Raum seltsam dünn klingt, legt die Arme über der sonnbestrahlten Brust zusammen und wartet.

Eine zweite eiserne Tür wird aufgestoßen. Eine Löwin tritt ein, durch Hunger bis auf die Rippen abgemagert. Sie sieht geblendet die runde Fläche des Sandes vor sich, hebt den Kopf, starrt in den Raum, zieht den Geruch des Blutes in sich, hebt den Schweif, erblickt den einzelnen Mann. Sie duckt sich, liegt an der Erde, kriecht am Kreis der Steinwand entlang, sucht einen Ausgang, sieht immer wieder den einzelnen Mann an. Hetzschreie gellen auf, man stößt von oben Stachelstöcke in den Rücken des Tieres, um es in die Mitte des Raumes zu zwingen.

Dem nackten König klopft das Herz bis in die Stirn. Viertausend Männer, dreitausend Frauen sehen auf ihn. Er hört aus dem Schweigen der Männer Achtung heraus, aus dem Zuruf der Frauen Bewunderung. Eine helle Rose fällt auf seine dunkle Schulter. Er vergißt, daß er sterben muß, hebt die Rose auf und lacht mit wildbreitem Gesicht nach oben. Tausend Rosen fallen auf sein Haar, seine halb wehrend, halb greifend ausgestreckten Hände, vor und hinter seine Füße. Er steht bis an die Knie in Rosen, seine Stirne rötet sich, wie im Widerschein davon, sein Rücken wächst, seine Schenkel spannen sich. Nicht anders, als ob er zu einem Ringkampf im Spiel schreite, schreitet er, die Ohren angefüllt mit dem Lärm der Frauenstimmen, von der Mitte des Raumes weg, zu der Löwin hin. Kurz vor ihr bleibt er stehen und prüft, in seiner Betäubung doch das eine kalt berechnend, wann sie springen und wo er sie packen wird. Nur noch Kampflust ist jetzt in ihm. Er schließt die Augen bis auf ein geringes, um kein anderes Bild hineinzulassen, legt die Arme dicht an den Leib, um bei Beginn des Kampfes keine unnötige Bewegung zu machen, steht gekrümmt, die Lenden eingezogen, um dem Sprung des Tiers eine möglichst geringe Fläche zu geben. Als die Löwin springt, hat er sie, schon im Sprung, mit einem Arm um den Hals, mit dem andern um die Brust gepackt und drückt sie an sich. Das Tier stöhnt, als ob es unter dem Druck der Muskeln schon im Verenden sei. Die Frauen schreien, selbst die Männer rufen in immer dichteren Scharen, werfen Ringe hinunter, die das Grab des Toten schmücken sollen: denn, wenn er auch dieses Tier niederringt, man wird ja doch zum Schlusse die Masse der Tiere auf den einen loslassen und noch das Schauspiel haben, wie der Stolze doch zerrissen wird.

Aber, indem er das Tier an sich gedrückt hält und immer fester an sich drückt, überkommt den Mann die Erkenntnis, daß er diesen Menschen allen, auch den Frauen, doch nur ein Schauspiel für wenige Minuten ist: schon beim Nachtmahl werden sie von anderem sprechen. Ihn aber kostet es das strahläugige Leben seiner dreißig Jahre. Mit einem haßvollen Gelächter, das sagen soll: »Ich werde euch ein Schauspiel zeigen!« drückt er den Leib der Löwin an die Erde und umschlingt ihn, mit einer hohnvoll schamlosen Gebärde, als ob er, ein Mann, von einem Weib Besitz nehme. In der Abwehr des gebogenen Leibes aber verwirrt sich sein Gefühl vollends. Ein Keuchen des Schmerzes und der Brunst gleichermaßen dringt aus seinem Hals. Er nimmt in Wirklichkeit, der Todgeweihte, Besitz von dem lebendigen Leib. Das Tier, erst noch ankämpfend, gibt sich ihm hin.

Der Kreis sitzt stumm. Die Menschen sind Stein geworden. Dann aber schwillt ein Geheul der Männer herunter. Konstantin, weiß über seinem blauen Tuch, winkt mit jäh hochgeworfener Hand. Sklaven laufen hinzu, erschlagen die zwei schönen, verkrampften Tiere mit Schwertern und Stangen.

Letzte Fliege

Alfons Paquet

In dieser kühlen Septembernacht so spät
(Der ersten nach dem heißen Sommer, an der mich sehr fröstelt),
Erstaunt mich eine einzige Fliege, die im Zimmer umherschießt,
Dies leichte schwarze lebendige Pünktchen, das nicht weiß, wo es sich verkriechen soll.

Sie hat mich nun entdeckt und plagt mich zudringlich, als ob sie Schutz suche;
Verjag ich sie von der Hand, so fliegt sie mir ans Kinn und ans Ohr;
Aber sie ist nicht so blitzgeschwind, wie die frechen, boshaften, kitzelnden Sommerfliegen waren.

Nun fliegt sie matt ans Fenster, sie klebt auf der kalten harten Glasscheibe;
Sie rückt kaum beiseite, wenn ich mit zwei Fingern nach ihr greife.
Sie ist zu klein, als daß es Großmut wäre sie leben zu lassen, denn ihr Tod ist gewiß.

Ich fasse sie zart an und werfe sie aus dem Fenster in die kalte Nacht
Und vergesse mich und sage: armes Ding.

Die Raben

Georg Trakl

Über den schwarzen Winkel hasten
Am Mittag die Raben mit hartem Schrei.
Ihr Schatten streift an der Hirschkuh vorbei
Und manchmal sieht man sie mürrisch rasten.

O wie sie die braune Stille stören,
In der ein Acker sich verzückt,
Wie ein Weib, das schwere Ahnung berückt,
Und manchmal kann man sie keifen hören

Um ein Aas, das sie irgendwo wittern,
Und plötzlich richten nach Norden sie den Flug
Und schwinden wie ein Leichenzug
In Lüften, die von Wollust zittern.


An dieser Stelle:
Max Brod, Zwei Gedichte. Im Jahr der Veröffentlichung 2012 bei Gutenberg noch nicht urheberrechtsfrei.

siehe Bildunterschrift

John M. Swan, Tiger.

Das Aquarium

Bruno Frank

Monat um Monat lebte Matthias unter den lautlosen Welten, schweigend zumeist, betrachtend und sorgend, und mit jedem Tage mehr befestigt in der Gewißheit, daß er an seinem Orte angelangt sei. Die Generationen der kurzlebigen Geschöpfe begannen vor seinen Augen bereits einander abzulösen, schon wußte er von ihrer Art zu vergehen und zu werden.

Er hatte gesehen, wie hintereinander mehrere Geschlechter der schönen, hellrot glänzenden Erdbeerrosen ihre freudige Farbe verloren und tiefer rot, dunkelrot und endlich schwarz wurden; er hatte dann gesehen, wie die blumenschönen Wesen eines Tages ihren Wohnsitz auf den künstlichen Felsen aufgaben und wie sie anfingen zu wandern, und mit Betrübnis stand er vor solcher Rastlosigkeit, denn er wußte längst, daß solchen Tieren ihr Ende nicht fern sei, daß sie beim Wandern sich allzu rasch verzehren ... Schon begannen Fische, die Matthias hatte ausschlüpfen sehen, ihre Altersmale zu bekommen: schon zeigte sich bei den hübschen, rosenfarbenen Seebrassen an der Seite der große schwarze Fleck ... Längst war bei den flinken jungen Flundern, die so korrekt ausgestattet in ihre Wasserwelt getreten waren, das eine der smaragdenen Augen um den ganzen Schädel herumgewandert und lag nun spähend und beweglich ganz dicht bei dem anderen ... Vor Monaten schon hatte sich im Feuer seiner stürmischen Werbungen der dickköpfige Tintenfisch in seinen schönsten Farben, in blauem, rotem und gelbem Metallglanz, präsentiert, und junge Tintenfische waren aus den Eiertrauben hervorgekommen, reizende muntere Kerlchen, die von der ersten Stunde an Übungen im Farbewechseln und Tintespritzen anstellten.

Die Jungen vieler Geschöpfe kannte Matthias bereits. Und eines Morgens erlebte er, worauf er lange gewartet hatte: daß eines der Bassins sich mit Scharen von winzigen Seepferdchen belebte.

Auch an den Alten hatte er eine ganz besondere Freude, er kannte die eigentümlichen Wesen in allen ihren Stellungen. Er kannte sie, wie sie, mit dem lustigen Knochenschwänzchen an Seepflanzen sich anklammernd, im Wasser ruhen. Er kannte sie, wie sie plötzlich zur Oberfläche aufschießen, um sich mit lautem Schnalzen irgendeine Mückenlarve als Beute zu holen. Wie sie ernsthaften Blicks, die kleine Flosse auf dem mager geschnitzten Rücken beständig flimmernd, aufrecht mit steifer Grazie ihres Weges daherschwimmen, wie sie sich plötzlich neigen oder steigen oder niedersinken. Wie sie, die drollig unveränderbaren, asketischen Pferdeköpfchen gegeneinander gewendet, ihre höflichen Spiele treiben oder, im Herbst zumal, zur Zeit ihres Verlangens, einander jagen, einander haschen und dann paarweise daherziehen und sich in tiefer Eintracht beim Schwimmen umschlungen halten ... Wie das Männchen später unruhig und unbehaglich sich allein im Wasser umhertreibt, sehr geplagt – denn in einer verschlossenen Tasche trägt es nun die Brut mit sich herum, und das junge Leben regt sich schon kräftig und findet es enge, und schließlich wird es dem Vater denn doch zu peinvoll, und er knickt seinen Leib in der Mitte zusammen – die Tasche geht auf, und jedes Mal, wenn das geschieht, entschwärmt eine Anzahl der Jungen dem Gefängnis ... Winzig waren sie, denen Matthias nicht satt wurde, zuzusehen, sie hatten bei weitem nicht Nagelslänge, aber es waren vollendete Seepferdchen mit ernsthaftem Kopf und Knochenschweif und flirrender Flosse, und sie hielten sich keinen Augenblick bei dem erlösten Vater auf, sondern zerstreuten sich und schwärmten lustig umher und begannen die Spiele der wirklichen Welt.

Aber wie diese kleinen Schutzbefohlenen, so kannte Matthias die übrigen, und bald hätte er zu jeder Stunde des Tages erzählen können, was jeder eben begann. Fremde, die ihn beachteten und befragten, mochten an seinen Erklärungen ihr Vergnügen haben. Dann kam es wohl vor, daß man sich, nach einem forschenden Blick in sein schönes, freundlich verschlossenes Gesicht, mit Herablassung nach seinen Umständen erkundigte. Aber dies hatte zur Folge, daß Matthias errötete, den Kopf senkte und schwieg. Und auch die Trinkgelder, die man ihm zukommen ließ, schienen diesen sonderbaren Wärter nicht rein zu erfreuen, er dankte lispelnd, sah nicht mehr auf und behielt stumm das Geldstück in der Hand ... Wohl aber gab es Fälle, da er sich unbefragt vom Vergnügen seines Herzens hinreißen ließ, vor Fremden über seine Tiere zu sprechen ...

»Sehen Sie hier, bitte,« rief er so eines Nachmittags und winkte ein elegantes Paar, das vor kurzem den Raum betreten hatte, eifrig heran, »hier ist etwas Hübsches zu sehen.« Die Beiden kamen. Ein zartes Parfüm wehte von ihnen her in die frische Kühle der Halle.

»Dies ist ein Einsiedlerkrebs,« erklärte Matthias, »soeben will er seine Wohnung wechseln. Er ist ein sehr furchtsamer Krebs, und sein Leib ist zart, darum wohnt er zum Schutz in leeren Schneckenhäusern. Das alte hat er sich ruiniert, der Tolpatsch, nun muß er umziehen ...«

»Sehr interessant,« sagte mit tiefer Stimme und mit stark gerolltem R der fremde Herr.

»Ja, interessant ist er,« bestätigte Matthias, ohne die Ironie zu erkennen und ohne aufzublicken. »Da ... sehen Sie ...«

Das Tier hatte sich die neue Schale zurecht gewälzt, – schwarz und gelb war sie gefleckt und glich genau der beschädigten, – und griff nun mit tastenden Scheren tief in die Mündung.

»Noch immer hat er Angst,« sagte Matthias. »Ein Feind könnte ja drinnen versteckt sein ...«

Aber der Krebs war schon beruhigt, und nun ging alles mit einer sonderbaren, fast unheimlichen Exaktheit vor sich. Mit den Scheren erfaßte er sein künftiges Haus, stellte es aufrecht vor sich hin, zielte förmlich, mit zuckender Geste, und ging mit einem einzigen Ruck aus der alten Wohnung heraus, in die neue hinein.

»Oh, das ...« sagte mit einem kleinen Schrei die fremde Dame, »aber das ist großartig, was der Wärter uns da sehen läßt. Wer doch auch aus seiner Existenz so einfach heraus könnte, Wladimir Alexandrowitsch ...«

 

Bruno Frank, Ein dunkler Adler

Ein dunkler Adler schwebt mit weiten Schwingen
Stets über meinem Haupt, der hat kein Nest.
Von seinen Schwingen, die wie Schwerter klingen,
Fällt tiefer Schatten, der mich frösteln läßt ...

Und fröstelnd wart ich einer nahen Stunde,
Da blitzt und klirrt es zu mir her wie Erz.
Er stößt herunter, und er hackt die Wunde,
Und reißt aus meiner Brust das warme Herz.

Die Droschke

Theodor Däubler

Ein Wagen steht vor einer finstern Schenke.
Das viele Mondlicht wird dem Pferd zu schwer.
Die Droschke und die Gassenflucht sind leer;
Oft stampft das Tier, daß seiner wer gedenke.

Es halten diese Märe halb nur die Gelenke,
Denn an der Deichsel hängt sie immer mehr.
Sie baumelt mit dem Kopfe hin und her,
Daß sie zum Warten sich zusammenrenke.

Aus ihrem Traume scheucht sie das Gezänke
Und oft das geile Lachen aus der Schenke.
Da macht sie einen Schritt, zur Fahrt bereit.

Dann meint sie schlafhaft, daß sie heimwärts lenke,
Und hängt sich an sich selbst aus Schläfrigkeit,
Noch einmal poltern da die Droschkenbänke.

Rehe im Traum

Max Pulver

Sie äsen zwischen Fliederbüschen in den Halmen.
Die Hufe tauchen lautlos in den schwarzen Grund.
In sanften Zacken schwingt ihr Haupt, zermalmen
Die Kiefer hastig zupfend Gras. Verwirrt und rund
Wirft mir ein Auge fragend stumpfes Licht entgegen
Sekundenlang und senkt sich rätselhaft hinab.
Ein Knistern läuft durchs Feld. Da – Wolken fegen.
Geschmeidige Rücken wellen fliehend sich im Trab.
Nein, das ist Schnee. Und breite Ruhe in den Büschen.
Ein Amselweibchen lockt. Ist Frühling denn so nah?
Da sind sie wieder: Silberfelle zwischen
Den kahlen Sträuchern. Schau, und da, und doch nicht da.
Ein leichtes Spiel von Duftgebilden, feuerhellen,
Von Kreisen, Bogenformen wirbelt auf dem Grund.
Erklingend tragen breite Seelenwellen
Das Staunen ihrer Augen wundersam und rund.

Ehrgefühl

Andreas Latzko

Eine alte Kuh mit versiegtem Euter war mit einem ausgedienten Klepper gemeinsam vor den Pflug gespannt worden, und die beiden verrichteten in schöner Eintracht ihre Arbeit.

Da gerieten sie eines Tages über irgendwelche geringfügige Meinungsverschiedenheit in Streit, ereiferten sich immer mehr, bis endlich das Pferd so sehr alle Selbstbeherrschung verlor, daß es seinem treuen Kameraden das Schimpfwort: »Du Kuh!« in die Ohren wieherte.

Außer sich vor Empörung brüllte die Kuh zurück: »Du Roß!«

Und beide waren beleidigt.

 

Andreas Latzko, Der Ehemann

Ein Sperling, grau und unansehnlich, Vater sechs unmündiger Kinder, überraschte seine Frau Gemahlin, als sie verzückt dem Gesange der benachbarten Nachtigall lauschte und ihrer Begeisterung mit herausfordernden Blicken, die nicht mißzuverstehen waren, Ausdruck gab.

»Schamlose!«, schrie der gekränkte Ehemann, »lohnst du mir so meine Treue und Mühe? Bin ich nicht von früh bis abend auf der Suche nach Würmern für dich und deine hungrige Brut? ... Der Faulenzer da drüben hat es leicht schön zu singen! Hätte ich dich nicht geheiratet, – ich wäre gewiß auch eine Nachtigall geworden.«


An dieser Stelle:
Robert Walser, Liebe kleine Schwalbe.Im Jahr der Veröffentlichung 2012 bei Gutenberg noch nicht urheberrechtsfrei.

Sonnwendlied der Vögel

Oskar Loerke

Da oben geht ein goldnes Rad
Das uns geweckt und befohlen hat,
Vor unsre Tür zu treten.
Und magisch singts mit unsrem Mund,
Als forschten wir nach allem Grund,
Urseher und Propheten.

Da oben geht ein goldnes Rad,
Geht um sich selbst, weiß keinen Pfad,
Wir wissens ohne Wissen.
Es steht in seinem großen Grab
Und bleibt darin und wartet ab
In blauen Finsternissen.

Da oben geht ein goldnes Rad,
Das warf uns hin auf seinen Pfad,
Geht um in unsren Seelen:
Wir sind in unsrem Nest und Grab,
Und mit uns ist und wartet ab
Das Lied in unsren Kehlen.

Da oben geht ein goldnes Rad,
Am Abend prunkts im Sterbestaat,
Der ist wie rote Seide.
Und so wird unsrer Neste Stroh,
Und unsre Schnäbel werden so,
So rot als wie von Seide.

Da oben geht ein goldnes Rad,
Das hat in jeder Furt sein Bad
Und trinkt aus allen Krippen.
Das Rad das liegt auf unsrem Mund,
Wir singen uns an ihm noch wund
Wie unsre Mütter und Sippen.

Da oben geht ein goldnes Rad,
Das Erden zu Aposteln hat
Und alles auf den Erden.
Wir tragen all einen Mühlenstein,
Der Ast ist zu dünn, wir sind zu klein,
Wir werden müde werden.


An dieser Stelle:
Otto Flake, Bei den Tieren. Im Jahr der Veröffentlichung 2012 bei Gutenberg noch nicht urheberrechtsfrei.

Bei den Tieren

Katzen

René Schickele

Sie liegen irgendwo in den gewohnten Ecken
und scheinen zu sinnen.
Die Augen schimmern grün.
Man darf sie necken,
sie lassen sich gewinnen.
Und alsdann
legen sie sich auf den Bauch und runden
den Leib, versuchen mit Schnauze und Pfoten
deine Hände zu greifen,
und ihre Augen glühn,
die grünblaugraugelbroten.
Irgendwann
erheben sie sich und beginnen
eine kleine Vergnügungsreise durchs Haus.
Schließlich sehn zu sie einem offnen Fenster hinaus,
sie strecken
die Schnauze in die Luft und lassen die Augen schweifen,
prüfen: kann diese Witterung
einem Katzentiere munden?
Und schon sind sie mit wahrhaft musikalischem Sprung
in der blauen Luft verschwunden.

Am Abend sind sie plötzlich wieder da.
Man findet sie wie seidige, o so
geschmeidige Damen, die man vor Stunden
glänzend und stark aus der Haustür treten sah,
mit ausgestreckten Beinen
weich zerknittert irgendwo,
wo sie in Erinnerungen versunken scheinen.

Junge Pferde

Paul Boldt

Wer die blühenden Wiesen kennt
Und die hingetragene Herde,
Die, das Maul am Winde, rennt:
Junge Pferde! Junge Pferde!

Über Gräben, Gräserstoppel
Und entlang der Rotdornhecken
Weht der Trab der schönen Koppel,
Füchse, Braune, Schimmel, Schecken!

Junge Sommermorgen zogen
Weiß davon, sie wieherten.
Wolke warf den Blitz, sie flogen
Voll von Angst hin, galoppierten.

Schön graue Nüstern wittern,
Und dann nähern sie und nicken,
Ihre Augensterne zittern
In den engen Menschenblicken.

Belgische Krähen

A. R. Meyer

Niemand weiß es bis jetzt, daß wir es gewesen.
Belgische Männer, belgische Frauen waren es, steht in der Zeitung zu lesen.
Haß! Haß! Haß! stießen wir in die offenen Augen aller Toten hinein,
manchmal konnten es wohl auch Verwundete sein.
Ob das nun unsre Soldaten oder die Feinde waren –
Haß! Haß! Haß! schossen wir nieder in hungrigen Scharen.
Unser Magen einzig ist unser Feldmarschall,
er hat Rolands Hifthorn im Tale Ronceval.
Haß! Haß! Haß! Schneewind kommt schon vom nahen Meere.
Hundert Kilometer lang, sagen sie, ist die Schlachtreih der Heere.
Wir warten die Nacht und wissen: im Schützengraben
werden wir morgen früh nach dem Sturm wieder reichlich zu essen haben.
Manchmal nur bringen uns Männer mit rotem Kreuz um das Mahl.
Haß! Haß! Haß! Über den Wald! Fort, in ein anderes Tal!
Haß! Haß! Haß! Wenn es sein muß, nach Deutschland hinein!
Die Kanonen sind stumm? Das sind keine Schrapnells! Es fängt an zu schnein ...


An dieser Stelle:
Jakob Kneip. Die Kuh und die Rübe.Im Jahr der Veröffentlichung 2012 bei Gutenberg noch nicht urheberrechtsfrei.

Der Hund

Karl Stamm

Du dumpfes Tier, so komm und lege deine Pfoten
mir auf die Kniee, stürmischer Gesell.
Wie tobst du hold! O ich versteh dich ganz. Dich trennen
tausend Klafter von mir. Wie zittert nur dein Fell!
Und deine Pfoten werden Händen ähnlich,
du willst aus deinen Krallen Finger treiben,
du bist voll ungeheurer Zärtlichkeiten,
dein Auge schaut entsternt, wer wohnt in dir?
Es jagen sich in deinem Rachen fremde Laute.
Das ist kein Bellen, ist viel mehr als dies, ich kenne
dieses Stammeln, hilflos Ringen um ein Wort.
Es jagen sich die Ketten deiner Töne.
Nun lächelst du, du bist mir schon sehr nah,
ich fühle ein Gesicht an meiner Wange,
leise löscht das Tier in dir,
du lässest dich zurück ...
    Wie muß das herrlich sein:
Der erste Tag. Erkennung, leises Fluten, Schweben,
selig Schwimmen. – Was dämmert her? O schwerer Schattenfall.
Ich stürze tief in mich zurück, erwache jäh.
– – – – – – – – – – – – – Du bellst!

Romanze einer Schlange

Franz Werfel

Wo von den aufwärtsatmenden Vulkanen
Erhaben stürzet Gold um Gold,
Unter dem Blau, das in Orkanen
Tiefdröhnend durcheinander rollt,
Roll ich mich im Gerölle,
In meiner Quader Hölle,
Und starre stolz nach den Alleen,
Wo Bäume wehn, und weiße Füße wehn,
Und Sonne, Strom und Sommer toben hold.

Weh euch! Ich wurde wach als Schlange,
Und Feindschaft, Stolz und Haß sind mein Gebot.
Die Nachtigall zerbricht sich im Gesange,
Und stürzet ab in ihren Tod,
Wenn ich mit meinem Blicke
Sie banne und bestricke.
Das Liebliche entgeht mir nicht!
Ich bin im Licht der Bösewicht,
Vernichtung und Gericht, das euch bedroht.

Unendlich singen Amseln in den Kronen,
Und an den Quellen tönt die Kreatur.
Es ist mein Teil in Stein und Stolz zu wohnen,
Und die Gestalt zu sein, in die ich fuhr.
Sind alle guten Wesen
Zu Müttern auserlesen,
So haßt mit Wut mich meine Brut,
Und krümmt sich fort in dumpfem Mut,
Und ich gewunden auf dem Grunde starre nur.

Ich frage nicht, warum bin ich erschaffen
Zum Wurm in dem umblauten Reich?!
Denn keine Sehnsucht lebt, mich hinzuraffen,
Und ich allein will sein mir selber gleich.
Der Hölle siebentiefste Flammen,
Sie quälen nicht, den sie verdammen!
Mich schmerzt mein Kriechen nicht, wenn durch Alleen
Sich Bäume wehn und weiße Füße wehn,
Ich kann nicht weinen, liebe keinen, Wehe euch!

 

Franz Werfel, Die Lerche

    Ich springe aus dem nächtigen Laub auf.
    Ich spanne mich wie einen Bogen in den Morgen,
    Näher donnert die Sonne, noch unterirdische Pauke,
    Näher dem Gekräh!
    Auf frühen Schollen frühen Lebens finde ich die Lerche ...

»Geliebter kleiner Vogel, irdener Vogel, bist du da und gleichst an Farbe und Einfalt dieser Erdenscholle?«

»Ich gleiche der Erdenscholle, mein Freund, ich bin sie selbst, ich bin Erde, geistige Erde, Erde, die über sich ansteigt.«

»Steigst du an und bist trunken ohne Trunk?«

»Ich steige an, mein Freund, und bin trunken. Ich ward, als der Geist
innehielt im Flug und rückwärts sah in den Morgen.«

»Bist du so hoher Abkunft, und falb doch, und ohne Ansehn?«

»Ich bin gering und falb von Ansehn, denn zusammengedrängte Leichte bin ich, Gestalt des Geistes, Seele, Überwindung, Aufbruch, Aufschwung, Anstieg!

Ich bin armselig, damit gewaltig unter dem Feuer mein Gesang sei. Ich bin Verheißung, Tröstung, Hochamt, unverlöschliches von Unten nach Oben!«

»O kleiner geliebter Vogel!«

»Ein Gleichnis bin ich, mein schwerer Freund, wie du selbst.«

siehe Bildunterschrift

Bruno Liljefors, Seeadler.


An dieser Stelle:
Otto Zoff. Wau.Im Jahr der Veröffentlichung 2012 bei Gutenberg noch nicht urheberrechtsfrei.

Der Gorilla

Maria Luise Weißmann

Er atmet ihre Schwüle längst nicht mehr,
Doch lastet seinem Nacken immer noch der Traum der großen Seen
Und läßt ihn tief zum Sand gebückt und schwer
Im Takt zur Wiederkehr der Eisenstäbe gehn.
Er möchte wohl der Glanz der Papageien sein,
Das Duften der Reseden und der Banjoklang,
Doch bricht kein Strahl den trüben Spiegel seines Auges ein:
Die Hand trägt stillgefaltet den beträumten Gang
Dem fremden Leuchten still und fremd vorbei.
Manchmal, im Schrei,
Der fernher trifft, fühlt er sich jäh dem Schlund
Des Schlafes steil emporgereckt entragen
Und knirschend seiner Stirne aufgewandtes Rund
An steingewölbte Firmamente schlagen.


An dieser Stelle:
Gerhard Ausleger. Tod des blauen Reiters Franz Marc..Im Jahr der Veröffentlichung 2012 bei Gutenberg noch nicht urheberrechtsfrei.

Drohnenschlacht

Rudolf Fuchs

Ich, Mutter aller, Königin der Waben,
Versammle alle Dienenden um mich:
Die nichts als Lust und Raub im Sinne haben,
Noch heut' verfallen sie dem Richtertisch!

Habt ihr geseh'n, wie unsre Zellen flossen,
als plump der Drohne Rüssel tauchte ein?
Und statt von Kindeskind genossen,
Verdarb in ihrem Bauch der edle Seim.

Ihr Architekten, strenge Wachsbereiter!
Ihr Wächter unsrer Brut an heil'gem Ort!
Ihr wie die Sonne steten Blumenreiter –
Zu Zeugen ruf' ich euch! Dies sei mein Wort:

Das müßige Geschlecht in unsern Ständen,
Das aller Werk verschleudert und verrät,
Die Prasser, die uns vor dem Himmel schänden –
Hinweg damit aus unsern Wänden!
Sie sollen enden! Denn ihr Fall erhöht.


An dieser Stelle:
Arnold Ulitz. Aufruhr im Tierpark.Im Jahr der Veröffentlichung 2012 bei Gutenberg noch nicht urheberrechtsfrei.

Das Sprüchwort

Klabund

Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei, dachte die Kröte. Denn sie war den ganzen lieben langen Tag und die ganze lange liebe Nacht allein. Niemand mochte sie, niemand ging mit ihr spazieren, niemand spielte mit ihr im Kaffeehaus Tarock, niemand verstand sie.

Es war ein schauderhaftes Leben.

»Zahlen!« zischte sie in der Bar, wo sie bösartig auf einem hohen Schemel hockte und Glühwein trank, was ihr sowieso nie bekam, zog sich ihre Regenhaut an und begab sich zum Schöpfer aller Dinge.

Sie lüftete höflich ihren braunen Plüschhut und trug ihm ihr Anliegen vor.

»Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei,« sagte sie, weinerlich und betrübt, »habe ich jemandem etwas Leides getan? Ich sehe nur so aus.«

»Entschuldigen Sie,« sagte der liebe Gott, »ich verstehe Sie nicht recht – aber Sie zitierten soeben ein Sprüchwort: sind Sie vielleicht ein Mensch?«

Betroffen dachte die Kröte nach, und kleinlaut gab sie schließlich zu: »Nein.«

»Also,« sagte der liebe Gott. –

Die Kröte lebte hinfort einsam weiter. Was blieb ihr auch anderes übrig? Sie war der Dialektik des lieben Gottes nicht gewachsen.

 

Klabund, Auf ein Kaninchen

Weiße Felle, die ich streicheln durfte:
Vorhang vor dem Heiligtum.
Im Getön der spitzen Ohren schlurfte
Eine Reisigsammlerin: der Ruhm.

Sonne saß im Dschungel deiner Lende,
Wiegte sich als goldne Möwe weit
Auf den Meeren der gekalkten Wände,
Wenn der Hund im Hellen schreit.

Stäbe stürzten: aus den Katakomben
Deiner Höhlung, die das Grüne barg.
Deine Augen, rote Rhomben,
Schliefen in der Müdigkeiten Sarg.

Dich zertrat der große Bernhardiner,
Aus dem Maule schwebte Kohl und Strunk.
Als des Todes allezeit getreuer Diener
Sprangst du pfeifend in die Dämmerung.

Die große Bestie

Friedrich Freih. von Gagern

Herr über die Wälder und ihr Wildgetier, über die Flur und ihr Geflügel, über die Wasser und ihr Gefloß ist Mag, der Weltgebietende.

Schwer ruht seine Tatze auf allen, die geringer sind und schwächer denn er.

Aber einem ist er neidig und drei haßt er. Das sind die Brüder Bur, Geitir und Heidrick. Sie brechen in seine Wälder ein, sie freveln an seinem Wilde. Und sie wollen ihre schöne Schwester Amma, nach deren Gunst sich Mag in heißen Nächten verzehrt, dem Atti zur Frau geben. Deshalb hat er scheelen Sinn auf Atti geworfen.

Das blaue Mondlicht schauert auf beschneitem Feld; an der schwarzen Waldwand hin kriecht lauernder Schatten.

Mag steht im Dunkel, regungslos, alle Sinne gespannt, alle Sehnen in gieriger Erwartung gestrafft. Er will den Hirsch erjagen, der hier in die freie Heide hinaustritt.

Der Mond steigt, immer enger kauert sich der Schatten zusammen. Der Schnee knirscht im Frost. Fern am Flusse wimmert das Eis.

Da schlägt etwas an die Stämme, eine dunkle Gestalt schiebt sich aus der Waldnacht in die schneidende Helle hinaus. Es ist der Hirsch.

Mag sieht hämmernden Herzens nach ihm hin. Er will warten, bis der Hirsch vertraut das gekrönte Haupt senkt. Dann ist er sein.

Da wirft der Hirsch auf, fährt in jähem Schrecken zusammen, flieht in wilden Sprüngen in die Heide hinaus und bricht dröhnend in den Schnee.

Vier finstere Wesen lösen sich aus dem Schatten, huschen über die grelle Fläche, stürzen sich wie Panther gierig auf das gefällte Wild.

Es sind die drei Brüder, und Atti ist der vierte. Sie haben den Hirsch zum Hochzeitsmahle geraubt, denn übermorgen soll Atti die schöne Amma freien.

Plötzlich steht Mag mitten unter ihnen.

Seine Faust bricht Bur das Genick, sein Schlag zertrümmert Geitirs Schlaf, sein Griff würgt Heidrick das Leben aus der Kehle. So bleibt nur Atti übrig, Ammas Freiersmann. Dessen ist Mag wohl eingedenk, wie er ihm mit Grimmeswucht an den Hals fährt. Aber Atti ist knorrig und zäh, seine Arme sind wie Hagbuchen fest, seine Finger sind knotig, sein Biß der des Bären. Er umringt Mag, daß jenem die Rippen knacken, er schnappt nach der Kehle des Feindes. So stemmen sie sich wiedereinander, ihr Atem pfeift und raucht, ihre Knie wanken. Dann stürzen sie in den Schnee, keiner läßt vom anderen, Mag krallt sich in Attis Gurgel, daß jenem purpurnes Brausen um die Sinne brandet, Atti spannt im Sterben seine beuligen Arme um des Gegners Brust, daß das Herz hinter den splitternden Rippen stockt, von seinem bleckenden Gebiß träuft das Blut ...

So zucken sie sich aus, ohne Laut, ohne im letzten Krämpfe nachzugeben. Ferne in weißer Heide belfern die Füchse. Es sind zwei Rüden und eine Betze.

Dann trollen die Hungerwölfe heran. Sie beißen und reißen und schlingen und fletschen, bis der frostrote Morgen aufgeht. Der bringt die Geier und Adler. Aber die Wölfe verteidigen ihren Fraß. Sie gönnen ihn keiner Sippe, nicht einmal einander. Schließlich fallen Adler und Geier gemeinsam über die Wölfe her, schlagen sie in die Flucht. Und da sie sich in den Besitz der grausigen Beute gesetzt, hebt unter ihnen wilde Hungerfehde an ...

Hoch im Morgen flickt Kolk, der Wisser. Er staunt nicht über das, was unter ihm vorgeht. Denn er sieht seit ewigher dies eine, grauenvoll heilige geschehen: das Leben.

Finis


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