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Jizchok Lejb Perez: Der Purimgeiger

Einst waren die Geschlechter nicht so abgerissen und verwaist wie heute. Jedes Geschlecht war wie ein Glied in der Kette, die mit Adam und Eva beginnt und im sechsten Jahrtausend enden wird ... Und wenn ein Glied sich aus irgendeinem Grunde rührte, so ging ein Beben durch die ganze Kette, und alle Glieder erwachten: die Erzväter, Mutter Rahel und andere ...

Außer dem immer offenen Himmel, den man, wenn man ihn nur nicht mit einem kupfernen Dreier verdeckte, mit bloßem Auge sehen konnte, außer dem Propheten Elias, der ständiger Gast in jedem jüdischen Hause war: unter den sieben Gästen in der Ssukes, beim »Ergieße deinen Zorn, Herr« an der Sseder-Tafel, im Lehnsessel bei jedem Briß und sooft ein Schlachtmesser einem Halse drohte – und außer allen guten Engeln hatte man damals seine Eltern ewig bei sich. Waren sie am Leben, so ehrte man sie, und waren sie, Gott behüte, nicht am Leben, so hatte man einen Grabstein, um seinen glühenden Kopf anzulehnen und abzukühlen, ein Grab, um daraufsein erbittertes Herz durch Tränen zu erleichtern, und auch den Toten selbst, der alles sieht und hört und sich für seine Kinder im Himmel verwendet ...

Man brauchte sie nicht einmal zu rufen: allnächtlich kamen die Toten in die Stadt der Lebenden. Sie kamen auch in die Schul, beteten, lasen in der Thora und verrichteten das Mitternachtsgebet ... Und wenn ein Toter an einem ihm bekannten Fenster vorbeiging und einen Seufzer aus einem betrübten Herzen hörte, verstand er ihn sofort: die Lebenden und die Toten redeten in der gleichen Sprache und beteten aus demselben Gebetbuch ... Der Tote machte sich einen Knoten in sein Leichengewand, und wenn er wieder in seine Ruhe zurückkehrte, erinnerte er sich der Hinterbliebenen und tat für sie alles, was nur möglich war. Und was war in jener gesegneten Zeit unmöglich? Alles war möglich, selbst daß ein Toter einem Lebendigen eine lustige »Schuschannes-Jaakew«-Weise beibrachte!

Ich will aber nicht vorgreifen: das mit »Schuschannes-Jaakew« gehört schon zu der Geschichte, die ich euch erzählen will, zu der Geschichte vom Reb Awremel, dem Geiger – ein Fürsprech möchte er im Himmel für alle sein, die Purimgeschichten erzählen, wenn nur diese Geschichten nicht erlogen sind! ...

Reb Awremel war Geiger, aber kein Spielmann. Er hatte die Stufe erreicht, nach der sich wohl alle sehnen, die aber gar wenige erreichen: er schöpfte aus seiner Geige keinen Gewinn und lebte nicht von seinem Spiel ...

Wenn man keine großen Augen, keinen bösen Rachen und keinen weitaufgerissenen Mund hat, wenn »irgend etwas« – eine Speise, kaltes Wasser – ein Getränk und ein Rock aus Baumwollzeug – ein Gewand ist –, wenn Bejle-Basche einen Laden besitzt, so daß man sich um das tägliche Brot nicht zu kümmern braucht, kann man nur um des guten Werkes willen, dem Himmel zu Ehren, Geige spielen; dann ist man Geiger für den Herrn, gepriesen sei Er. Solch ein Geiger war eben Reb Awremel ...

Nach Sabbatausgang spielt Reb Awremel seine Smires ... Bejle-Basche, seine Ernährerin, hört ihm zu und schöpft aus seinem Spiel Freude für die ganze Woche ... Draußen in der Gasse stehen die Leute und lauschen, und ihre Seelen trinken gierig die Smires. Manchmal beginnen die Leute die Melodie mitzusingen: die ganze Gasse ist mit einem Male geadelt, das ganze Städtchen singt einen Psalm ...

An den Wochentagen, wenn Bejle-Basche in ihrem Laden hockt und die ganze Stadt den Geschäften nachläuft, sitzt Reb Awremel allein in seinem Stübchen am kleinen Tische vor dem Fenster. Sein Herz ist gen Himmel gerichtet, seine Augen – auf den Psalter des Königs David, seine Lippen singen Lobgesänge und zittern vor Wonne, die Finger der ausgestreckten Hand greifen in die Saiten der Geige, die vor ihm auf dem Tische liegt ... Die Saiten tönen, kleine weiße Flügel erblühen aus ihnen und wachsen in den Himmel hinauf. Und Reb Awremel streicht sich mit der Hand seinen schneeweißen Bart. Das ist seine einzige Freude ...

Geht manchmal die niedere Türe auf, Braut und Bräutigam neigen die Köpfe, um nicht anzustoßen, treten in die Stube und bleiben errötend und verschämt vor Reb Awremel stehen. Reb Awremel lächelt, er weiß, was sie von ihm wollen: seit Jahren sind sie verlobt, haben mit Mühe und Not einige Groschen für den Talis zusammengespart, alles ist für die Chuppe bereit, aber für die Hochzeitsmusik langt das Geld nicht-... Also spielt Reb Awremel auf der Armenhochzeit... Und ehe ein Jahr um ist, wird er mit dem Amt eines Sandeks beehrt; manchmal hat er einen »Pidjon ha-Ben« (denn er ist ja auch Kojhen) –, und so folgt ein gottgefälliges Werk auf das andere. Doch nicht darauf legt er das größte Gewicht.

Das Wichtigste ist für Reb Awremel Purim.

Er ist ein Purimgeiger – für die armen Leute ...

Es gibt Häuser, in welche die vornehmen Leute mit den roten Schnupftüchern niemals hineinschauen, wo sich niemals ein Spielmann blicken läßt und über deren Schwelle niemals ein Purimspieler tritt ... Wo die Challe ohne Safran ist, die Mahlzeit ohne Freude und oft auch ohne Challe ...

Da geht die Türe auf: barmherzige Wohltäter treten in die Stube und bringen Speisen und Getränke. Die armen Leute segnen die Wohltäter und auch alle Gäste des Wohltätigkeitsfestes, aus dessen Erlös man die Armen mit Speise und Trank zu Purim versah ... Sie loben den Herrn, der die Wohltäter erschaffen hat, und setzen sich an die Tafel ... Und doch fließen über ihre eingefallenen Wangen bittere Tränen ... Geschenktes Brot ist nicht süß, gespendeter Wein schmeckt nicht gut ... Und wie lange ist es her, daß sie die Gebenden und die andern die Nehmenden waren? Die Tränen trüben die Augen, Bitternis sammelt sich im Herzen ... Eine Frau birgt das Gesicht in ihrer Schürze ... Ein Mann wirft einen vorwurfsvollen Blick zum Himmel ... Ein Jüngerer ballt die Fäuste ... Da kommt aber Reb Awremel mit seiner Geige. Die Kerzen brennen auf einmal heller, die Augen blicken heiterer, ein Lächeln gleitet über alle Gesichter, ein verschämtes, verwaistes, noch tränenfeuchtes Lächeln. Reb Awremel spielt schon »Schuschannes-Jaakew« – die Töne fließen wie Öl in alle Herzen – nun ist Armut keine Schande, ein Bruder hilft dem andern, das Glücksrad wendet sich ... Wenn Reb Awremel wieder fortgeht, blicken ihm alle mit leuchtenden Augen nach, kleine Kinder mit Beinchen so krumm wie ein Regenbogen und funkelnden Augen laufen ihm von Türe zu Türe, von Schwelle zu Schwelle nach ... Und spät am Abend – manchmal ist es sogar sehr spät, denn die armen Leute vermehren sich, unberufen, von Jahr zu Jahr – kehrt Reb Awremel, mit Segenswünschen beladen, das Herz voller Freude ob der verrichteten guten Werke, beim Row und bei der Rebbezin ein. Ohne den Row und ohne die Rebbezin wäre ja meine Geschichte gar keine richtige Geschichte ...

Bejle-Basche sitzt währenddessen geduldig zu Hause und wartet. Das Herz sagt ihr, und auch Reb Awremel leugnet es nicht, daß sie einen Anteil, sogar einen großen Anteil an seinen frommen Verdiensten hat. Und wenn sie sich ein klein wenig nach ihm sehnt, so ist es doch wahrlich keine Sünde! Die Alte sitzt am Fenster vor dem kleinen Tisch und lächelt... Sie schaut mit ihren alten, seltsam lachenden und zugleich weinenden Augen in die finstere Nacht hinaus, ihre kleinen Ohren gucken unter dem Stirntuch hervor und lauschen... Sind es nicht seine Schritte? Sind es nicht die Töne von»Schuschannes-Jaakew«?... Und ihre Lippen bewegen sich leise im Gebet: soll er die Gnade erleben, mit seiner Geige Messias entgegenzugehen und ihm einen Marsch aufzuspielen...

Damals glaubte man an Messias und wartete auf ihn, wenn er auch säumte, alle Tage.

»Aber warum säumt er heute so lange?« fragen ihre alten Lippen; diesmal meint sie nicht den Messias. Das Essen wird kalt, die Kerzen flackern und gehen aus, und Awremel ist noch immer nicht da.

Bejle-Basche läuft auf den Markt hinaus. Es ist stumme Nacht. Durch die Ritzen in den geschlossenen Fensterladen dringt kein Ton und kein Lichtstrahl heraus. Das Städtchen schläft.

Der Himmel über dem Städtchen wacht und schaut mit Tausenden und aber Tausenden klarer, reiner Augen herab. Aber wo ist Awremel?

»Warum sind noch immer seine Schritte nicht zu hören?« Dasselbe fragt auch der alte Row mit dem Ziegenbart, und seine erschrockene Stimme weckt die Rebbezin aus dem Schlummer. Ihr Köpfchen, das sich bisher wie ein Uhrpendel hin- und hergewiegt hat, bleibt stehen. Wo kann er sein? In der Branntweinflasche ist schon der Boden zu sehen, die alte, heisere Uhr schlägt Mitternacht, und von Awremel ist noch immer keine Spur... Setzt sich der Row seine warme Mütze mit den Ohrenklappen auf, hüllt sich die Rebbezin in ihren türkischen Schal, sie wecken die Diener und laufen mit Laternen aus dem Hause. Sie treffen Bejle-Basche, wechseln aber mit ihr kein Wort und laufen zusammen weiter. An jedes Fenster und an jede Tür klopfen sie und fragen: »Ist Awremel nicht hier?« Die Leute kommen mit Kind und Kegel aus den Häusern, und alle suchen Awremel...

Dem alten Awremel war wirklich etwas zugestoßen. Wenn diejenigen, die zur Verrichtung eines frommen Werkes unterwegs sind, nicht unter einem besonderen Schutze des Herrn stünden, so weiß ich wirklich nicht, ob ich euch diese Geschichte erzählen würde: es wäre dann eine sehr traurige Geschichte geworden, und traurige Geschichten mögt ihr doch nicht... Reb Awremel geht nach Hause zu seiner Bejle-Basche. Seine Füße tänzeln, und sein alter, grauer Kopf wiegt sich im Takte hin und her: heut ist ja Purim, und er wird keinem armen Mann absagen, der ihm die Hand mit dem Becher entgegenstreckt... Auch er sehnt sich nach seiner Bejle-Basche, und es verdrießt ihn, daß er den einmal eingeführten Brauch nicht umgehen kann und unterwegs beim Row einkehren muß. Er will den Weg abkürzen und geht durch den Vorhof der Schul; wie gesagt, stehen ja diejenigen, die zur Verrichtung eines frommen Werkes unterwegs sind, unter dem Schutze des Herrn. Wie er durch den Vorhof geht, hört er aus der Schul Stimmen, ein Lachen, ein Singen, das Scharren vieler tanzender Füße. Er ist ganz starr vor Erstaunen. Er denkt sich, daß eine Gesellschaft lustiger Burschen sich in der Schul versammelt hat, um ein nächtliches Fest zu feiern. Der Zorn ob der Entweihung der heiligen Stätte packt ihn am Herzen. Er ist ja auch Kojhen. Er stemmt sich gegen die Türe, das alte Schloß gibt halb nach, und Awremel bleibt starr vor Entsetzen in der Türspalte eingeklemmt stehen: Tote haben sich in der Schul versammelt!

Und ein Toter ruft dem andern zu: »Reb Awremel! Reb Awremel!« Alle wenden ihre Augen – die einen auf Awremel, die andern auf einen langen Mann mit schneeweißem Bart. Die Augen, die auf Awremel gerichtet sind, blicken ihn liebevoll und freundlich an; und die andern, die auf den langen alten Mann schauen, hängen an seinen blauen Lippen und warten auf sein Wort... Sie haben nicht lange zu warten. Der Mann geht mit leisen Schritten auf Awremel zu, und in der Schul wird es so still, daß man die Gedächtnis-Mazze im Winde, der durch eine ausgeschlagene Fensterscheibe hereindringt, zittern hört... Und der lange Mann streicht sich mit der langen rechten Hand den weißen Bart und spricht: »Fürchte dich nicht, Awremel! Wir werden dir nichts Böses tun. Wir haben uns hier, wie jedes Jahr, zum Singen und Tanzen versammelt: heut ist ja Purim, das Fest, das niemals abgeschafft werden wird!«

Awremel steht in der Türe, schaut mit großen Augen und denkt: »Morgen wird mir niemand glauben, daß ich hier gewesen bin und das alles gehört und gesehen habe.« Seine Lippen zittern, bringen aber keinen Ton hervor. Der lange Tote liest ihm diesen Gedanken von den Lippen ab und winkt einem andern hageren Toten zu, der noch länger aussieht. Der andere kommt schweigend heran.

»Wir werden dir ein Zeichen geben«, sagt der Row, »damit dir die Lebenden alles glauben. Dieser Mann ist der erste Gemeinde-Chasen des Städtchens. Ich will ihn bitten, dich eine neue ›Schuschannes-Jaakew‹-Weise zu lehren.«

Der Hagere nickt mit dem Kopf.

»Aber nicht mit der Stimme wird er sie dich lehren«, fährt der erste Row des Städtchens fort. »Er hat sich, nicht auf dich gedacht, beim letzten Nile-Kaddisch erkältet und ist mit einem stummen Widduj aus der Welt geschieden. Mit dem Finger wird er sie dich lehren...«

Der erste Chasen folgt dem Befehl des ersten Rows und beginnt mit dem Finger zu fuchteln. Bald tanzt der Finger mit großem Eifer, bald zittert er, und bald erstarrt er in großer Andacht. Bald klagt er voller Schmerz und Zorn wie Hiob und läßt den Himmel erbeben, bald zittert er in Erwartung einer Antwort des Himmels über Leben und Tod...

So etwas hat Reb Awremel noch nie gehört. Alle seine Sinne hängen an dem singenden Finger. Er trinkt mit beiden Ohren die Weise. Er will versuchen, sie auf der Geige nachzuspielen, kann es aber nicht: er ist in der Türe festgeklemmt und kann keine Hand rühren... Und des Chasens Finger fährt noch immer durch die Luft, und die Weise tönt und singt...

Wie der Schammes am nächsten Morgen in die Schul kommt, befreit er ihn aus der Türspalte. Reb Awremel springt in die Mitte des Vorhofs, drückt, ohne dem erschrockenen Schammes auch nur ein Wort zu antworten, die Geige an seinen während der Nacht noch weißer gewordenen Bart und beginnt zu spielen! Bejle-Basche, der Row, die Rebbezin und alle Leute, die ihn in der ganzen Stadt gesucht haben, hören die Geige und laufen herbei. Die Frommen, die zum Beten kommen, bleiben stehen. Und Reb Awremel spielt und spielt...


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