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Dowid Frischmann: Der Kojhen

Zum ersten Mal sah ich ihn bei einer »Pidjon ha-Ben«-Feier. Er stand zwischen den beiden Gardinen eines Fensters und sah auf die Straße hinaus. Ich sah ihn nur von rückwärts: eine kleine, hagere Gestalt mit gekrümmtem, rundem Rücken und schmalen, abfallenden Schultern. Jedenfalls nahm sich die armselige und traurige Erscheinung im abgerissenen Kaftan im vornehmen Salon unter all den lustigen, reichgekleideten Gästen recht fremdartig aus.

Ich stand neben der jungen Dame des Hauses und sprach mit ihr. Die großen Brillanten in ihren Ohren funkelten, auch ihre großen strahlenden Augen sprühten Funken, und die frischen, roten Lippen leuchteten. Nur die leichte Blässe ihres Gesichts zeugte noch von den Schmerzen, die sie in den letzten Wochen auszustehen hatte. Die schöne Frau fragte mich, warum ich mich so selten sehen lasse.

»Meine Arbeit läßt mir keine Zeit, Gnädigste, ich bin so furchtbar beschäftigt ...«

»Ist das mit der Kruszinska wahr? Will sie wirklich wegen des dummen Leutnants, der sich ihretwegen erschossen hat, die Bühne verlassen?«

Ich hatte nicht Zeit, ihr zu antworten: der Mann zwischen den Gardinen wandte sich in diesem Augenblick um. Ich fuhr zusammen. Er hatte ein wachsgelbes Gesicht, eingefallene Wangen und schmale, blaue Lippen. Es stand für mich außer jedem Zweifel, daß er seit langem nichts gegessen hatte.

Die Dame des Hauses plauderte indessen weiter: »Es tut mir so furchtbar leid, daß ich gestern nicht im Philharmonischen Konzert sein konnte. Die Spanische Symphonie von Lalo! Beethovens Kreutzersonate, gespielt von Hubermann! Und das G-Dur-Arioso aus der ›Louise‹, gesungen von der Förster-Lauterer! Nicht wahr, ich bin doch eine unglückliche Frau, die ein Mann wie Sie bedauern sollte?«

Ich hörte ihr fast gar nicht zu. Der Mann am Fenster zog meine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Seine Brust war so schmal und eingefallen, und sein ganzer Körper war wie der eines Kindes. Ab und zu ging ein Zittern durch alle seine Glieder; man sah ihm eine seltsame Spannung und Ungeduld an. Je näher die Zeremonie des »Pidjon ha-Ben« heranrückte, um so ungeduldiger wurde er. Er sah aus wie einer, der unter dem Bewußtsein einer schweren Schuld zusammenbricht, oder wie einer, der im Begriff ist, ein Verbrechen zu begehen.

Livrierte Lohndiener liefen hin und her und trugen auf silbernen Tabletten Wein, Obst und Konfekt herum. Am Fenster links stand auf dem Fußboden ein großer, tiefgrüner Oleanderbaum in einem hölzernen Kübel. Und neben dem Baume stand der arme Mann mit dem wachsgelben Gesicht. Er stand regungslos da und blickte zu Boden. Es fiel mir ein, daß er seine Augen noch kein einziges Mal vom Boden erhoben hatte. In diesem Augenblick wurde meine Aufmerksamkeit abgelenkt.

Auf einem großen, silbernen Tablett trug man den Neugeborenen herein. Das Kind lag inmitten goldener und silberner Schmucksachen, Perlenschnüre und anderer Kostbarkeiten.

Der Mann trat vom Fenster weg und ging auf das Kind zu. Kein Tropfen Blut war in seinem Gesicht zu sehen. Er schien ganz bestürzt und wußte wohl gar nicht, wo er sich befand. Nun hob er die Augen und sah sich um. Ein blödes Lächeln spielte auf seinen Lippen.

Vielleicht machte die ungewohnte Ansammlung von Menschen solchen Eindruck auf ihn, vielleicht fühlte er sich befangen als der einzige Hungrige unter soviel Satten?

Nun begann er den hebräischen Vers zu stammeln: »Was ziehst du vor? Deinen Sohn zu geben ...«

Einer der neben ihm Stehenden unterbrach ihn: »Reb Jid! Zuerst muß der Vater sagen: ›Das ist mein erstgeborener Sohn ...‹ usw. Und dann erst sagt der Kojhen: ›Was ziehst du vor ...‹«

Der Mann wurde verlegen und errötete; das dauerte aber nur einen Augenblick. Sein Gesicht wurde gleich wieder blaß, noch viel blässer als vorhin.

Es fehlt ihm offenbar die Übung, dachte ich mir. Das Wunder passiert ihm wohl nicht jeden Tag. Und vielleicht versieht er dieses Amt zum erstenmal in seinem Leben ...

Inzwischen fing der Vater an: »Das ist mein erstgeborener Sohn, und der Heilige, gepriesen sei er ...«

Der Kojhen ließ den Kopf noch tiefer hängen. Die Worte: »Der Heilige, gepriesen sei er«, hatten auf ihn wohl einen besonders starken Eindruck gemacht.

Sehr schnell, so daß man ihn beinahe nicht verstehen konnte, leierte er nun seinen Text herunter: »Was ziehst du vor? Deinen Sohn zu geben, den Erstgeborenen, oder ihn auszulösen, wie du verpflichtet bist nach der Thora ...«

Der Mann bekam fünf Silberrubel und noch fünf kleinere Silbermünzen. Der Vater verrichtete die vorgeschriebenen Segenssprüche. Schwere Schweißtropfen traten dem Kojhen in die Stirne.

Der Kojhen schwang nun die Silbermünzen einigemal über dem Köpfchen des Kindes und murmelte sehr schnell die Worte: »Dieses ist statt Diesem, Dieser wird mit Diesem ausgelöst...« Die weiteren Worte hörte man nicht.

Er legte die Hand dem Neugeborenen auf den Kopf und sprach den Segen: »Der Herr segne dich wie Ephraim und Manasse ...« Seine Hand zitterte dabei furchtbar. Dann leerte er den Becher Wein auf einen Zug und ging zur Türe.

Die Eltern des Kindes baten ihn, sich mit den andern Gästen zu Tisch zu setzen und zu essen. Er aber schüttelte den Kopf und ging.

Der Mann beschäftigte lebhaft meine Phantasie, ich wußte selbst nicht, weshalb. »Er ist ein ganz armer Mensch«, erzählte mir der Hausherr, »er ist seit kurzem aus seinem Städtchen hergezogen und wohnt in der Nachbarschaft. Er ist ein Mann der Thora: Tag und Nacht sitzt er in dem kleinen Bejßmedresch hier im Hofe und lernt. Ich wollte schon einen andern Kojhen einladen – meinen Bekannten Markus Kaplan. Aber gestern abend kam der Mann zu mir und bat mich, das Amt ihm zu überlassen. Ich wußte ja gar nicht, daß er Kojhen ist. Und wenn man die Wahl zwischen einem reichen und einem armen Kojhen hat, so wählt man doch den armen ...«

Den ganzen Abend mußte ich an diesen Menschen denken.

 

Nach einigen Wochen sah ich ihn wieder. Ich ging zufällig an jenem kleinen Bejßmedresch im Hofe vorbei und sah ihn durch das Fenster in Talis und Tfillin stehen. Etwas zog mich zu ihm hin, und ich trat ein. Der Mann interessierte mich ungemein. Es war an einem Montag. Im Bejßmedresch waren kaum vierzehn oder fünfzehn Männer versammelt.

Vom Hofe dringen die Schreie und Rufe der Händler herein. Jeden Augenblick höre ich: »Ein Kalender für eine Kopeke!« – »Ein Beigel für einen Groschen!« – »Weiber, zwölf Knöpfe für einen Dreier!« Ein Sonnenstrahl gleitet über die Pfütze in der Mitte des Hofes; die Wand gegenüber ist zur Hälfte von einem schrägen, schweren Schatten bedeckt, die andere Hälfte ist blendend hell. Beim Rinnstein steht ein Huhn, mit einem Bein an die Mauer festgebunden; es steckt den Schnabel in die schmutzige Pfütze, trinkt, wirft den Kopf zurück, schließt die Augen und schluckt. Und dann steckt es den Schnabel noch einmal in die Pfütze und trinkt wieder.

Und plötzlich höre ich: »Es erscheine Reb Efroim, der Sohn des Reb Eliohu, der Kojhen ...« Man ist schon bei der Thoravorlesung. Der Kojhen hört aber nicht, daß man ihn aufgerufen hat. Er hat wohl vergessen, daß er Kojhen ist und daß man ihn meint. Jemand zupft ihn am Ärmel, er erwacht gleichsam, geht auf das Podium und spricht schnell den Segensspruch.

Sein Gesicht ist wie versteinert, kein Muskel rührt sich darin. Auch seine Augen sind starr. Er ist unheimlich blaß, nur an einer Wange brennt ein kleiner roter Fleck

Und wieder kommt mir der Gedanke in den Sinn: dieser Mann ist im Begriff, ein Verbrechen zu begehen. Jedenfalls ist er tief unglücklich – das ist mir klar.

Plötzlich höre ich die Stimme des Chasens: »Ist kein Levite hier?« Und gleich darauf wird der Kojhen zum zweitenmal aufgerufen: »An Stelle eines Leviten.«

Der Kojhen sprach den Segensspruch zum zweitenmal, noch schneller und noch leiser als vorhin. Große Schweißtropfen standen ihm in der Stirne.

Ich muß mit ihm unbedingt sprechen, sagte ich mir.

Nach dem Gottesdienst ging ich auf ihn zu. Ich weiß nicht mehr, was ich ihm gesagt habe, aber der Mann erschrak furchtbar. Plötzlich ließ er mich stehen, ging zum Tisch, nahm irgendein Buch vor und begann laut zu lernen.

Sein Bild schwebte mir dann den ganzen Tag vor den Augen.

Zum drittenmal sah ich ihn bei einer sehr merkwürdigen Szene.

Er stand mit dem einen Fuß auf der Schwelle des Hinterhauses und mit dem andern im Hof. Mehrere Frauen redeten auf ihn ein:

»Hier im Hause ist ein Kind gestorben, Reb Efroim, Ihr müßt weg, Ihr dürft nicht herein!«

Reb Efroim scheint aber nichts zu hören. Er glotzt die Frauen verständnislos an und weiß wohl gar nicht, was sie von ihm wollen.

»Das Wasser hat man schon ausgegossen. Hier im Hause ist ein Kind gestorben. Reb Efroim, Ihr seid doch Kojhen!«

»Kojhen? ... Ja ... Ja ... Das Wasser hat man schon ausgegossen ...«

Und er steht noch immer da und rührt sich nicht vom Fleck.

»Ihr dürft nicht herein, Reb Efroim! Ihr müßt augenblicklich weg, ein Kind ist doch hier gestorben.«

»Gestorben?«

Die Stimme, mit der er es sagte, vergesse ich niemals.

»Ihr dürft nicht ins Haus«, redete die erste Frau weiter.

»Ich will gleich zum Row gehen ... Gleich gehe ich zum Row ...«

»Ihr braucht gar nicht zum Row, Ihr sollt nur hinausgehen, hinaus, hinaus!«

»Ich gehe schon zum Row ... Zum Row gehe ich ...«

Und plötzlich wendet er sich um und rennt davon. Mich interessierte, was er vom Row wollte, und ich ging ihm nach. Er lief so schnell, daß ich ihn kaum einholen konnte.

 

Die Stube ist voller Menschen. Der Row steht in der Mitte, und vor ihm mein Kojhen.

Der Row ist ein schlanker Greis mit langem, silberweißem Bart. Etwas ungemein Mildes liegt in seinen vornehmen Zügen.

Und der Mann steht vor ihm und spricht mit heiserer Stimme:

»Rabbi, ich habe gesündigt! Ich habe betrogen, gelogen, geraubt! Ich will meine Sünde beichten und bekennen! ...«

»Was ist denn, mein Kind?«

»Ich kann es nicht länger tragen. Es ist mir zu schwer. Anfangs glaubte ich, es sei nichts, ich würde Buße tun. Aber jetzt ... jetzt hat sich auch schon der Tod eingemischt. Ein Kind ist gestorben. Mit dem Tode spielt man nicht ...«

Plötzlich verstummte er.

»Rede! Es steht geschrieben: ›Ich werde reden und aufatmen.‹«

Und er begann zu reden.

»Rabbi, wenn Ihr nur verstehen könntet, wie es geschah! Manchmal tut der Mensch etwas, und ist dabei gar nicht der Täter ... Der andere, der in uns steckt, ist der Täter ... Und ich habe ein Weib und fünf kleine Kinder ... Den ganzen Tag sitze ich im Bejßmedresch und lerne. Auch bei Nacht lerne ich. Und das Weib und die Kinder hungern. Schöpfer der Welt! Wenn ich es nur verstehen könnte! Seit drei Tagen hatten wir kein Stück Brot im Hause. Die Krämerin wollte nichts mehr borgen. Wir schuldeten ihr schon neun Gilden. Und zwei Kinder liegen krank. Typhus ist eine böse Krankheit ...«

Der Row sah ihm in das gelbe Gesicht mit den blauen Lippen. Die Augen des Greises wurden etwas feucht.

»Und dann kam die Versuchung ...« sprach der Mann weiter. »Fünf Rubel ... Ich hörte, daß in der Nachbarschaft ein Pidjon ha-Ben gefeiert wird ... Ich wußte wohl, daß ich eine große Sünde begehe, aber es kamen auch Augenblicke, wo ich es nicht wußte ... Und die beiden Kinder sind krank und brauchen eine Arznei, und mein Weib wartet auf Brot ... Mit allen Kräften kämpfte ich dagegen, aber schließlich kämpfte ich nicht mehr ... Im Gegenteil, es schien mir sogar, daß ich ein gottgefälliges Werk tue an meinem Weib und an meinen Kindern ... Und am Abend ging ich zum Nachbarn und bot mich ihm an ... Ich glaubte, ich tue ein gottgefälliges Werk ... Schöpfer der Welt! Die ganze Nacht konnte ich nicht einschlafen, und im Hirne klopfte es mir wie mit einem Hammer. Ein Schlag nach dem andern: Du bist ja gar kein Kojhen! Ein Schlag nach dem andern: Du bist ja einfacher ›Israelite‹! Und von damals an hörte das Hämmern nicht mehr auf. Ich wollte schon einigemal zu Euch kommen, aber ich konnte es nicht. Und eine Lüge zog eine andere mit sich: nun mußte ich auch vor der Thora als Kojhen dastehen ... Jetzt hat sich aber auch schon der Tod eingemischt ... Der Tod ist doch schrecklich ...«

Ich warf einen Blick auf den Row. Der Row hörte nicht mehr zu. Er war plötzlich ein anderer geworden. Alles Edle und Milde war aus seinem Gesicht verschwunden.

Plötzlich beginnt er auf und ab zu gehen. Auf und ab durch die Stube. Alle schweigen. Eine Lichtsäule fällt schräg zum Fenster herein und ruht halb auf dem Gesicht des gewesenen Kojhens und halb auf dem Boden.

Der Row geht immer auf und ab und redet zu sich selbst:

»Eine schwere Sünde ... Du hast verschuldet, daß ein Jude ein göttliches Gebot, ein ›bejahendes‹ Gebot übertreten hat ... Denn er hat die Erstgeburt gar nicht ausgelöst ... Eine schwere Sünde ... Eine schwere Sünde ...«

Der Row bleibt plötzlich vor dem Fenster stehen, schaut auf die Gasse hinaus und schweigt. So steht er eine Weile nachdenklich da.

Der Pendel der Wanduhr schwingt gleichmäßig hin und her. Vor dem roten Schrank summt eine Fliege.

Und der Row steht noch immer am Fenster und spricht zu sich selbst:

»Es steht aber geschrieben: ›Ein Mann darf in seinem Unglück nicht haftbar gemacht werden.‹ Und Hunger ist ein Unglück. Und in den Sprüchen steht es: ›Ein Mensch tut übel um ein Stück Brot ...‹« In der Stube ist eine Totenstille.

Plötzlich wendet sich der Row nach ihm um.

»Du mußt fasten ... Jeden Montag und Donnerstag fasten.«

Der Mann beruhigt sich aber noch nicht. Fasten ist für ihn nichts Neues. Er hat in seinem Leben genug gefastet, nicht nur an Montagen und Donnerstagen, auch an anderen Tagen.

»Und du mußt dich auspeitschen lassen ... Vierzig Schläge weniger einen Schlag ...«

Der Mann ist auch damit noch nicht zufrieden. Er hat sich in seinem Herzen schon tausendmal mehr gegeißelt.

»Und du sollst in freiwillige Verbannung gehen ...«

Der Mann atmete auf. Der Row hatte ihn wohl erst jetzt zufriedengestellt.

»Und wirst dein Weib heute noch herschicken. Die Gemeinde wird für sie sorgen.«

Der Mann ging.

Ich sah ihn nie wieder.


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