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Nordland

Altdänisches Heldenlied, Des Leuen und König Dieterichs Kampf mit dem Lindwurm

Das war Meister König Dieterich, der wollt' von Bern ausreiten,
Da fand er einen Löwen und häßlichen Lindwurm miteinander so furchtbar streiten.
        Der Lindwurm, der zog ihn fort!

Sie stritten einen Tag, sie stritten zwei, am dritten Tag zur Nacht:
Da hätt der häßliche Lindwurm den Leu zur Erde gebracht.

Da aber rief der Leu aus Not, da er den König sah reiten:
»Du hilf mir, Herr König Dieterich, erlös' mich aus diesen Leiden.

Um deiner allerhöchsten Gewalt, befrei' mich, Meister Dieterich so mild,
Befrei' mich um des vergoldeten Löwen, den du führest in deinem Schild.

Bei deinem Namen hilf du mir, komm mir zum Trost, du König gut,
Weil ich stehe gemalt in deinem Schild, so feurig wie Feuersglut.«

Lange stand der König Dieterich, das deucht' ihn wohlgetan:
»Ich will helfen diesem armen Leu, wie es auch möge ergahn!«

Das war Meister König Dieterich, der zog aus sein Schwert so gut,
Kämpfte mit dem häßlichen Lindwurm, sein Schwert stand tief im Blut.

Nicht säumen wollt' sich der gute Herr: wie hieb er da mit Macht!
So lange bis sein gutes Schwert ihm an dem Griff abbrach.

Der Lindwurm nahm ihn auf seinen Rück und das Roß unter seine Zunge:
So drängt' er in den Berg hinein zu seinen elf kleinen Jungen.

Das Roß warf er vor seine Jungen, in einen Winkel den Mann:
»Esset nun das kleine Stück, ich will zu schlafen gahn.

Esset nun die geringe Beut', ich will zu ruhen gahn:
Wann ich wieder aus dem Schlaf erwach', dann sollt ihr greifen den Mann.«

Der Meister König Dieterich suchte rings in dem Berg zur Hand,
Da fand er das gute Schwert, das Adelring ist genannt.

Da fand er so stark ein Schwert und vergüldete Messer zwei:
»Gott gnade deiner Seel', König Siegfred! hier hast du gelassen deinen Leib!

Ich bin gewesen in mancher Schlacht, in Herrenfahrt mit dir,
Doch nimmermehr hab' ich gewußt, daß du bist blieben hier.«

Das war Meister König Dieterich, der wollt' prüfen, ob das Schwert sei gut:
Er hieb in den harten Fels, daß der Berg stand all in Glut.

Und da der junge Lindwurm den Berg in Flammen stehen sach:
Wer hat den Bauer Zwietracht in sein eigen Haus gebracht?

Er gebärdete sich zornig viel und sah so böslich aus:
Wer hat den Bauer Zwietracht gebracht in sein eigen Haus?

Die andern Jungen sprechen in der Ecke, wo sie stehen:
»Weckst du unsre Mutter aus dem Schlaf, wie schlimm wird dir's ergehen!«

Darauf der Meister König Dieterich so gram im Mute sprach:
»Ich will wecken durch einen so furchtbaren Traum deine Mutter aus dem Schlaf.

Deine Mutter erschlug den König Siegfred, solch wohlgebornen Mann:
Das will ich an Euch allen rächen mit meiner rechten Hand.«

Auf da wachte der alte Lindwurm, ihm ward dabei so bange:
»Wer macht mir diese Unruhe, was ist das für ein Klang?« –

»Das bin ich, König Dieterich, mich lüstet dir was zu sagen,
Gestern unter deinem geringelten Schwanz hast du mich in den Berg getragen.« –

»Du hau' mich nicht, König Dieterich, hier ist mein rotes Gold:
Es ist viel besser gelassen als getan, wir bleiben uns treu und hold.« –

»Deinen falschen Listen trau' ich nicht, du willst mich gewißlich betören:
Du hast ermordet so manchen Held, das ziemet sich nicht mehre.« –

»Hör du, Meister König Dieterich, o schlag zu Tod mich nicht:
Ich weis' dir deine verlobte Braut, die versteckt im Berge liegt.

Zu oben bei meinem Haupte, da liegen die Schlüssel klein,
Zu nieden bei meinen Füßen, da kannst du zu ihr gehen ein.« –

»Zu oben bei deinem Haupte, da will ich heben an,
Zu nieden bei deinen Füßen, da will ich lassen ab.«

Erst schlug er den häßlichen Lindwurm und so auch seine elf Jungen;
Doch konnt' er nicht aus dem Berg heraus vor giftigen Würmerzungen.

So grub er so tief eine Grube vor seinem linken Fuß,
Auf daß er nicht umkomme in giftigem Würmerblut.

Da fluchte zuerst König Dieterich, er ward dem Löwen so feind:
»Verwünscht soll sein der Löwe, ihn treffe Fluch und Pein!

Das hat mir getan der listige Leu: Gott laß es ihm schlecht ergehn!
Hätt' er nicht gemalt gestanden in meinem Schild, mich hätt' getragen mein Roß dahin.«

Und als das hört der gute Leu, daß der König sich so sehr beklagt:
»Du steh selber fest, König Dieterich, ich grabe mit starker Klau'.«

Der Löwe gräbt, König Dieterich haut, der Berg steht in Glühen rot:
Hätt' ihn der Leu nicht gegraben heraus, er hätt' sich gegrämet zu Tod.

Und da er erschlagen den häßlichen Wurm, dazu auch seine elf Jungen,
Ist er mit schwerem Panzer und Schild aus dem Berg hervorgedrungen.

Und als er nun kam aus dem Berg, da trauert' er um sein Pferd;
Er konnt' ihm viel gut vertrauen, sie waren treu einander so sehr.

»Hör du, Meister König Dieterich, du sollst dich nicht grämen so sehr:
Setz dich auf meinen Rücken breit, ich trag dich so lustig daher.«

So ritt er über die tiefe Tal' und über die Wiesen grün,
So frei mit ihm der gute Leu drang durch den Wald dahin.

Der Leu und der König Dieterich, die blieben zusammen beid':
Der eine hat den andern befreit von Jammer und großem Leid.

Sooft der König zu Land ausreit't, der Löwe neben ihm lauft,
Wann er wieder stille sitzt, in seinen Schoß legt er das Haupt.

Darum nannten sie ihn den Löwenritter, den Namen trug er mit Ehre;
Jeden Tag, den sie im Leben gewannen, hatten sie lieb einander so sehre.
        Der Lindwurm, der zog ihn fort!

(Übertragen von Wilhelm Grimm)

Altfinnisch, Wäinämöinens Harfe

Wäinämöinen selbst, der alte,
Rudert eines Tags auf Sümpfen,
Und auf Seen des andern Tages,
Und am dritten Tag im Meere,
Stehend auf des Hechtes Schultern,
Auf des roten Lachses Finnen.
Er beginnt den Sohn zu fragen:
Stehn auf Reisig oder Stein wir,
Oder auf des Hechtes Schultern,
Auf des roten Lachses Finnen?
Und der Sohn erwidert eilig:
Nicht auf Stein und nicht auf Reisig,
Auf des Hechtes festen Schultern,
Auf des roten Lachses Finnen.
Wäinämöinen selbst, der alte,
Stieß das Schwert ins Meer danieder,
Und zerteilte so den Fisch,
Zog das Haupt in seinen Nachen,
Ließ den Schwanz im Meere liegen.
Eines blickt er an und wendet's:
Was kann draus der Schmied verfert'gen?
Was kann draus der Schmieder schmieden?
Wäinämöinen selbst, der alte,
Nimmt auf sich des Schmiedes Arbeit,
Macht vom Bein des Hechts die Harfe,
Macht das Kantele von Gräten,
Und von Fischgeripp die Leier.
Und woraus der Harfe Schrauben?
Aus des großen Hechtes Zähnen,
Und woraus der Harfe Saiten?
Aus dem Haupthaar Kalevas.
Zu dem Sohne sprach der Alte:
Hole mir mein Kantele
Unter die gewohnten Finger,
Unter die gewohnten Hände!
Freude strömt nun über Freude,
Auf Gelächter folgt Gelächter,
Während spielet Wäinämöinen
Auf dem Kantele von Gräten,
Auf dem Fischgeripp der Leier.
Keines ward im Hain gefunden,
Sei es auf zwei Flügeln fliegend,
Sei es auf vier Füßen laufend,
Das nicht eilte, zuzuhören,
Während spielet Wäinämöinen
Auf dem Kantele von Gräten,
Auf dem Fischgeripp der Leier.
Selbst der Bär im Walde stieß
Mit der Brust sich gegen Zäune,
Während spielte Wäinämöinen
Auf dem Kantele von Gräten,
Auf dem Fischgeripp der Leier.
Selbst des Waldes alter Vater
Schmückte sich mit rotem Schuhband,
Während spielte Wäinämöinen
Auf dem Kantele von Gräten.
Selbst des Wassers gute Mutter
Zierte sich mit blauen Strümpfen,
Ließ im grünen Gras sich nieder,
Um das Saitenspiel zu hören,
Während spielte Wäinämöinen.
Auf dem Kantele von Gräten,
Auf dem Fischgeripp der Leier.
Und dem Wäinämöinen selbst
Flossen Thränen aus den Augen,
Dicker noch als Heidelbeeren,
Größer noch als Schnepfeneier,
Nieder auf den breiten Busen,
Von dem Busen auf die Beine,
Von den Beinen auf die Füße!
So durchnäßten Wasserperlen
Fünf von seinen Wollenmänteln,
Acht von seinen Zwillichröcken.

(Deutsch von Platen)

Der Fischfang

Bellmann

Auf, Amaryllis! Schlummre nicht weiter!
        Still ist's und heiter,
        kühl die Luft:
        farbig gezogen
        schimmert der Bogen
        hoch über Wogen,
        Wald und Kluft!

Amaryllis, ferne sind Gefahren
Friedlich ruhen Neptuns wilde Scharen –
Traumgott darf nun länger nicht bewahren
Aug' dir und Lippe, die seufzet und ruft!

Komm auf den Fang! Das Netz ist zur Stelle –
        Will auf die Welle
        jetzt mit dir!
        Jäckchen, das rechte,
        Schleiergeflechte
        nimm, und die Hechte
        locke mir!

Amaryllis, auf! erwach', du Kleine –
Lustige, laß heut' mich nicht alleine!
Im Delphinentanz und Morgenscheine
plätschern mit unserm Fischerkahn wir.

Ruten und Angeln, hole sie schnelle!
        Sieh, es wird helle –
        spute dich!
Süße, nicht schmollen!
        Könntest du grollen,
        wirklich nicht wollen?
        Küsse mich!

Fahren wir zum seichten Sandesgrunde,
oder drüben nach dem grünen Sunde,
wo wir uns geeint zum Liebesbunde –
weißt du noch? Tirsis, der ärgerte sich!

Steig' in den Kahn mit Sang und Juchheien!
        Lieb', in uns zweien
        herrsche du!
        Mag sich auch härmen
        Aeol, und lärmen:
        seliges Schwärmen
        gibt mir Ruh!

Glücklich im erzürnten Flutensteigen,
still umschlungen, kann ichs nicht verschweigen,
daß mein Herz bis in den Tod dein eigen –
singt, ihr Sirenen, das Echo dazu!

(Deutsch von Gumppenberg)

Nordisches Volksmärchen, Der Hahn und der Fuchs

Es war einmal ein Hahn, der stand auf einem Misthaufen und krähte und schlug mit den Flügeln.

Da kam der Fuchs herbei.

»Guten Tag,« sagte der Fuchs. »Ich habe wohl gehört, daß du gut krähen kannst; aber kannst du auch auf einem Bein stehen und dabei krähen und schlafen, wie dein Vater das konnte?« sagte Reineke Fuchs.

»O ja, das kann ich alles sehr gut,« krähte der Hahn. Er stellte sich auf ein Bein, aber er schlummerte nur mit einem Auge; und als er dies getan hatte, warf er sich in die Brust und schlug mit den Flügeln, wie wenn er etwas Großes geleistet hätte.

»Das war sehr schön, ja es war fast ebenso schön, wie wenn der Pfarrer in der Kirche predigt,« sagte der Fuchs. »Aber kannst du mir auch auf einem Beine stehen und krähen und mit beiden Augen schlafen? Das kannst du wohl doch nicht?« sagte Reineke Fuchs. »Ja, ja, dein Vater, das war ein Staatshahn,« sagte er.

»O ja, das kann ich auch,« sagte der Hahn und stellte sich auf ein Bein und machte beide Augen zu! Aber hast du nicht gesehen! fiel der Fuchs über ihn her, packte ihn im Nacken, und warf ihn sich auf den Rücken, daß der Hahn noch nicht einmal fertig gekräht hatte, als es auch schon dem Walde zuging, so schnell den Fuchs seine Beine trugen.

Als sie eine alte Tanne mit tief herabhängenden Zweigen erreicht hatten, warf Reineke den Hahn auf den Rücken, setzte ihm den Fuß auf die Brust und wollte sich eben einen Leckerbissen herausbeißen.

»Du bist nicht so gottesfürchtig, wie dein Vater war,« sagte der Hahn, »der bekreuzte sich und betete immer vor dem Essen,« sagte er.

Aber Reineke wollte gottesfürchtig sein, – ja, warum auch nicht! – Er ließ den Hahn los und wollte die Pfoten über der Brust kreuzen und beten. Aber wip! flog der Hahn auf den Baum hinauf.

»Deshalb entgehst du mir doch nicht,« sagte Reineke Fuchs im stillen. Er ging fort und kam mit ein paar Hobelspänen zurück; der Hahn guckte und guckte, was denn das sein könnte.

»Was hast du da?« fragte er.

»O, das sind Briefe, die ich vom Papst in Rom bekommen habe,« sagte der Fuchs. »Willst du mir nicht helfen, sie zu lesen, denn ich selbst bin des Lesens unkundig?«

»Ich würde es sehr gerne tun, aber gerade jetzt wage ich es nicht, denn dort kommt ein Jäger. Ich sitze hier hinter dem Stamm, und ich sehe ihn, ich sehe ihn!«

Als der Fuchs den Hahn von dem Jäger reden hörte, nahm er Reißaus und lief davon, so schnell er konnte.

Diesmal hatte der Hahn den Fuchs überlistet!

 

Nordisches Volksmärchen, Vom Hasen, der verheiratet gewesen war

Es war einmal ein Hase, der ging draußen im Grünen spazieren.

»Ah! Hurra! Hopsassa!« schrie er, hüpfte und sprang und plötzlich machte er einen langen Purzelbaum; da saß er mitten drin im grünen Salatfeld.

Jetzt kam der Fuchs herbeigeschlichen.

»Guten Tag, Herr Fuchs,« rief der Hase. »Sie müssen wissen, ich bin heute so recht seelenvergnügt! Ich hatte mich verheiratet –«

»Das war ja recht gut,« sagte der Fuchs.

»Ach nein,« entgegnete der Hase, »es war nicht so besonders gut, denn die Frau war nicht mehr die jüngste, und dazu eine böse Seele.«

»Das war gar nicht gut,« sagte der Fuchs.

»O, es war aber auch gar nicht so besonders schlimm, denn sie hatte ordentlich Batzen und überdies ein Haus,« erwiderte der Hase.

»Das war ja gut,« sagte der Fuchs.

»Ach, es war gar nicht so besonders gut,« entgegnete der Hase. »Denn das Haus verbrannte mit all unserem Hab und Gut.«

»Das war ja schlimm,« sagte der Fuchs.

»O, es war nicht einmal so schlimm,« fuhr der Hase fort, »denn die Alte verbrannte auch mit ...«

Der Schmetterling

H. Chr. Andersen

Der Schmetterling wollte eine Braut haben und sich natürlicherweise unter den Blumen eine recht niedliche aussuchen. Zu diesem Zweck warf er einen musternden Blick über den ganzen Blumenflor und fand, daß eigentlich jede Blume recht niedlich war und recht still und ehrsam auf ihrem Stengel saß, wie es eben einer Jungfrau geziemt, wenn sie noch nicht verlobt ist.

Die Wahl drohte mühsam zu werden und diese Mühe gefiel dem Schmetterling nicht, deshalb flog er auf Besuch zum Gänseblümlein. Das Gänseblümlein, auch Marguerit genannt, von dem man behauptet, daß es wahrsagen kann, und das kann es auch. – Wenn Liebesleute, wie das oft geschieht, ein Blatt nach dem anderen von ihr abpflücken und bei jedem Blatt eine Frage über den Geliebten an sie stellen; er liebt mich? – Von Herzen? – Mit Schmerzen? – ein ganz klein wenig? – Ganz und gar nicht? – Sehr – und so weiter mehr. Jeder fragt natürlich in seiner Sprache, und so kam denn auch der Schmetterling, aber er pflückte kein Blatt vom Gänseblümlein ab, sondern er drückte jedem Blatt einen Kuß auf, denn er sagte sich, mit Güte kommt man weiter.

»Liebe Frau Gänseblümlein,« so sagte er, »Du bist die klügste Frau unter allen Blumen! Bitte, bitte, sage mir, bekomme ich die – oder bekomme ich die – oder bekomme ich die?« – Das Gänseblümlein aber antwortete nicht, es hatte sich geärgert, da er doch Frau zu ihr gesagt hatte und da sie doch noch eine Jungfrau war, und das ist doch ein Unterschied! – Er fragte wieder, sie blieb stumm, und so mochte er auch wohl nicht weiter in sie dringen, sondern er flog fort und zwar geraden Wegs auf die Brautschau.

Es war in den ersten Tagen des Frühlings, alles grünte und blühte, duftete und sproßte, berauschend, berauschend. – – Ach, die kleinen Schneeglöckchen, »allerliebste kleine Konfirmandinnen,« so sagte er, »aber eigentlich noch ein bißchen zu sehr Backfisch.« Er wie alle anderen jungen Burschen liebten nun schon mehr die größeren Mädchen. Er wandte sich deshalb den Anemonen zu, aber die waren ein bißchen bitter. Die Lindenblüte zu klein und dann hat sie so 'ne große Verwandtschaft. – Die Veilchen ein wenig zu schwärmerisch! Die Apfelblüte, ja, die sah sehr hübsch aus, fast wie eine Rose, aber sie blühte heute, um morgen wieder abzufallen, nein, die Ehe würde denn doch von zu kurzer Dauer sein, so meinte er.

Die Erbsenblüte war die, welche ihm am besten gefiel, sie sah nett aus und gehörte vor allem zu den häuslichen Mädchen, die hübsch und nett sind und doch für die Küche taugen; er war gerade im Begriff, um sie anzuhalten, da sah er dicht neben ihr an einer Schote eine Blüte, welche ganz welk herabhing. »Wer ist denn die da?« so fragte er. »Das ist meine Schwester,« sagte die Erbsenblüte. »Eure Schwester?« – – »Hm, ja dann sehen Sie später auch so aus? Ach nein, dann lieber nicht!« – Er flog fort, er war entsetzt. – Ja, aber welche liebte er denn? –

Der Frühling ging, der Sommer verstrich, der Herbst kam, er war immer noch unschlüssig. Die Blumen erschienen nun in den allerschönsten Gewändern, doch vergeblich, es fehlte ihnen der duftende Jugendsinn, und Duft begehrt das Herz, auch wenn es nicht mehr jung ist. Gerade davon war bei den Georginen und Klatschrosen wenig zu merken, so schön sie sich angetan hatten. Er wandte sich deshalb der Krauseminze zu ebener Erde zu, die hatte zwar kein Exterieur, aber Duft, – Duft –, und er hielt um sie an.

Die Krauseminze stand da steif und still auf ihrem Stengel und sagte erst gar nichts, doch schließlich antwortete sie: »Freundschaft, ja, aber Liebe, nein. Ich bin alt und Sie sind alt, wir können sehr wohl füreinander leben, aber heiraten? Nein, nein! Machen wir uns doch nicht zum Narren in unserem Alter, ich bitte Sie!« – So kam es, daß der Schmetterling keine Frau bekam, er hatte zu lange gewählt und das soll man nicht. Der Schmetterling blieb ein Hagestolz, was man so sagt.

Der Herbst verstrich, es wurde kalt, wirklich keine Zeit mehr, um im Sommeranzuge draußen herumzufliegen. Aber der Schmetterling flog ja auch gar nicht mehr draußen umher, sondern er war zufälligerweise unter Dach und Fach geraten, wo ein Ofen brannte und wo es sommerwarm war.

Hier, sagte er, kann man schon leben, aber leben ist nicht genug, Freiheit braucht man, Licht und Sonnenschein und ein kleines Blümchen muß man haben – und er flog gegen die Fensterscheiben, wo die Topfgewächse standen, wurde gesehen, bewundert, auf eine Nadel gesteckt und in den Raritätenkasten ausgestellt; mehr konnte man nicht für ihn tun. – Jetzt sitze ich auf 'nem Stengel wie die Blumen, angenehm ist das freilich nicht, aber so ungefähr mag es wohl sein, wenn man verheiratet ist, man sitzt fest! Und so tröstete er sich denn einigermaßen.

Jarro und Cäsar

Selma Lagerlöf

Zu der Zeit, wo Nils Holgersson mit den Wildgänsen umherzog, wohnte am Tåkem ein Wildenterich namens Jarro. Er war noch jung und hatte erst einen Sommer, einen Herbst und einen Winter erlebt. Das war sein erster Frühling. Er war erst kürzlich von Nordafrika zurückgekehrt, und zwar sehr frühzeitig, denn als er am Tåkern anlangte, war dieser noch mit Eis bedeckt.

Eines Abends, als Jarro und die anderen jungen Erpel sich damit vergnügten, in ununterbrochenem Flug über dem See hin und her zu fliegen, erklangen plötzlich ein paar Schüsse, und Jarro wurde in die Brust getroffen. Er glaubte, er müsse sterben; aber damit der Jäger, der auf ihn geschossen hatte, ihn nicht finden und verspeisen solle, flog er weiter, so lange er nur konnte. Er überlegte nicht, wohin er flog, sondern suchte nur das Weite. Als ihn dann die Kräfte verließen und seine Flugkraft erlahmte, befand er sich nicht mehr über dem See, sondern über einem der großen Bauernhöfe am Tåkernstrand, und zum Tode erschöpft, sank er gerade vor dem Eingang dieses Hofes zu Boden.

Kurz darauf ging ein junger Knecht über den Hof. Er sah Jarro und hob ihn auf. Aber Jarro, der nur noch in Frieden zu sterben wünschte, nahm seine letzten Kräfte zusammen und biß den Knecht derb in den Finger, damit er ihn loslasse.

Doch es gelang Jarro nicht, sich freizumachen; aber sein Angriff hatte doch etwas Gutes, denn der Knecht merkte, daß Jarro nicht tot war. Ganz behutsam trug er ihn ins Haus hinein und zeigte ihn der Hofbäuerin, einer jungen Frau mit einem freundlichen Gesicht. Sie nahm dem Knecht Jarro sogleich ab, streichelte ihm den Rücken und trocknete ihm das Blut ab, das zwischen dem Flaum an seinem Hals hervorsickerte. Dann betrachtete sie ihn sehr genau, und als sie sah, wie schön er war mit seinem dunkelgrünen glänzenden Kopf, seinem weißen Halsband, seinem braunroten Rücken und seinen blauen Flügeldecken, dachte sie schließlich, es wäre schade, wenn er sterben müßte. Rasch richtete sie einen Korb her und bettete Jarro darein.

Jarro hatte die ganze Zeit mit den Flügeln geschlagen und loszukommen versucht; als er aber merkte, daß die Menschen ihn nicht umbringen wollten, legte er sich mit einem Gefühl des Wohlbehagens in dem Korbe zurecht. Jetzt erst fühlte er, wie ermattet er von den Schmerzen und dem Blutverluste war. Die Hausfrau nahm den Korb auf, um ihn in eine Ecke am Herd zu tragen; aber ehe sie ihn niedersetzte, hatte Jarro schon die Augen geschlossen und war eingeschlafen.

Nach einer Weile erwachte Jarro dadurch, daß ihn jemand leise anstieß. Als er die Augen aufschlug, erschrak er so fürchterlich, daß ihm beinahe das Bewußtsein schwand. Jetzt war er verloren, denn vor ihm stand einer, der für ihn gefährlicher war als Menschen und Raubvögel. Niemand anders als Cäsar selbst, der langhaarige Hühnerhund, stand vor ihm und beroch ihn.

Welche geradezu erbarmungswürdige Angst hatte nicht Jarro im vorigen Sommer ausgestanden, so oft er, als ein kleines mit gelbem Flaum bedecktes Junges, den Ruf über das Röhricht hin ertönen hörte: »Cäsar kommt! Cäsar kommt!« Und wenn er den braun- und weißgefleckten Hund mit dem zähnefletschenden Maul durch das Schilf waten sah, glaubte er den Tod selbst vor sich zu sehen. Er hatte immer gehofft, die Stunde werde er nie erleben müssen, wo Cäsar ihm Auge in Auge gegenüberstehe.

Und jetzt hatte er zu seinem Unglück gerade in den Hof hinabfallen müssen, wo Cäsar daheim war, denn dieser stand vor ihm! »Was bist du denn für einer?« brummte Cäsar. »Wie bist du denn ins Haus hereingekommen? Bist du nicht drunten im Röhricht daheim?«

Nur mit knapper Not brachte Jarro die Worte heraus: »Sei mir nicht böse, Cäsar, daß ich ins Haus hereingekommen bin! Ich kann nichts dafür. Eine Kugel hat mich getroffen, und die Menschen selbst haben mich in diesen Korb gebettet.«

»So, so, die Menschen selbst haben dich in den Korb gelegt,« sagte Cäsar. »Dann haben sie gewiß die Absicht, dich zu heilen, obgleich sie meiner Meinung nach klüger daran täten, dich zu verspeisen, solange du in ihrer Macht bist. Aber hier im Hause herrscht jedenfalls Burgfriede. Du brauchst nicht so angstvoll auszusehen, wir sind jetzt nicht auf dem Tåkern.«

Damit machte Cäsar kehrt und legte sich vor dem flammenden Herdfeuer zum Schlafen nieder. Sobald Jarro begriff, daß diese gräßliche Gefahr überstanden war, überfiel ihn die große Mattigkeit aufs neue, und er schlief wieder ein.

Als Jarro wieder erwachte, sah er ein Gefäß mit Grütze und Wasser neben sich stehen. Er fühlte sich zwar noch sehr krank, aber Hunger hatte er trotzdem, und so begann er zu fressen. Als die Hausmutter sah, daß es ihm schmeckte, trat sie herzu, streichelte ihn und sah sehr vergnügt aus. Hierauf schlief Jarro abermals ein; mehrere Tage lang tat er nichts als essen und schlafen.

Eines Morgens aber fühlte er sich so gesund, daß er aus dem Korb herausstieg und auf dem Boden hinlief. Aber er war noch nicht weit gekommen, als er auch schon umfiel und nicht mehr aufstehen konnte. Da kam Cäsar herbei, öffnete sein großes Maul und packte ihn. Jarro glaubte natürlich, der Hund wolle ihn totbeißen; aber Cäsar trug ihn in seinen Korb zurück, ohne ihm etwas zuleide zu tun. Dadurch faßte Jarro großes Vertrauen zu Cäsar; ja, bei seinem nächsten Gehversuch ging er geradewegs zu dem Hunde hin und legte sich neben ihn. Von da an waren die beiden gute Freunde, und Jarro lag jeden Tag ganz ruhig schlafend zwischen Cäsars Pfoten.

Ein paar Tage später war Jarro fast hergestellt, und er konnte schon durchs ganze Zimmer fliegen. Er wurde denn auch von der Hausfrau gestreichelt, und der kleine Junge pflückte die ersten hervorsprießenden Grashälmchen für ihn. Während die Hausfrau ihn streichelte, dachte Jarro, obgleich er jetzt wieder so gesund war, daß er, sobald es ihm beliebte, an den Tåkern hätte hinabfliegen können, er wolle sich doch noch nicht von den Menschen trennen, ja, am liebsten möchte er sein ganzes Leben lang bei ihnen bleiben.

Aber eines Morgens in aller Frühe legte die Hausmutter eine Halfter oder Schlinge um Jarro, die ihn am Gebrauch seiner Flügel hinderte, und dann übergab sie ihn jenem Knecht, der ihn damals auf dem Hofe gefunden hatte. Der Knecht nahm ihn unter den Arm und ging mit ihm zum Tåkern hinunter.

Während Jarro krank lag, war das Eis geschmolzen. Das alte vertrocknete Röhricht vom vorigen Jahre stand noch an den Ufern und Holmen, aber alle Wasserpflanzen hatten in der Tiefe Schößlinge getrieben, und die grünen Spitzen reichten schon bis zur Oberfläche des Wassers. Und jetzt waren fast alle Zugvögel zurückgekehrt. Die gebogenen Schnäbel der Scharben sahen aus dem Schilf hervor, die Taucher schwammen mit einem neuen Halskragen umher, und die Bekassinen sammelten eifrig Stroh zu ihren Nestern.

Der Knecht bestieg einen Kahn, legte Jarro auf den Boden und begann in den See hinauszustechen. Jarro, der sich jetzt daran gewöhnt hatte, nur Gutes von den Menschen zu erwarten, sagte zu Cäsar, der auch dabei war, er sei dem Knecht sehr dankbar, daß er ihn auf den See hinausfahre. Aber der Knecht hätte ihn nicht so fest zu fesseln brauchen, denn er wolle den Menschen gar nicht entfliehen. Cäsar gab keine Antwort, er war an diesem Morgen äußerst wortkarg.

Das einzige, was Jarro ein wenig sonderbar vorkam, war, daß der Knecht seine Flinte mitgenommen hatte. Die guten Leute auf dem Hofe würden doch sicherlich keine Vögel schießen wollen. Und außerdem hatte ihm Cäsar gesagt, die Menschen gingen in dieser Jahreszeit nicht auf die Jagd. »Es ist Schonzeit,« hatte er gesagt, »obgleich das für mich natürlich nicht gilt.«

Der Knecht ruderte zu einem der schilfumkränzten Sumpfholme hinüber. Hier stieg er aus, schichtete altes Röhricht zu einem großen Haufen zusammen und legte sich dahinter nieder. Die Schlinge um die Flügel und mit einer langen Schnur an das Boot angebunden, durfte Jarro umhergehen.

Plötzlich erblickte dieser einige von den jungen Wildenten, in deren Gesellschaft er früher um die Wette über den See hin und her geschwommen war. Sie waren weit entfernt, aber Jarro rief sie mit einigen lauten Rufen herbei. Sie gaben ihm Antwort, und eine große schöne Schar näherte sich ihm. Bevor sie noch herangekommen war, begann Jarro von seiner wunderbaren Errettung und von der Güte der Menschen zu berichten. Aber schon knallten zwei Schüsse hinter ihm. Drei Enten sanken tot ins Röhricht. Cäsar platschte hinaus und fing sie auf.

Da verstand Jarro, – die Menschen hatten ihn gerettet, um ihn als Lockvogel zu gebrauchen. Und das war ihnen auch geglückt. Drei Enten hatten um seinetwillen sterben müssen.

Es war ihm, als müsse er vor Scham selbst sterben, ja es war ihm, als ob ihn auch sein Freund Cäsar verächtlich ansehe; und als sie wieder in der Stube waren, wagte er nicht mehr, sich neben den Hund zu legen.

Am nächsten Morgen wurde Jarro abermals an den kleinen Holm gebracht. Auch diesmal gewahrte er bald einige Enten. Als er sie aber auf sich zufliegen sah, rief er ihnen zu: »Fort! Fort! Nehmt euch in acht! Fliegt wo anders hin! Hinter dem Schilfhaufen liegt ein Jäger im Hinterhalt! Ich bin nur ein Lockvogel!« Und es gelang ihm wirklich, die Enten zu verhindern, in Schußweite heranzukommen.

Jarro hatte kaum Zeit, ein Grashälmchen zu verzehren, so eifrig war er auf der Wacht. Sobald sich ein Vogel näherte, schrie er ihm seinen Warnungsruf entgegen; er warnte sogar auch Taucher und Bläßhühner, obgleich er sie verabscheute, weil sie die Enten aus ihren besten Verstecken verdrängten. Aber seinetwegen sollte gewiß kein einziger Vogel ins Unglück geraten. Und dank Jarros Wachsamkeit mußte der Knecht heimkehren, ohne Gelegenheit zu einem einzigen Schuß bekommen zu haben.

Dessenungeachtet sah Cäsar weniger mißvergnügt aus als am Tage vorher; und als es Abend wurde, nahm er Jarro ins Maul, trug ihn zum Herd hin und ließ ihn zwischen seinen Vorderpfoten schlafen.

Aber Jarro fühlte sich nicht mehr behaglich in der Stube; er war tief unglücklich, und das Herz tat ihm weh bei dem Gedanken, daß die Menschen ihn nie lieb gehabt hätten. Wenn jetzt die Hausfrau oder der kleine Junge ihn streichelten, steckte er den Schnabel unter den Flügel und tat, als ob er schliefe.

Mehrere Tage hatte Jarro seine traurige Wacht gehalten, und man kannte ihn schon am ganzen Tåkern. Eines Morgens, als er wie gewöhnlich rief: »Nehmt euch in acht, ihr Vögel! Kommt mir nicht nahe! Ich bin nur ein Lockvogel!« sah er auf einmal ein Tauchernest daherschwimmen. Dies war nun nichts besonders Merkwürdiges; es war ein Nest vom vorigen Jahre, und da die Tauchernester so gebaut sind, daß sie wie Boote auf dem Wasser schwimmen können, treibt häufig eines auf den See hinaus. Aber Jarro blieb doch stehen und betrachtete es, denn es schwamm geradeswegs auf den Holm zu, als ob es jemand über das Wasser steuere.

Als es näher kam, sah Jarro, daß ein kleiner Mensch, der kleinste, den er je gesehen hatte, in dem Nest saß und mit zwei Stäbchen ruderte. Und dieses Menschlein rief ihm zu: »Komm so nahe ans Wasser heran, als du kannst, Jarro, und halte dich zum Fliegen bereit! Du wirst bald befreit werden.«

Einige Augenblicke später lag das Nest am Land, aber der kleine Ruderer verließ es nicht, sondern saß ganz still zwischen Zweigen und Halmen verborgen. Jarro verhielt sich auch beinahe regungslos. Der Gedanke, frei zu werden und seinem Unglück entfliehen zu können, hatte ihn förmlich gelähmt.

Das nächste, was geschah, war, daß eine Schar Wildgänse daherflog. Da kam Jarro wieder zu sich, und er warnte sie mit lauten Rufen; aber dessenungeachtet flogen sie mehrere Male über dem Holm hin und her. Sie hielten sich so hoch in der Luft, daß sie außer Schußweite waren; aber der Knecht ließ sich trotzdem verleiten, ein paar Schüsse auf sie abzugeben. Kaum waren diese abgefeuert, als der kleine Knirps auf und ans Land sprang, ein kleines Messer aus der Scheide zog und mit einem raschen Schnitt Jarros Schlinge löste. »Flieg nun davon, Jarro, ehe der Knecht wieder geladen hat!« rief er, während er selbst in das Nest zurücksprang und vom Lande abstieß. Der Jäger hatte die Augen auf die Gänse gerichtet und daher nicht gemerkt, daß Jarro befreit worden war. Aber Cäsar hatte besser acht gegeben, und gerade als Jarro die Flügel hob, stürzte er herbei und packte ihn im Nacken.

Jarro schrie zum Erbarmen, aber der Knirps, der ihn befreit hatte, sagte mit der größten Ruhe zu Cäsar: »Wenn deine Gesinnung so edel ist wie dein Aussehen, so kannst du nicht jemand bei einer so gemeinen Beschäftigung, ein Lockvogel zu sein, zurückhalten wollen.«

Als Cäsar diese Worte hörte, grinste er boshaft mit der Oberlippe, aber nach einem Augenblick ließ er Jarro los. »Flieg, Jarro!« sagte er. »Du bist wirklich zu gut zu einem Lockvogel. Ich wollte dich auch nicht deshalb zurückhalten, sondern weil die Stube ohne dich so leer sein wird.«

Gebrüder Grün

Gustav Wied

Es waren einmal zwei Frösche, die waren Zwillingsbrüder und Junggesellen und hießen Quabbe und Krabbe.

Ganz unten auf dem Grund eines tiefen Lochs neben der großen Mergelgrube hatten sie ihr Haus. Und da unten saßen sie den ganzen Tag, jeder in seiner Ecke und sagten nicht einen Ton. Aber wenn der Abend kam und die Sonne untergegangen war, krabbelten sie aus ihrem Loch heraus und verbargen sich unter ein paar großen Huflattichblättern; und da lagen sie dann auf ihren fetten Bäuchen und lauerten darauf, ob sich etwas Eßbares zeigen wollte; denn das, was sie in dieser Welt am höchsten schätzten, war Essen; und das ist ja auch eine gute Sache, wenn man's mit Maß genießt. Aber sie hatten nun so viele Jahre lang, die Gott der Herr hatte werden lassen, sich in einem Grade angefüllt, daß ihnen die Bäuche, mit Verlaub zu sagen, bis auf die Knie herabhingen und die Augen über einen halben Zoll aus dem Kopfe herausstanden. Ja, es war wirklich ein Paar schmucker Kavaliere. Und dabei waren sie so wichtig und von sich eingenommen, daß sie mehrmals dicht daran gewesen waren, vor Wut zu platzen, als ihnen jemand widersprach. Doch eines mußte man ihnen lassen: sie hielten zusammen; war der eine beleidigt, war der andere beleidigt.

»Sie sollten sich beide eine kleine Frau nehmen, meine Herren!« sagte der Igel eines Abends, als er ans Wasser hinunterkam zum Trinken. »Eine Frau erfreut das Herz und versüßt das Leben! Und dann die Kinder!« sagte er, und die Stacheln auf seinem Rücken sträubten sich vor Freude, »und dann die Kinder!«

Der Igel war nämlich Ehemann und Vater und er war froh darüber.

»Kümmern Sie sich um sich selbst!« sagte Quabbe, der mit einem Regenwurm aus dem Mundwinkel hängend dasaß, »es hat Sie niemand um Ihre Meinung gebeten!«

Und Krabbe ließ seine Augen noch weiter aus dem Kopf herausquellen, sah den Igel schief an und sagte:

»Das ist übrigens unser Wasser!«

»Um Gottes willen, entschuldigen Sie!« sagte der Igel, der ein höflicher und gutmütiger Bursche war, »das wußte ich nicht! Aber Sie gestatten doch wohl, daß ich einen Mundvoll nehme? Ich bin so durstig?«

Keiner der Brüder antwortete; sie mochten nicht, sie hatten alle beide den Rücken gewandt und saßen da und glotzten jetzt begehrlich nach einer schönen, grünen Fliege, die oben unter einem der Huflattichblätter einherspazierte; der eine war bange davor, daß der andere sie bekäme. Aber gerade als Krabbe sie seinem Bruder vor der Nase wegschnappen wollte, flog sie davon.

»Habt ihr mich?« sagte die Fliege, und weg war sie.

»Man hat nicht immer Glück!« bemerkte der Igel teilnehmend; er hatte seinen Durst jetzt gelöscht und glaubte zum Entgelt etwas sagen zu müssen, daß man ihm zu trinken erlaubt hatte.

»Gehen Sie doch gefälligst Ihrer Wege!« sagte Quabbe.

»Es hat Sie niemand holen lassen!« sagte Krabbe.

siehe Bildunterschrift

Rembrandt van Rijn, Elefant.

»Na, gute Nacht denn! Und guten Fang!« nickte der Igel höflich; und damit kroch er fort.

»Nadelkissen!« murmelte Quabbe und wandte seine Stielaugen ihm nach.

»Spitzschnauze!« sagte Krabbe.

Sie saßen eine Zeitlang schweigend, und nichts kam zur Nahrung vorbei, und sie wurden immer erboster. Der Unterkiefer hing ihnen ganz bis auf die Brust, und sie schwitzten grün vor Bosheit.

»Ich glaube, der Igel sprach davon, daß wir uns verheiraten sollten?« brummte Quabbe.

»Hö, ja,« lächelte Krabbe säuerlich, »wenn Leute ins Unglück gekommen sind, dann wollen sie andere gern nachziehen. Er selbst sitzt da und hat das ganze Nest voller Jungen!«

»Kann man sie essen?«

»Ja, die Krähen machen sich viel daraus.«

»Hoffentlich werden die Krähen sie sich holen!« sagte Quabbe. »Es ist ekelhaft, all die Jungen in die Welt zu setzen! Essen wollen sie alle miteinander. Da bleibt ja bald für uns andere gar nichts mehr.«

»Das ist wahr und gewiß, Bruder!« sagte Krabbe.

»Und das ist bloß von wegen der verdammten Liebe.«

»Und wegen der großen Heiratswut.«

So saßen sie da und redeten und murmelten und brummten die beiden lieben Brüder, bis in die Nacht hinein; und bald erschnappten sie eine Fliege und bald einen Nachtschwärmer und bald eine Mücke und schmatzten sie in sich hinein mit ihren breiten Kinnladen, daß es klang, als schlüge man ein Paar neue Handschuhe gegeneinander; aber satt wurden sie nicht, sagten sie, und erst gegen die Morgenstunde hin, als es begann hell zu werden, krochen sie zu ihrem Loch und ließen sich da auf den Boden plumpsen. Und da saßen sie dann, von morgens bis abends, und schliefen und verdauten und glotzten und stocherten sich die Zähne. Und dunkel war es da unten und feucht und trist; aber das gefiel ihnen gerade.

Doch darüber, oben in dem hellen Sonnenschein war Leben und Licht und Freude und Fröhlichkeit! Draußen über dem Wasser schwärmten Schmetterlinge und Libellen und setzten sich bald auf die eine Blume und bald auf die andere, kleine zierliche Fische schwammen oben im Wasser umher und schlugen mit den Schwänzen und spielten Greifen. Und hoch in der Luft kreisten Schwalben und Stare und genossen die Aussicht und sahen hinunter auf das Ganze und auf den Storch, der da unten in seinen langschäftigen roten Stiefeln herumspazierte, die Füße ganz vorsichtig hob, und sie wieder ganz stille hinsetzte, um kein Geräusch zu machen.

Mit einemmal fiel sein Auge auf ein rundes Loch, das im Schlamm oben an der Wasseroberfläche war.

Gott weiß, wer da wohnen mag? dachte er und ging dorthin. Und als er neben dem Loche stand, legte er den Kopf auf die Seite und kuckte hinunter.

»Nehmen Sie sich in acht, nehmen Sie sich in acht!« rief ein Schmetterling, der gerade vorbeigeflogen kam.

»Sind Sie verrückt, sind Sie verrückt?« schrie eine Libelle, die dasaß und sich oben auf der Spitze eines Schilfrohrs sonnte, »sind Sie verrückt, sind Sie verrückt?«

Und eine kleine blaugrüne Fliege, die auf einem Wasserlilienblatt vorübergeschwommen kam, schrie auch: »Sind Sie verrückt?« und wäre beinahe kopfüber ins Wasser gegangen vor Schreck.

»Aber Gott bewahre!« sagte der Storch und ihm wurde ganz bedenklich zumute. »Wer wohnt denn da in dem Loch?«

»Die Gebrüder Grün!« sagte die Libelle und schlug mit den Flügeln ein Kreuz bei dem bloßen Nennen des Namens.

»Die Gebrüder Grün!« riefen die Fliegen unter den Huflattichblättern. »Die zwei schlimmsten Ungeheuer in der ganzen Welt!«

»Die Gebrüder Grün!« pfiff der Regenwurm. »Gestern Abend fraßen sie meine Frau.«

»Darf ich fragen, zu welcher Tierklasse sie gehören?« fragte der Storch.

»Frösche, Frösche, Frösche!« ertönte es von allen Seiten.

»Na!« sagte der Storch, »weiter nichts! Dann kann man sie sich ja holen!«

Und er jagte ganz ungeniert den ganzen Schnabel hinunter in das Loch bis an die Augen.

Richtig, da saßen sie, die beiden Herren Gebrüder. An den Hinterbeinen zog er sie heraus und setzte sie vor sich hin.

»Laß mich los, Krabbe!« schimpfte Quabbe und zappelte. »Ich will runter! Die Sonne scheint mir in die Augen! Ich will runter! Um Gottes willen! Der Storch!«

»Wollt Ihr uns fressen?«

»Ich habe die Absicht,« sagte der Storch.

»Wir sind ja so alt und so zäh und so mager.«

»Ach, ihr werdet schon rutschen! Ihr seht nicht so aus, als ob ihr Not gelitten habt.«

»Das ist Wassersucht!« schrie Krabbe.

»Ich versichere Eure Hochbeinigkeit, das ist die reine und schiere Wassersucht! – – – Sage du doch etwas, Quabbe!«

»Ich bin seekrank!« sagte Quabbe, und es war nicht möglich, etwas anderes aus ihm herauszubekommen.

»Also kurzer Prozeß,« sagte der Storch, »Eins, zwei ...«

Aber gerade, als er drei sagen wollte und mit dem Schnabel auf Quabbe einhauen, sprang Quabbe auf, setzte sich auf sein Hinterteil, streckte den einen Finger in die Luft und sagte:

»Wir wissen ein Igelnest!«

»Ein Igelnest?« fragte der Storch und hob den Kopf.

»Ja, ja,« nickte Krabbe eifrig.

»Wie viele sind darin?«

»Sechs Junge!«

»Sind sie fett?«

»Wie Bäckerkinder!«

»Haben sie Stacheln?«

»Ein paar ganz kleine, die nicht genieren werden!«

»Ist es weit von hier?«

»Zwei Schritt übers Feld hin!«

»Aber die Alten?«

»Die Alten sind aus; das sind sie immer um diese Zeit!«

»Woher weißt du das?«

»Ja, es sind ja unsere besten Freunde!«

»Gut!« sagte der Storch entschieden. »Zeig' mir das Haus! Und behagt mir der Schmaus, sollt' ihr entschlüpfen! Wir wollen schnell machen! Igeljunge sind mein Leibgericht!«

»Erst ein kleines Papier!« schmeichelte Krabbe, der jetzt einen Teil seiner Fassung wiedergewonnen hatte. »Erst ein kleines Papier, Eure Hochbeinigkeit.«

»Das braucht es nicht zwischen uns!« sagte der Storch. »Ihr habt ja mein Wort!«

»Bewahre,« sagte Krabbe höflich. »Und das ist natürlich ausreichend. Aber ein kleines Papier um Lebens und Sterbens willen, wie es heißt!«

Und der Storch mußte sich eine Feder aus dem Schwanz reißen und auf ein Huflattichblatt schreiben, daß er sich verpflichte, Abstand davon zu nehmen, die Gebrüder Q. und K. Grün zu verspeisen, wofern sie ihm das versprochene Igelnest zeigten und wofern die Jungen nicht zu mager wären.

»Mager, nein, das sind sie nicht!« sagte Krabbe eifrig. »Hier ist kaum mehr Nahrung aufzutreiben gewesen, so haben die Alten für sie zusammengescharrt! Das ist ekelhaft, wenn sich einer so mit allem vollfüllt, was er sieht.«

»War das auf mich gemünzt?« fragte der Storch.

»Aber keineswegs!« sagte Krabbe und beugte sich ganz tief zur Erde. »Absolut nicht! In keiner Weise! Das würde mir niemals einfallen!«

Und damit gingen alle drei zu dem Igelnest.

»Hier ist es!« sagte Krabbe und bog das Gras zur Seite.

Und da lagen ganz richtig die sechs leckersten, kleinen Jungen und schliefen, die Schnauzen einander in die Seiten gebohrt.

Dem Storch traten Tränen in die Augen, als er sie sah.

»Das ist beinah Sünde an den Eltern!« sagte er.

Aber in demselben Augenblick saß ihm schon ein Junges tief unten im Halse.

»Sehr gut, sehr gut!« sagte er. »Ich habe schon schlechtere Sachen geschmeckt!« Und er nahm ein Mundvoll dazu und ließ es ganz langsam hinabgleiten.

»Gott, was muß Ihnen die Nahrung für ein Vergnügen bereiten!« sagte Krabbe neidisch. »Bei Ihrem Hals!«

»Kann nicht klagen!« sagte der Storch, er war mitten in Nummer drei.

»Und diese Speise ist nach Wunsch?«

»Ausgezeichnet!«

»Die Stacheln kratzen nicht?«

»Kann sie gar nicht spüren!«

»Ja, dann wünschen wir Ihnen gesegnete Mahlzeit zum Rest!« sagte Krabbe und nahm seinen Bruder unter den Arm.

»Nein, wartet ein bißchen!« sagte der Storch und vertrat ihnen den Weg. »Sie müssen erst meine Frau begrüßen!«

»Ihre Frau?«

»Ja, das wird sie freuen!«

»Denket an das Papier!« sagte Krabbe und schwitzte aufs neue grün.

»Ja, ich werde Sie wahrhaftig nicht anrühren!« beteuerte der Storch und legte seinen langen, biegsamen Hals über den Rücken zurück und klapperte mit dem Schnabel, so daß es weithin Echo gab.

»Das war ein widerlicher Laut!« murmelte Quabbe.

»Ja,« sagte der Storch, »aber er ist nützlich! Und da haben wir die Madame!«

In dem Augenblick rauschte es in der Luft; es war die Storchmutter, die geflogen kam. Sie umkreiste ein paarmal die Stelle, streckte die Beine von sich und schlenkerte mit ihnen, um festen Fuß zu fassen; und nun stand sie da. Aber ehe sie soweit gelangt war, hatte der Storchvater den Rest Igeljunge verschluckt; er beeilte sich in einer Weise, daß er das letzte beinahe verkehrt in den Hals bekommen hätte.

»Issest du?« sagte Mutter Storch und sah ihn scharf an.

»O, eine ganze Kleinigkeit! Aber darf ich nicht vorstellen: Meine Frau ... Gebrüder Grün!«

»Ah, welch brave Herren!« lächelte die Frau.

»Ja, ich glaubte, es würde dich freuen, ihre Bekanntschaft zu machen, meine Liebe!« nickte der Storch.

Die Zwillinge saßen da und schwitzten grün vor Angst und den »Kontrakt« hielten sie hoch in die Luft wie ein Schild.

»Der Kontrakt! Der Kontrakt!« schrien sie.

»Wann hab' ich Kontrakt gemacht?« sagte Frau Storch. »Sie erlauben schon.« Weg waren sie, die Storchmutter hatte sie gefressen!

Der Storchvater stand auf einem Bein, er sah philosophisch aus und meinte: »T'ja, ein Mann kann für die Handlungen seiner Frau nicht verantwortlich gemacht werden.«

Die Schwarzamsel

Johannes V. Jensen

Langsam weicht der Schnee, obgleich das Jahr schon vorgeschritten ist und die Sonne Kraft hat; der Erdboden ist tief gefroren und der Wind kalt wie eine Dusche, denn er kommt von draußen, von all dem vielen Eis, das seit Monaten in den Fahrwassern um die dänischen Inseln herumtreibt.

Jetzt aber müßte es bald so weit sein. Die Zugvögel warten bereits an der Grenze darauf, daß Thule geöffnet werde; die wenigen, die hier sind, fangen bei kleinem an, etwas zu sagen, nicht viel, nur einen kleinen Pieps, sie haben sich lange nicht gemuckst, jetzt aber wagen sie es doch, ihre Stimme zugunsten des Frühlings abzugeben.

Den Spatzen hat es während der letzten Jahre behagt, die Bäume in den Anlagen bei der Heiligen-Geist-Kirche zu besetzen; hier hocken sie in dichten Scharen, so daß es aussieht, als hingen die Zweige voll runder, dauniger Früchte. Und ein Gezwitscher veranstalten sie, besonders zur Abendzeit, wenn der kurze, schwindende Tag sich mit dem Licht der Bogenlampen vermischt; Leute, die unter den zwitschernden Bäumen spazieren, können nicht begreifen, weshalb ihnen so sinnlos sommerlich zumute wird. Der Sperling ist unruhig geworden, man kann ihn mitten auf dem Fahrweg sitzen sehen, wo er sein vertragenes Winterkleid putzt, Luft unter die Flügel hereinläßt und sich rastlos hin- und herwendet; es scheint, daß ihm andere Dinge eingefallen sind als das tägliche Brot. Hier und dort in den Bäumen des Boulevards kann man ein Männchen sehen, das Anläufe zu herrlichen Kunsttänzen vor dem Liebchen macht, es dreht sich im Kreise mit radschlagendem Schwanz und hängenden Flügeln, es trippelt wie auf Feuer und zittert, während es den kleinen Schnabel zum Himmel hebt und, ach, ganz furchtbar tiriliert; das Ganze soll offenbar eine betäubende Ausstellung von Pracht und Augenlust sein. Das kleine graue Spatzenweibchen aber beachtet den Freiertanz ganz und gar nicht, es fliegt von dem Wundermann fort auf die Straße hinab, um dort etwas zu suchen, das vielleicht eßbar ist, erst mit dem einen Auge, dann mit dem andern; der Mann ist seiner Zeit voraus. Eines Tages aber wird man Spatzenmutter mit einem langen güldenen Strohhalm im Schnabel über die Straße fliegen sehen, dann ist das Mirakel geschehen, das ihren Sinn geöffnet hat. Ach, wenn es doch bald geschähe!

Die Schwarzamsel schweigt. Sie hat sich den ganzen langen Winter in Gärten aufgehalten in der Nähe von Vogelbeerbäumen, die bis tief in die kalten Tage hinein ihre roten Beeren behalten haben; sie hat ihr scheues Gespensterleben hinter Bretterzäunen und in kahlen, schwarzen Büschen geführt, selbst schwarz wie Kohle und mit einem schwefelgelben Schnabel, wie eine Seele, die keinen Frieden finden kann, immer auf der Flucht, wenn man sie sah, immer stumm; denn das eigenartige, metallische Geschnatter, das sie von sich gibt, wenn sie flüchtet, ist nicht ihr eigentliches Wesen, es ist nur ein Wahnsinnsschrei, der sie in Wirklichkeit nur noch stummer macht; das Wesen der Schwarzamsel ist Gesang. Aber ihre Zeit ist noch nicht da.

Die Schwarzamseln, die den Winter über hierbleiben, sind nur Männchen. Die Weibchen ziehen mit dem übrigen Drosselzug nach dem Süden und sind noch nicht zurückgekehrt.

Auf dem Friedrichsberger Kirchhof braut der Frühling gar seltsam. Die Erde ist noch kalt, und die Stille im Garten der Toten wird weder von Mücken noch von anderem Sommergetier unterbrochen, hier schläft alles. Die Bäume stehen eigentümlich dick, mit draller Rinde da, schwellend von Wachstum, aber ohne Blätter. Die Trauerweiden, die fürs Frühjahr beschnitten sind, sehen wie verwachsene Knöchel von mystischen, ausgestorbenen Tieren aus, und die dunklen, zurechtgestutzten Nadelbäume träumen hoffnungslos vom Süden. Auf den Grabdenkmälern, die von entschwundenem Stil und von entschwundenen Zeiten erzählen, liest man die bekannten, schweigenden Namen, während das Sausen der Großstadt wie eine Mauer am Horizont steht, eine ewige Fülle, die das Schweigen hier drinnen noch nährt. Die Straßenbahn draußen in der Allee steigert ihre Fahrt mit einer lauten, zunehmenden Note – schon gut. Ein Dampfer heult draußen im Sund vor Sehnsucht nach dem Hafen. Ob der Kapitän auf der Brücke, der Heizer beim Kessel, diesem Kirchhof wohl einen Gedanken schenken? Ein Mädchen mit feuerrotem Haar geht am Gitter vorbei, ohne einen Blick hineinzuwerfen. Wozu auch? – Hier ist gut sein. Oehlenschlägers Grab liegt tauwetternaß da, es blitzt kristallisch in dem rotbraunen Granit. »Charlotte«, liest man zwischen dem Efeu auf der Mauer, »geboren 1811, gestorben 1835«. Stille! Und wenn man sich die Bürde von Süßigkeit und Schmerz, die in toten Namen liegt, auf den Rücken geladen hat, schüttelt man sie wieder ab und geht davon. Hier ist es kalt, die Sonne aber wärmt durch die rauhe Luft, und wieder schaudert einem vor diesem Frühlingsmysterium, vor der Winterluft, durch die die Strahlenwärme der Sonne dringt.

Vormittags, wenn die Sonne ein wenig von einem ziemlich klaren Himmel herabscheint, bevor die Wolken sich zusammenziehen, um das gewöhnliche Tag- und Nachtgleichewetter zu bilden, raschelt ein kleiner Vogel auf dem Kirchhof, ich weiß nicht, ob es ein Fink oder irgendein anderer kleiner Sänger ist. Er sitzt in einem Baum und grüßt die Sonne mit einem langen, ganz gedämpften Silberton, wie eine Zikade; es klingt wie ein weißer Sonnenstrahl, und ich sehe, wie der Vogel sich auf dem Zweige reckt, wie er sich lang macht und oben im Licht badet, wie er sich weich, mit dünnem Hals, zu etwas empor schmiegt, was durch die Luft zu ihm herabkommt: die Liebkosung der Sonne. Zu anderen Zeiten bricht er in einen hellen, zarten Triller aus, der so klingt, als ob ein Stein über frischgefrorenes Eis hüpft, dann ruft er wahrscheinlich sein Weibchen. Ich habe gesehen, wie die beiden sich schnäbelten: das Männchen saß auf einem Zweig, und das Weibchen kam unter ihm herangeflogen, und indem er seinen Schnabel hinabreichte, biß sie sich darin fest und ließ sich frei in der Luft hängen, während sie beide mit den Flügeln schlugen und zitterten, so daß sie fast unsichtbar wurden, eine Doppelglorie von noch nicht reifer Wonne, der Ausdruck zweier unbewußter Herzen, daß sie sich freuten, auf den Frühling freuten.

Die Schwarzamsel aber ist allein. Sie flüchtet wie ein Schatten durch die Büsche auf dem Kirchhof, indem sie den Widerhall dieses messingkreischenden, wilden Gelächters hinterläßt, das so klingt, als ob sie nie im Leben ein Sängerherz im Leibe gehabt hätte. Kommt man ihr zu nah, dann sieht sie einen unversöhnlich an, schwarz und mit einem Schnabel, der in die Hölle getaucht zu sein scheint, dann duckt sie sich und flattert lautlos hinter den Zypressen zu einem anderen Grabe.

Und dennoch ist es derselbe Vogel, den wir in einigen Wochen, vielleicht in einigen Tagen, auf einem der höchsten Grabsteine werden sitzen sehen, wo er sich in seinen blanken Federn der Sonne entgegenbrüstet, wie eine Seele, die über ihre zerbrochene Form triumphiert, die Kehle voll tiefer, herrlicher Flötentöne, eins mit dem Sonnenschein, brausend, den Schnabel von Gold! Dann ist das Weibchen heimgekommen.

 

Johannes V. Jensen, Der Kondignog

Ich bin einmal auf allen Vieren gegangen, und dessen erinnere ich mich bisweilen, wenn auch unklar in solchen Augenblicken, wo das Gefühl für die Zeit mich aus Müdigkeit oder Überanstrengung im Stich läßt. In meiner Jugend hatte der Tag oder das Jahr nicht denselben Wert für mich wie für Leute im allgemeinen; ich befand mich immer über oder unter oder im Umkreis der gegenwärtigen Zeit. Nur einmal bin ich auf ganz unerklärliche Weise außerhalb der Zeit geraten, und zwar fühlte ich mich so durchgreifend isoliert, daß ich, ohne eigentlich Kummer darüber zu empfinden, mich auf die Vorderglieder legen und abseits gehen mußte, ins Freie hinaus, um Gras zu fressen, oder unter einen Busch, um zu sterben. Noch jetzt empfinde ich zuweilen den eigenartigen Kälteschauer, das innere, unendliche Gefühl der Verlassenheit, das mich wie ein Gift schüttelte, die seelische Übelkeit, die mich ganz kraftlos machte, bevor der Anfall kam. Noch heute rieselt es mir manchmal über den Rücken, wie es mir damals in meine Borsten kroch, ich fühle eine Art Erinnerung in meiner Haut an das beginnende und kalte Gefühl, an den tödlichen Anfall von »Gänsehaut«, womit es anfing, und dann weiß ich, daß es die Zeit war, die mich verließ, daß die namenlose Einsamkeit mir eine andere Haut gab und mich aus dem Dasein hinausführte, während ich gleichzeitig mitten drin blieb.

Wenn einst der bittere, unvermeidliche Schauder zurückkehrt, der letzte Kälteschauer in der Seele, bei dem man stirbt, dann werde ich meinen Zustand von damals wiedererkennen.

Es war in Madrid, mitten am Tage und im Sonnenschein auf dem Prado, als ich auf einer Bank saß und plötzlich verwandelt wurde, ohne daß ich oder irgendeine Macht der Welt es verhindern konnte. Ich war übrigens in einer ziemlich jämmerlichen Verfassung, hatte seit fünf Tagen nichts gegessen und mochte wohl für ein Krankenhaus reif sein. Mir aber schien es nicht, als ob mir etwas fehle, ich hatte alle meine Kräfte beisammen, und es behagte mir, hier so schweigend zu sitzen und die Leute im Sonnenschein an mir vorüberziehen zu lassen, Leute, die eine Sprache redeten, von der ich nur den Laut auffing. Ein Kennzeichen, daß ich nicht im Gleichgewicht war, bestand darin, daß der Tag mir ungewöhnlich wertvoll erschien, obgleich es nur ein ganz gewöhnlicher, sonniger Maitag war, mit Wärme am Morgen und zunehmender Hitze. Der Himmel war wolkenlos, aber weißlich unter der Herrschaft der Sonne, die Bäume auf dem Prado blähten sich in all ihrer neuentfalteten grünen Laubpracht wie Wesen, die um einander werben. Von den kreideweißen Häusern drüben auf der anderen Seite des Alameda kam ein stechender Geruch von Kohlensäure, den die Sonnenhitze aus den Mauern lockte, und man konnte gleichzeitig einen leisen Hauch spüren, eine Kelleratmosphäre von den Steinen drüben, die noch Kälte in sich bargen und sie nun um sich verbreiteten. Ein Mann mit einem Kühler auf dem Rücken ging an den Bänken vorbei und bot Wasser feil, agua, sagte er und sah mich verständig, menschlich an – agua como la nieve, und ich weiß nicht, weshalb ich ihn wegen seines Blickes lieb gewann, weshalb ich mich so plötzlich und heftig zu dem einfachen Mann mit dem Wasserkübel hingezogen fühlte, daß ich hätte schreien und weinen können. Ach, und ich war so arm, daß ich nicht einmal ein Glas Wasser von ihm kaufen konnte. Während ich so dasaß, wurde ich immer mehr von stiller Liebe zu allem erfüllt, was ich sah, aber gleichzeitig wurde ich immer kränker. Nicht, daß mir etwas fehlte, aber ein versinkendes, ein hoffnungsloses Gefühl war mit dem Atmen verbunden, während die Zeit verging. Ja, während die Zeit verging. Es war, als sei ich es allein, der die Verantwortung trug, daß die Bäume so grün waren, daß die Sonne auf den Kies schien, daß der Springbrunnen so unaufhörlich irgendwo hinter dem Laub plätscherte ... Wenn ich nun müde würde und versagte? Wenn die kleinen Kinder, die auf dem Kies dahintrippelten, stumm vor üppigem Wachstum, wenn niemand sie mehr lieb haben, wenn ich nicht mehr mit überquellendem Herzen und einem Meer von Freude auf den Lippen nach ihnen sehen würde? ... Ja, dann würden sie wohl trotzdem dort trippeln. War ich es vielleicht, der sterben mußte, und darum an all diesen kleinen wunderbaren Dingen der Erde hing? Sterben ... im Gegenteil, ich war ja von einer inneren göttlichen Kraft erfüllt, von einer panischen Schöpferkraft, die mich überall hinzuführen imstande war. Es war ein Schicksal in der Nähe, es lag etwas in der Zeit, nicht in der Luft. Ein anderes Wesen rührte sich in meinem Inneren, ich fühlte hin und wieder eine dunkle Qual, die um so unerträglicher wurde, als ich sie ganz gleichgültig kommen und gehen ließ.

In dem schmerzreichen Augenblick, als ich auf der Bank saß und die gegenwärtige Zeit mir zu entschwinden begann, war ich bei völlig klarem Bewußtsein. Ich dachte etwas Ähnliches wie: jetzt werde ich verrückt, oder jetzt sterbe ich, weil der Himmel eine andere Farbe annahm und ich ganz kalt wurde, während sich tausend feine Nadeln durch meine Poren zu ziehen schienen ... O, jetzt konnte ich die Bäume nicht mehr sehen, ich war blind, und wo waren meine Hände? Übelkeit ... es gingen krampfartige Zuckungen durch meine Eingeweide, ich merkte, wie mein Hals vornüberfiel – so schwer war also mein Kopf – der plätschernde Springbrunnen wurde zum Weltenmeer, das mir durch die Ohren sauste, ich war in der Ewigkeit, dem schneidenden Nichts, der Stille, die mir durch die Seele dämmerte ... Und mitten in dieser grenzenlosen Ohnmacht war ich bei vollem Bewußtsein, hatte hin und wieder die Vorstellung, daß ich sehen konnte. Sah ich nicht Bäume mit den Augen, obgleich ich nicht lebte und es nicht erfaßte, saß ich nicht auf einer Bank? Vielleicht konnte ich leben, wenn ich es noch wollte, obschon ich abwesend war, gebunden, ohne Sinne, ohne Körper und Glieder ... und doch immer bei vollem Bewußtsein. So verlassen war ich.

Da geschah es, daß ich mich auf allen Vieren niederlegte und zu gehen begann, um fortzukommen. Und indem ich mich fortbewegte, kehrten meine Sinne zurück. Noch klang es fern in meinem Kopf vom Ewigkeitssturm, aber im übrigen lebte ich wieder und fühlte mich als der, der ich war. Ich bewegte meine kurzen, dicken Beine und sah, daß sie so waren, wie sie sein sollten, schmutzig fleischfarben und mit schiefrigen Pigmentflecken hier und da, auch die Hornnägel an meinen roten Klumpfüßen kannte ich wohl. Ich fühlte meinen Schwanz, meine Flughaut und meine Mähne, ich öffnete und schloß meinen Mund mit den schuppigen Lippen, und konstatierte einen sehr echten Hunger.

Ob ich ein Drache oder ein Basilisk war? Nein, entschuldigen Sie, ich war ein Kondignog, eine recht seltsame Menscheneidechse, ein in allen Zeitperioden heimatloses Geschöpf. Ich hatte nichts Böses im Sinn, würde mich in der Wahl meiner Nahrung nicht irren oder etwas umstoßen, ich war auf einem Spaziergang begriffen und hatte mich auf den Prado verirrt, hatte aber selbst den Wunsch, mich wieder zu entfernen, wenn man mich nur passieren lassen wollte ...

Noch erfaßte ich nicht mein Unglück. Erst als ich ein Stückchen gegangen war und dem Mann mit dem Tonkühler begegnete, wurde es mir klar. Er betrachtete mich mit genau demselben Blick wie vorhin und machte mich höflich auf das aufmerksam, was er trug – agua, senor ... agua fresca – wie zuverlässig und alltäglich seine Stimme klang, ich habe sie nie wieder vergessen können, wie gutmütig sein einfältiges Gesicht unter den grünen Bäumen leuchtete ... Er aber sah mich, den Kondignog, nicht; nicht die geringste Scheu in seinem Blick verriet, daß er mich für das Fabeltier hielt, zu dem ich geworden war! Ich selbst konnte ja an meinem Schatten sehen, wie es um mich stand. Es war mir ein bitterer Kummer, daß er mich nicht sehen konnte, wie ich wirklich war.

Viele Menschen, sowohl Herren wie Damen, gingen an mir vorbei und streiften mich mit einem Blick, ohne augenscheinlich etwas anderes zu sehen, als daß ich ein menschliches Wesen war, wie sie selbst. Da wußte ich, daß ich verloren sei. Es siedete mir durch alle Nerven vor Schreck, ebenso wie vorhin, als ich verwandelt wurde, der Himmel veränderte seine Farbe, und statt der Häuser und Bäume schienen mir ringsum hohe, wehende Farngebüsche aufzutauchen und kupferfarbige Sumpflöcher gerade vor mir; der Anblick wich wieder, schien aber gleichsam in ahnenden Umrissen hinter den sonnenbeschienenen Häusern stehen zu bleiben. Ich atmete tief auf, und verließ die Stadt.

Draußen in den warmen Mondnächten, auf dem wüstentrockenen, weiten Land, das Madrid umgibt und wo nur Mohn wächst, fand ich meine Kräfte wieder und ergab mich in mein Schicksal. Dort hörte ich zum erstenmal meine richtige Stimme, in einer Mitternachtsstunde, als ich mein Maul zum Mond erhob und mich ausweinte; ich hatte eine tiefe, brüllende Stimme, ein Jammergeheul, das mich als Ausdruck für die Einsamkeit in der Welt ziemlich befriedigte. Wie mein Kopf aussah, das erfuhr ich niemals; ich hätte mich leicht in einer Pfütze spiegeln und mir auf diese Weise Gewißheit verschaffen können; aber das wagte ich nicht, ich wußte, daß ich außerdem noch genug Entsetzen zu tragen hatte.

Übrigens grämte ich mich nicht weiter; ich war ja selbst der Schmerz. In der Gestalt des Tieres, zu dem Schwermut und Angst mich verwandelt hatten, amüsierte ich mich während der öden Nächte recht gut. Ich verfiel darauf, zu spielen, unterhielt mich ganz allein im Mondschein mit den Fertigkeiten, die ein Kondignog besitzt, und über die ich zu meinem Staunen verfügte. Meine Kraft war phänomenal, und im Verhältnis dazu war ich geschmeidig; ich konnte Luftsprünge von zwanzig bis dreißig Metern Höhe machen, wobei ich mich sowohl meiner Flughaut wie meines Schwanzes bediente. Dieser Schwanz, mit dicken Hornknoten besetzt, war so kräftig, daß ich ganze Löcher damit in die Erdkruste schlagen konnte. Wenn ich in die Höhe gesprungen war, machte ich mit einem Schlag in der Luft kehrt, und hatte Zeit mich umzusehen, wo ich landen wollte, bevor ich wieder herunterkam. Einmal stürmte es, da begann ich zu bellen und in den Staubwolken zu galoppieren, bald in der Luft und bald auf der Erde; bevor ich es selbst recht wußte, war ich auf dem besten Wege nach der Sierra de Guadarama – Himmel und Hölle, wie war es herrlich, seine Kräfte so auszutoben, ich flog mehr als ich sprang, und bei so einem gewaltigen Flugsprung landete ich nicht auf der Erde, sondern in einem kleinen Binnensee ... Oh, das war gar nicht unangenehm, denn ich schwamm ja wie ein Wesen, das nie ein anderes Element wie das Wasser bewohnt hatte, ich schlug den ganzen See zu Schaum, kreiste auf einer Stelle herum, bis der Grund bloß lag und der See über seine Ufer trat, galoppierte darauf weiter in die Berge hinauf und wieder herunter, tat bisweilen einen Sprung von mehreren hundert Metern Tiefe die Abhänge hinab, landete immer auf meinen vier soliden Beinen und konnte jeden Stoß vertragen, ob ich auf Felsen oder auf weichen Boden fiel. Ich fand Geschmack daran, mich zu tummeln, ich sprang ins Meer, bei Gewitter, bei Nebel, ich vermischte meine Flughaut und meine Mähne mit den Wolken, schnappte nach den Hagelkörnern in der dünnen Luft, setzte in fliegenden Känguruhsprüngen über Wälder ... Und immer sehe ich blitzartig die eigentliche Wirklichkeit hinter den Dingen, in denen ich lebe, andere Farben, andere Gewächse, Schattenrisse im Nebel, wie von turmhohen Schachtelhalmen in einer dampfenden Atmosphäre, blaue Spiegelungen von Seen, worin es kochend brodelt wie von heißen Steinen auf dem Grund, Wirbel von springlebendigen Wolken am Himmel, um das blendende Feuer der Sonne herum, ... bis ich die Küste erreiche und mich von den Klippen in die Brandung stürze. Ich streife meilenweit im Atlantischen Ozean umher, streite mich mit den grünen Wogen, hüpfe hoch daraus empor, um den Mond zu erreichen, und grabe mich tief, tief, tief zu der ewigen Wassermacht des Grundes hinab, wo das Element wie ein bleiernes Gewand drückt, und wo blinde Ungeheuer, halb Pflanze und halb Tier, das schleimige Maul nach aufwärts gerichtet, hin- und herwogen, während sie das schwarze Wasser durch ihre Kiemen trinken. Ich lasse mich weit draußen treiben, bis die Flut mich weckt und mich an das Land erinnert, ich sehe große, dunkle Dinge tief drunten in dem glasgrünen Wasser dahinziehen, Walfische, oder sind es die Schatten der formlosen Meerungeheuer einer anderen Welt? Ich werfe mich zwischen schäumenden Wellenköpfen hin und her, die sich berghoch erheben und wieder gewichtlos verschwinden, ich lege mich mit meiner ganzen gespreizten Flughaut über die Sturzseen, bis jeder zitternde Tropfen im Meere dem feinsten Pulszweig meines Blutes zu begegnen scheint, schließlich gehe ich an Land und sitze vor Entzücken jammernd am Strande, rufe und brülle lange zum Sonnenuntergang hinüber, weine traurige Tränen und befinde mich außerordentlich wohl dabei.

Jetzt aber wanke ich wieder auf den nackten, sonnenbeschienenen Feldern in Madrids Umgebung umher, oder ich trotte mit meinen Klumpfüßen auf den Fußsteigen der Stadt, wobei mir die Flughäute zwischen den Beinen schlottern, Straße auf und Straße ab, und suche den Blick jedes Menschen, der mir begegnet, sehe tausend verschiedenen Menschen in die Augen, ob es nicht einen einzigen darunter geben sollte, der mich kennt, der mich sieht; alle aber begegnen meinem Blick ohne ihre Miene zu verändern, alle sind dem Kondignog gegenüber blind. Und ich weiß, daß es meine einzige Rettung ist, wenn ein Mensch, ein ganz gewöhnlicher Mensch mich sieht, wie ich bin, dann wird die Verzauberung weichen, früher nicht. Ich finde keinen. Trotzdem kann ich Madrid nicht verlassen, denn es will mir scheinen, daß ich hier, wo ich verwandelt worden bin, meine menschliche Gestalt zurückerlangen muß. Hier bin ich der Zeit verlustig gegangen, und hier muß sie mir zurückgegeben werden.

Inzwischen hungere ich noch immer, denn in der Welt, in der ich lebe, gibt es keine Nahrung für mich, und die andere Wirklichkeit, die eigentlich zu mir gehört, kommt mir nie so nah, daß ich in sie eingehen kann – glücklicherweise, denn nur in den Augenblicken großer panischer Angst rückt sie mir nahe; es ist, als müsse ich noch einmal sterben, um in sie einzugehen. Hin und wieder kommt es wie ein Schwindel über mich, und dann treten die Farnengebüsche über meinem Kopf auseinander, dann sehe ich etwas wie dunkle Flecke im Tageslicht, Schatten von den Raubungeheuern einer anderen Welt, ich sehe, wie sie zueinandergleiten, und höre Laute, als ob sie düster husten und die Erde scharren – ich muß alle meine Kräfte zusammennehmen, um zu bleiben, wo ich bin. Bei plötzlichen Wendungen sehe ich einen Schimmer von olivengrünen Hälsen und Köpfen mit Entenschnäbeln, die sich wie Fabrikschornsteine über die Häuser der Straßen recken ... Soll ich bei denen enden, soll ich Tausende und aber Tausende von Jahren zurückversinken, bis ich meine Heimat als Kondignog gefunden habe? Begegne ich niemand, der mich sieht und mich erlöst und mir meine menschliche Gestalt zurückgibt?

Ich habe auf einem Schneegipfel in der Sierra de Guadarama gesessen und mich mit dem jammervollsten Konzert unterhalten, das jemals aus der Kehle eines unseligen Geschöpfes gedrungen ist, ich habe die einsamen Tränen des Kondignogs vergossen, die am besten zu wilden Gegenden passen. Bisweilen sehne ich sie wieder herbei.

Außerhalb von Madrid liegt auf dem kahlen Felde ein Pulverturm, in der Nähe eines halbausgetrockneten Teiches, und dort fand ich meine Erlösung.

Ich hatte den Ort liebgewonnen, weil es dort so nach Einsamkeit roch. Der Teich lag immer still wie ein Metallspiegel in seiner Einfassung von rissigen Lehmufern da, das Wasser sonderte eine dünne Haut von Schlamm und Salz auf den spärlichen Grashalmen ab, die darauf wuchsen, und der Wasserspiegel rauchte immer mit einem bitteren Dunst unter der Strahlenwärme der Sonne. Dicht dabei lag das Pulvermagazin, ein fensterloses, blindes Haus von Zement mit verrosteten Eisenbolzen. An seinem Fuß wuchsen große Kletten mit Spinngeweben in den scharfen Samenständern; das Ganze roch so öde. Und in weiter Ferne hinter den unfruchtbaren, mohnbewachsenen Lehmfeldern erhoben sich die Vorposten von Madrid, hohe, klotzige Arbeiterkasernen und Fabriken, den Rauch der Stadt über sich im Sonnendunst.

Hier ließ es sich gut sitzen, mitten im schwirrenden Sonnenschein, der die Welt nach allen Seiten bloßlegte.

Und hier sah ich eines Mittags, als ich mich dem Ort näherte, einen feuerroten Punkt, wie eine riesengroße Mohnblume. Alles war Sonnenschein, alles lag im offenen, blendenden Licht; nur ich brachte Dunkelheit mit mir, wo ich ging. Was war das für eine feuerrote Riesenblume, die sich am Ufer meines Teiches entfaltet hatte? Ich setzte mich in Trab, schlug die trockene Erdkruste mit meinem Schwanz, daß es dröhnte, tanzte auf meinen roten Klumpfüßen ... was war es für eine große, gaffende Mohnblume, die an meinem Teich stand?

Es war ein roter Rock. Ein junges Weib saß am Ufer des Teiches, ein armes, obdachloses Mädchen, das wahrscheinlich aus einem der elendesten Hinterhöfe von Madrid stammte und eine Umherstreiferin geworden war wie ich selbst. Sie war achtzehn Jahre, dünn wie ein Weidenzweig, aber mit dickem, schwarzem Haar, das unbedeckt in der Sonne glänzte. Sie hatte ihre noch kindlichen, verhungerten Züge blau geschminkt, wie vornehme Spanierinnen es zu tun pflegen, aber ihre Blässe konnte dadurch nicht verdeckt werden. Sie saß ganz still da, hatte sich wohl aus Hunger niedergesetzt. Vorher aber hatte sie sich diesen Platz ausgesucht, meinen Platz! Ich konnte ihr ansehen, daß ihre Eingeweide vor Hunger schrieen, ebenso wie die meinen ... sie hatte eine Winde gepflückt und hielt sie in ihrer schlaffen Hand; sie war wahrscheinlich auf deren reichen, metallischen Duft aufmerksam geworden, weil die Not ihre Sinne empfänglich und dankbar gemacht hatte. Consuelo hieß sie.

Consuelos Augen, die so traurig leer und unschuldig waren, wie die eines Kindes, für das es keine Sünde gibt, und so verzagend, wie die Augen derjenigen, die in der Sonne sitzen und hungern, begegneten den meinen, und sie erkannte mich gleich. Was intelligente und allwissende Männer in Madrid nicht sehen konnten, wofür gefühlvolle Damen blind waren, das verstand dieses arme, leidende Proletarierkind, das durch das Hungerfieber sehend geworden war. Wir waren beide gleich verzweifelt. Sie erkannte mein ganzes Elend als Kondignog. Ich wälzte mich vor ihr auf der Erde in einem Sturm von Schmerz ... und während sie mir in die Augen sah, fühlte ich, wie meine menschliche Gestalt zurückkehrte, ich war gerettet.


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