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Jizchok Lejb Perez: Messias' Zeiten

Wie in allen jüdischen Städtchen Galiziens gab es auch in der Gemeinde, wo meine Eltern lebten, einen Verrückten. Wie alle Verrückten hatte auch dieser gar keinen Respekt vor der Gemeinde, weder vor dem Row noch vor dem Dajen, und fürchtete nicht einmal den Totengräber und den Bader, vor denen selbst die angesehensten Bürger Respekt haben. Dafür zitterte das ganze Städtchen – wie die Gemeindeverwaltung mit allen geistlichen Amtspersonen so auch der Totengräber und der Bader – vor dem Verrückten und verschloß vor ihm Tür und Tor. Und obwohl der arme Verrückte zu niemand ein böses Wort sagte und niemand etwas zuleide tat, schrien doch alle auf ihn; viele schlugen ihn, und die Gassenjungen bewarfen ihn mit Schmutz und Steinen.

Ich hatte Mitleid mit dem Verrückten, und es zog mich immer zu ihm hin. Ich wollte mit ihm reden, ihn trösten, lieb zu ihm sein. Es war mir aber unmöglich, mich ihm zu nähern: ich hätte dann auch etwas von dem Schmutz und den Steinen abbekommen, mit denen man ihn bewarf. Ich war ein junger Bursche und hatte einen feinen Anzug, den ein Lemberger oder Krakauer Schneider genäht hatte. Ich wollte meinen Rücken nicht den Steinen und meinen Anzug nicht dem Schmutz aussetzen und hielt mich in einiger Entfernung.

Das Städtchen, in dem meine Eltern lebten, in dem ich meine Kinderjahre verbrachte und die Lemberger und Krakauer Anzüge trug, war befestigt und von Wällen, Wassergräben und hohen Mauern umgeben. Auf den Wällen standen Kanonen und marschierten ernste und schweigsame Wachtposten. Sobald es dunkelte, zog man die eiserne Zugbrücke über dem Wassergraben hoch, schloß alle Tore und schnitt so das Städtchen bis zum Morgen von der ganzen Welt ab. Vor jedem verschlossenen Tore stand ein vom Kopf bis zu den Füßen bewaffneter Wachtposten.

Tagsüber waren alle frei und durften aus und ein gehen, ohne erst den Platzmajor um Erlaubnis zu fragen; wir durften auch im Flusse vor der Stadt baden und uns sogar draußen auf die Wiese am Flußufer hinlegen und in den Himmel oder in die weite Ferne schauen, wie es einem gerade paßte. Niemand sagte uns deswegen ein Wort. Und auch wenn jemand überhaupt nicht zurückkam, passierte uns nichts. Aber nachts mußte es im Städtchen ganz still sein, und niemand durfte herein oder heraus. »Es ist noch ein Glück«, dachte ich mir damals, »daß man den Mond hereinläßt ...«

Solange ich lebe, werde ich die Abende in diesem Städtchen nicht vergessen. Zugleich mit den Abendschatten verbreitete sich ein abendlicher Schauer über das ganze Städtchen, und Menschen und Häuser wurden plötzlich kleiner, schrumpften gleichsam zusammen. Die Brücke wurde hochgezogen, die eisernen Ketten knirschten und rasselten. Das Knirschen ging mir durch Mark und Bein. Und dann wurden die Tore, eines nach dem andern, zugeschlagen. Das alles wiederholte sich jeden Abend, und doch zitterten allen die Glieder, eine stumpfe Müdigkeit legte sich auf alle Gesichter, alle Augen erloschen wie bei Toten, alle Lider fielen wie bleiern zu, jedes Herz stand still, und jeder Atem stockte. Dann gingen Patrouillen durch die Gassen, die Säbel rasselten, die Schritte hallten, die Bajonette funkelten, und die Führer schrien: »Wer da?« Und jedermann mußte antworten: »Ein Hiesiger!« Tat man es nicht, so konnte Gott weiß was passieren. Viele verschlossen sich in ihren Häusern und fürchteten, sich auf der Straße zu zeigen.

Einmal passierte mir folgendes: Ich hatte draußen vor der Stadt gebadet und vergessen, daß nach dem Tage die Nacht kommt. Plötzlich sehe ich, daß die Brücke hochgezogen wird. Das Knirschen klingt mir in den Ohren; die Tore fallen ins Schloß, und mein Herz beginnt heftig zu pochen. Es ist nichts zu machen! Nun muß ich die ganze Nacht draußen vor der Stadt bleiben... Eine wunderliche Sache: wenn ich zu Hause im warmen Bett lag, träumte ich jede Nacht von der freien Welt außerhalb der Festung; als aber mein Traum zum erstenmal in Erfüllung gegangen war, befiel mich ein Schreck. Es begann der bekannte Streit zwischen dem Kopf und dem Herzen. Der Kopf sagte: sei ruhig, genieße einmal die freie, reine Luft und den freien, gestirnten Himmel. Das Herz hörte aber nicht darauf und pochte so heftig, als ob es aus der Brust springen wollte. Und aus dem schweren Herzen stieg mir ein Nebel in den Kopf. Die freien Gedanken verdunkelten sich allmählich und gingen schließlich im Nebel unter. Es klang mir in den Ohren, es flimmerte mir in den Augen. Jeder leichte Schatten eines Zweiges oder eines Grashalmes erfüllte mich mit Schrecken, der mich zu Boden drückte.

Und ich fiel mit dem Gesicht auf die Erde.-..

Ob ich geschlafen habe oder nicht und wie lange ich so lag, weiß ich nicht. Plötzlich höre ich aber Schritte. Ich springe auf. Ich bin nicht allein. Zwei wohlbekannte, tiefe schwarze Augen schauen mich so herzlich und so innig an. Es ist der Verrückte.

»Was tust du hier?« frage ich ihn mit dumpfer Stimme.

»Ich schlafe niemals in der Stadt!« antwortet er mir traurig, und sein Blick ist so sanft, und seine Stimme so herzlich, daß ich zur Besinnung komme und meinen ganzen Schrecken vergesse.

Ich erinnere mich plötzlich daran, daß man die Verrückten einst für Propheten hielt und daß es im Morgenlande auch heute noch so ist. Und ich frage mich: ist er vielleicht einer von ihnen? Wird er denn nicht wie ein Prophet verfolgt? Bewirft man ihn nicht wie einen Propheten mit Steinen? Leuchten seine Augen nicht wie Sterne? Klingt seine Stimme nicht wie eine Harfe? Trägt er nicht den Schmerz und das Leid des ganzen Zeitalters auf seinem Rücken? Vielleicht kennt er auch die Zukunft?...

Ich frage ihn, und er antwortet mir so still, so süß, daß ich glaube, es sei bloß ein Traum, der süße Traum einer Sommernacht jenseits der Festungsmauer.

»Glaubst du an den Messias?« frage ich ihn.

»Gewiß!« antwortet er leise und sicher. »Messias muß kommen.«

»Er muß?!«

»Ganz sicher! Alle warten auf ihn, auch Himmel und Erde warten. Wenn nicht alle auf ihn warteten, so hätte kein Mensch Lust zu leben oder sich zu rühren ... Aber die Menschen leben und tun so, als ob sie den Willen zum Leben hätten; also fühlen sie alle, daß Messias kommt, daß er kommen muß, daß er schon unterwegs ist...«

»Ist es wahr«, frage ich ihn weiter, »daß vorher schreckliche Kriege toben werden, daß die Menschen sich wegen falscher Propheten wie die wilden Tiere zerfleischen werden? Daß die Erde mit Blut getränkt wird, daß Blutströme von Morgen gen Abend und von Mittag gen Mitternacht fließen werden? Daß alle Tiere Menschenblut trinken und daß die Felder, Gärten, Straßen und Wege mit Menschenblut begossen sein werden? ... Und daß erst nach dieser blutigen Sintflut der wahre Messias erscheinen wird? ... Ist das wahr?«

»Es ist wahr!«

»Wird man ihn erkennen?«

»Alle werden ihn erkennen. Niemand wird sich irren. Er wird mit jeder Miene, mit jedem Blick, mit jedem Wort der Messias sein. Er wird kein Heer haben, er wird auf keinem Pferde sitzen, und kein Schwert wird an seiner Lende hängen ...«

»Was denn?«

»Flügel wird er haben... Messias wird Flügel haben, und dann werden auch allen Menschen Flügel wachsen. So wird es sein: plötzlich wird ein Kind mit Flügeln geboren werden, dann ein zweites, ein drittes und so weiter ... Zuerst werden die Menschen erschrecken, dann werden sie sich daran gewöhnen, und schließlich wird das ganze Geschlecht Flügel haben; ein Geschlecht, das nicht mehr im Schmutz liegt, das sich nicht mehr wegen des täglichen Brotes balgt ...«

Lange noch redete er so, ich konnte ihn aber nicht mehr verstehen. Seine Stimme war so traurig und so süß, daß ich sie in mich so gierig wie ein Schwamm aufnahm. Als er zu reden aufhörte, tagte es schon, man öffnete die Tore und ließ die Zugbrücke herunter.

Seit dieser Nacht im Freien kam mir das Leben in der Festung noch schwerer, noch unerträglicher vor. Die alten Mauern, die rasselnde Zugbrücke, die eisernen Tore, die Wachtposten und Patrouillen, das heiser-zornige »Wer da?«, das unterwürfig-falsche »Ein Hiesiger!«, das ewige Zittern der fahlen Gesichter, die erschrockenen, halberloschenen Augen, der Markt mit den trägen, zitternden Schatten – all das legte sich wie Blei auf meine Seele, und ich konnte mich davon nicht befreien, konnte nicht aufatmen... Das Herz tat mir weh, eine furchtbare Sehnsucht verzehrte mich, und ich beschloß, Messias entgegenzufahren.

Ich setze mich in den ersten besten Wagen. Der Fuhrmann dreht sich nach mir um und fragt:

»Wohin?«

»Wohin du willst!« antworte ich. »Aber fort von hier, weit, weit fort von hier!«

»Wie lange soll ich fahren?«

»Solange das Pferd aushält!...«

Der Fuhrmann nimmt die Zügel in die Hand, und wir fahren.

Wir fahren immer weiter und weiter. Neue Felder, neue Wälder, neue Dörfer, neue Städte, alles ist neu; alles ist aber nur von außen neu, im Grunde ist es immer dasselbe. Wie ich genauer hinsehe, erkenne ich in allen Dingen dieselbe Schwermut, jeder Menschenblick ist ängstlich und falsch, jeder Ton gebrochen... Auf allen Dingen liegt ein grauer Nebel, der jedes Licht verdeckt und jede Freude erstickt. Alles ist erdrückt. Und ich schreie immer: »Weiter! ...«Ich hänge aber vom Fuhrmann ab, und der Fuhrmann vom Pferd ... Das Pferd will fressen, und wir müssen halten.

Ich trete ins Wirtshaus. Es ist eine große, durch einen alten Vorhang in zwei Hälften geteilte Stube. Auf der einen Seite sitzen an einem großen Tisch drei Männer. Sie bemerken mich nicht, und ich kann sie in Muße betrachten. Es sind drei Generationen. Der Älteste ist grau wie eine Taube, aber er sitzt kerzengerade und schaut mit scharfen Augen ohne Brille in ein Buch, das er vor sich auf dem Tische liegen hat. Sein altes Gesicht ist ernst, seine alten Augen blicken sicher, und der alte Mann und sein Buch sind wie zusammengewachsen: der weiße Bart, dessen silberne Spitzen auf den Blättern des Buches ruhen, verbindet sie zu einem Stück. – An seiner Seite sitzt ein etwas jüngerer Mann, wohl sein Sohn: es ist dasselbe Gesicht, aber jünger, lebhafter, nervöser, manchmal auch müder und abgespannter. Auch er schaut in ein Buch, hat aber eine Brille. Das Buch ist kleiner, und er hält es sich näher vor die Augen und stützt sich auf den Tischrand. Er ist in den mittleren Jahren. Bart und Pejes sind nur zur Hälfte ergraut. Er wiegt sich hin und her, und sein Körper will sich anscheinend bei jeder Bewegung vom Buche losreißen, das Buch zieht ihn aber immer wieder an. Er wiegt sich hin und her, und seine Lippen bewegen sich leise. Ab und zu wirft er einen Blick auf den Alten, dieser bemerkt es aber nicht. – Links vom Alten sitzt der Jüngste, anscheinend sein Enkel, ein junger Mann, mit glänzenden, schwarzen Haaren und unruhigen Augen. Auch er schaut in ein Buch, aber sein Buch ist ganz klein, und er hält es sich dicht vor die lebhaften Augen. Zuweilen rückt er es von sich weg, wirft einen ehrfurchtsvollen und zugleich erschrockenen Blick auf den Alten, schaut dann mit höhnischem Lächeln seinen Vater an und wendet sich um, um zu lauschen, was hinter dem Vorhang geschieht. Hinter dem Vorhang höre ich aber ein Stöhnen, wie wenn dort eine Frau in Geburtswehen läge ...

Ich will mich räuspern, damit sie mich bemerken. Im selben Augenblick wird der Vorhang etwas zurückgeschlagen, und ich erblicke zwei Frauen. Eine alte mit scharfem, knöchernen Gesicht und scharfen Augen und eine jüngere mit weichen, etwas verschwommenen Zügen und unsicheren Augen. Sie stehen da, schauen zu den Männern hinüber und warten, daß man sie bemerkt. Der Älteste bemerkt sie nicht, seine Seele ist mit der Seele des Buches verwachsen. Der Mittlere bemerkt die Frauen und überlegt sich, ob er den Vater wecken soll; und der Junge springt auf ...

»Mutter! Großmutter! Nun? ...«

Sein Vater erhebt sich unruhig, der Großvater rückt das Buch ein wenig von sich und blickt die Frauen an.

»Wie geht es ihr?« fragt der Junge mit bebender Stimme.

»Sie hat es überstanden!« antwortet die Alte ruhig.

»Überstanden? Überstanden?« lächelt der Junge.

»Du sagst gar nicht ›Masel-tow‹, Mutter?« sagt der Mittlere.

Der Alte überlegt sich und fragt:

»Was ist denn geschehen? Und wenn es auch nur ein Mädel ist ...«

»Nein!« sagt die Alte. »Es ist sogar ein Knabe ...«

»Tot?«

»Nein, das Kind lebt!« antwortet die Alte. Aber in ihrer Stimme ist keine Freude.

»Ein Krüppel?«

»Seltsame Zeichen hat es! An beiden Schultern ...«

»Was für Zeichen?«

»Wie Ansätze von Flügeln ...«

»Von Flügeln?«

»Ja, von Flügeln. Und sie wachsen ...«

Der Alte ist bekümmert, der Mittlere erstaunt, und der Junge ist außer sich vor Freude.

»Es ist gut, es ist gut! Sollen sie wachsen, sollen sie zu richtigen Flügeln auswachsen, zu großen, mächtigen Flügeln! Es ist gut!«

»Was freust du dich so?« fragt der Mittlere.

»Eine Mißgeburt!« seufzt der Alte.

»Warum?« fragt der Enkel.

»Flügel«, antwortet der Alte streng, »heben den Menschen in die Höhe ... Mit Flügeln kann er nicht auf der Erde bleiben ...«

»Das macht doch nichts!« sagt der Enkel trotzig. »So ist man aus seinem Kerker befreit, braucht nicht mehr im Schmutz zu liegen und lebt in der Höhe ... Ist denn der Himmel nicht schöner als die Erde?«

Der Alte erbleicht, und der Mittlere nimmt das Wort:

»Dummes Kind! Wovon kann der Mensch in der Höhe leben? Es genügt doch nicht, Luft zu atmen ... In der Höhe werden keine Wirtshäuser verpachtet und keine Lieferungen vergeben ... In der Höhe kann man nicht einmal ein Hasenfell kaufen ... In der Höhe ...«

Der Alte unterbricht ihn:

»In der Höhe«, sagt er mit einer Stimme, so fest und hart wie Stahl, »gibt es keine Schul, kein Bejßmedresch, keine Klaus zum Beten und Lernen. In der Höhe gibt es keinen von Vorfahren ausgetretenen Weg! In der Höhe muß man herumirren, weil man keinen Weg vor sich sieht ... Man ist zwar ein freier Vogel, aber wehe dem freien Vogel, wenn ihn ein Zweifel oder Trübsinn befällt! ...«

»Wieso?« Der Jüngste springt hitzig mit brennenden Augen auf.

Aber er kommt nicht zu Wort, denn die Großmutter unterbricht ihn:

»Närrische Mannsbilder!« sagt sie. »Was für Gedanken sie sich machen ... Und der Row? Wird denn der Row erlauben, daß man ihn beschneidet? Wird er denn gestatten, daß man über ein Kind mit Flügeln den Segensspruch verrichtet? ...«

 

Ich springe auf. Die Nacht draußen vor der Stadt, die Fahrt und das Kind mit den Flügeln – alles war nur ein Traum.


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