Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
In Salerno lebte einst ein Mann namens Marino, der von seiner liebenswürdigen Frau, welche Placida hieß, ein einziges Kind, einen Knaben, hatte. Das Kind hatte kaum ein Alter von zwei Jahren erreicht, als der Vater heftig erkrankte; kein Arzneimittel wollte helfen: er mußte sterben. Als er sich nun dem Tode nahe sah, rief er seiner Frau und bat sie, auch den Knaben mitzubringen, dem er den Namen Perpetuo beigelegt hatte; dieser Name »der Fortdauernde« sollte dem Kinde und der ganzen Familie eine gute Vorbedeutung werden, daß in ihm dem Hause fortdauernde, unaufhörliche Freude erwachse. Als die Frau mit ihrem Söhnchen ins Zimmer trat, erhob er sich, so gut er konnte, im Bette, nahm die Mutter mit der einen Hand und das Kind mit der andern und sprach zu seiner Gattin: »Placida, ich sehe meine letzte Stunde vor Augen, und es ist klar, daß ich nicht den Fleiß und die Sorgfalt auf die Erziehung und Heranbildung dieses unseres Söhnchens zu einem brauchbaren Manne verwenden kann, wie ich so sehr wünschte, und worauf alle meine Gedanken gerichtet waren. Er hätte das in seinem zarten Alter sehr nötig; aber ich sehe, ich muß ihn schon in seinen ersten Lebensjahren verlassen, und dies würde mir den Tod sehr verbittern, wenn ich nicht wüßte, daß deine Klugheit imstande ist, reichlich zu ergänzen, was der unausweichliche Zwang der Natur mich nicht selbst ausführen läßt. Darum, meine teure Gattin, befehle ich dir dieses Kind, in dem ich selbst gewissermaßen fortzuleben meine, wiewohl die letzte Stunde mir bald die Augen schließen wird, – ich befehle ihn dir, sage ich, ganz in deine Hände und zu deiner Leitung und bitte dich bei dem ganz besonderen guten Vernehmen, das unsere Verbindung bisher fortwährend bezeichnet hat, daß du, während du ihm bis jetzt für und für eine liebevolle Mutter gewesen bist, ihm von nun an Vater und Mutter zugleich sein mögest; und da es Gottes Wille ist, daß ich nicht länger bei dir bleibe, wünsche ich, daß du die Liebe, die du mir zugewandt hättest, wenn ich bis zu den grauen Haaren mit dir gelebt hätte, alle diesem Kinde zuwendest und in ihm auch mich fortliebest, wie wenn ich mit dir lebte. Wenn ich diese Hoffnung mit ins andere Leben nehmen darf, so wird mir der Tod nicht schwer werden.«
Bei diesen Worten legte er die Hand des Kindes in die Hand der Mutter, schlang seinen Arm um ihren Hals und sprach, indem er seine Lippen auf die ihrigen drückte: »Ich befehle dir ihn, meine teure Gattin, und lasse an meiner Statt dir dieses teure Pfand als sicheres Zeugnis unserer beiderseitigen Liebe.«
Er konnte diese letzten Worte nicht aussprechen, ohne reichliche Tränen zu vergießen, und Placida konnte nicht umhin, die ihrigen mit denen ihres teuersten Gemahls zu vermischen. Es wurde ihr schwer, unter lauter Schluchzen zum Worte zu kommen, und so sprach sie: »Marino, du nimmst den besten Teil von mir mit dir fort, indem du aus diesem Leben scheidest; denn mein Herz wird dich begleiten und dir Verbundenbleiben mit jenem Bande, womit treueste Liebe uns in dem Leben zusammengekettet hat, das du nunmehr zu verlassen auf dem Punkte stehst, um mich voll unglaublichen Schmerzes zurückzulassen. Ich wünschte sehr, daß es Gott gefiele, daß zur gleichen Stunde mit dem deinigen auch mein Leben sein Endziel erreichte. Aber nun hat er anders beschlossen, vielleicht, damit dieses unser Söhnlein nicht ohne Führer bleibe; und so werde ich ihm denn die Fülle der Liebe ganz zuwenden, die die Mutterliebe mich ihm zu widmen antreibt. Freilich hätte er zu seiner Erziehung und Anleitung zur Tugend dich mehr als mich nötig gehabt; aber ich will nun allen mir innewohnenden Geist und Eifer anwenden, damit du nicht in der guten Meinung getäuscht werdest, die du von mir hegst, und damit dieses unser Söhnlein, in dem ich dein Bild abgedrückt sehe, deinem Verlangen nachkomme und ein brauchbarer Mann werde. Ach, könnte ich nur, mein Gemahl, durch irgendein Mittel, ja durch Vergießen meines eigenen Blutes dein Hinscheiden von uns verhindern! Aber gewiß werde ich dich immer lieben in diesem unserm gemeinschaftlichen Kinde, das du in meine Hand befohlen hast und befohlen hast in meine Treue, die ich auch im Tode dir ebenso fest bewahren werde, wie ich sie dir im Leben bewahrt habe.«
Darauf schwieg sie unter Tränen; ihr Mann freute sich der innigen Liebe seiner Gattin und lobte sie sehr. Kurz darauf gab er wirklich seinen Geist auf zum unsäglich großen Schmerze Placidas.
Als ihr Mann tot war und sie ihn hatte ehrenvoll bestatten lassen, verfehlte Placida nicht, alles das auszuführen, was ihr nötig schien, um ihren Sohn gut zu erziehen; dieser war auch von Natur sehr leicht zur Tugend zu lenken und Seiner Mutter so sehr in Liebe zugetan, daß er von ihren Befehlen niemals abwich und in kurzem seinem Alter voraus war an Gelehrsamkeit, feinem Betragen und guten Sitten, worüber man in der ganzen Stadt sich verwunderte und seine Mutter wegen ihrer Sorgfalt rühmte.
Als der Knabe zwölf Jahre alt war, wurde er von einem Fieber befallen, das sich bald so, bald so äußerte und die Ärzte auf die Besorgnis brachte, es möchte in eine Schwindsucht ausarten und am Ende den Knaben das Leben kosten. Placida war darüber so betrübt, daß sie sich nicht weniger vom Kummer verzehrte, als sie fühlte, daß das Fieber ihren Sohn verzehre, und sie unterließ nichts, was zur Wiederherstellung des Jünglings dienen konnte. Auch die Ärzte sparten keinen Fleiß, um zu verhindern, daß das Fieber in Mark und Bein eindringe und dann wie ein verdecktes schleichendes Feuer mit unbilliger Hitze jene feuchte Naturgrundlage des Lebens aufzehre. Sie bemühten sich daher, den Körper frisch und feucht zu erhalten, um auf diese Weise der Hitze Einhalt zu tun und endlich das Feuer ganz zu verlöschen, das die Lebenskräfte des armen jungen Menschen verzehrte. Sie verordneten ihm daher abgezogene Wasser, die diesem Plane ihrer Heilart entsprachen. Die Mutter hatte die Obliegenheit, ihm jeden Morgen bei Sonnenaufgang eine gewisse Latwerge mit Endivienwasser vermischt zu reichen, und wiewohl es der Frau nicht an Dienern und Aufwärtern fehlte – denn sie war sehr vornehm –, so wollte sie doch nicht, daß ein anderer als sie sich erlaube, dem Sohne das, was die Ärzte verordnet hatten, zu reichen; daher stand sie denn immer mit Tagesanbruch auf, bereitete den Trank und reichte ihn mit eigener Hand dem Kranken.
Nun seht aber, wie schlecht das schnöde Schicksal uns behandelt, wenn es uns übel will und uns Widerwärtigkeit bereitet! Placida stand noch in jugendlichem Alter, denn sie zählte noch nicht viel über dreißig Jahre, und wiewohl sie durchaus sittsam lebte und fest entschlossen war, keinen Mann mehr zu nehmen, so hielt sie doch darauf, die Schönheit zu bewahren, welche die Natur mit freigebiger Hand ihr dargereicht hatte. Sie gebrauchte daher Sublimatwasser, um das Gesicht glänzend und rein zu erhalten und sich, so gut sie konnte, zu wahren gegen die Runzeln, die die Jahre bringen, und die einem männlichen Gesichte Ernst und Würde verleihen, dem weiblichen aber die Lieblichkeit rauben. Diese edle Frau hatte nun in einem Fläschchen solches Wasser, das sie zu diesem Zwecke verwendete, und eine ihrer Frauen hatte es aufzuheben. Als nun eines Morgens Placida mit ihrem Putze fertig war, gab sie das Fläschchen dem Mädchen, das sie bediente, mit dem Auftrage, es an seinen Platz zurückzustellen. Als sie das Zimmer verließ, kam einer der Diener ihr entgegen, der ihr das Fläschchen mit dem Endivienwasser gab, das man zur Heilung des Kranken anwendete; das Mädchen hielt nun beide Fläschchen in der Hand, legte sodann das eine in die Büchse, wohin das Sublimatwasser gehörte, und gab das andere ihrer Gebieterin, die es dahin stellte, wo dasjenige stand, aus dem sie das Wasser für ihren Sohn nahm. Als nun der Morgen kam, stand Placida auf und reichte nach ihrer Gewohnheit ihrem Sohne den Trank. Kaum hatte der Unglückliche ihn eine Weile im Magen, so empfand er die unsäglichsten Schmerzen: es war ihm, als würden ihm die Eingeweide zerfressen, und er fühlte seinen Tod nahe. Darum schickte die Mutter plötzlich zu den Ärzten und erzählte ihnen die seltsame Wirkung, die heute der Trank hervorgebracht, der doch bisher ihrem Sohne so wohltätig gewesen sei. Die Ärzte wunderten sich und konnten sich nicht einbilden, wie das komme. Sie traten zu dem Kranken, beobachteten die Zufälle, die ihn quälten, und erkannten, daß Zeichen von Vergiftung vorlagen.
»Madonna«, sagten sie daher zu der Mutter, »Euer Sohn hat nicht den Trank bekommen, den er sonst zu nehmen pflegte, sondern statt dessen hat er ein ätzendes Gift verschluckt, das ihn verzehrt.«
»Wie, Gift?« rief Placida. »Ich Unglückliche! Ihr täuscht euch, ihr Herren, denn niemand als ich hat ihm den Trank gereicht, und ich habe ihm den gleichen gegeben wie sonst immer.«
»Vielleicht«, sagten die Ärzte, »haben die, die ihn geholt haben, Euch getäuscht und das Wasser vergiftet.«
Sogleich wurde der Diener gerufen, welcher sagte, er habe das, was der Apotheker in die Flasche getan, ins Haus gebracht ohne Trug und Täuschung; ehe er eine solche Schurkerei beginge, würde er sich lieber das Leben genommen haben, denn er liebe den Sohn des Hauses wie sein eigenes Leben. Der Diener war ein rechtschaffener Mensch und galt dafür bei jedermann, weshalb man auch gern seinen Worten glaubte. Sie ließen den Apotheker rufen, welcher sagte, er habe das Wasser verabreicht, ohne irgend etwas daran zu fälschen. Die Ärzte wollten sich jedoch so gut als möglich aufklären, wie es mit der Sache sich verhalte, und ließen sich das Fläschchen mit dem Wasser bringen, betupften sich den Finger damit und brachten ihn an die Zunge, wo sie dann die tödliche Schärfe empfanden, die das Wasser in sich schloß; sie sprachen daher zu der Mutter: »Madonna, man hat Euch getäuscht: dies ist kein Endivienwasser, sondern wirklich Gift.«
Nun betrachtete es die Frau genauer und erkannte, daß es ein Fläschchen Sublimatwasser sei, das sie zur Erhaltung ihrer Schönheit anzuwenden pflegte. Da fing sie an zu schreien und zu jammern und sah, daß die Dienerin sich in der Ähnlichkeit der Gefäße (denn sie sahen sich beide sehr ähnlich) getäuscht hatte, da der Diener ihr die Flasche mit dem Endivienwasser gab, während sie noch die andere in der Hand hatte; hier vertauschte sie die beiden, stellte die Arznei in die Büchse und gab Placida das Gift. Sobald die Ärzte dies begriffen, ermangelten sie nicht, jedes mögliche Heilmittel für ihren unglücklichen Sohn in Anwendung zu bringen; aber die tödliche Gewalt des Giftes hatte schon so sehr um sich gegriffen, daß alle Mittel umsonst waren, und der Jüngling starb.
Im Bewußtsein, Gift statt Arznei dem Sohne gereicht zu haben, der ihr Gut, ihr Leben, ihr Herz war, fühlte sich die arme Mutter von solchem Schmerz erfüllt, daß sie den toten Sohn umarmte und über ihn hinsank in solcher Ohnmacht, daß man meinte, das Leben sei ganz von ihr gewichen. Da jedoch die anwesenden Ärzte ihre Mittel anwandten, riefen sie ihre Lebenstätigkeit zurück, worüber die Frau ganz unzufrieden war und sich beklagte, daß sie sie nicht haben sterben und ihre Seele hinziehen lassen, um der ihres Sohnes nachzueilen.
»Aber«, sagte sie, »was der Schmerz nicht vermocht hat, soll meine Hand vollenden.«
Sie hatte ein Messer in einer Scheide am Gürtel hängen, riß es heraus und wollte sich umbringen; aber die Anwesenden hielten sie zurück. Das Leben war ihr jedoch verhaßt, und darum nannte sie sie grausam, daß sie sie bei solchem Schmerze noch zum Leben zwingen. Sie verwünschte das Schicksal, sie beklagte sich über die Fügung, bezichtigte die Sterne und den Himmel der Grausamkeit und verlangte durchaus, daß ihr jene Dienerin herbeigeholt werde: denn sie wolle sie eigenhändig erwürgen, da sie durch ihre Fahrlässigkeit ihren teuern Sohn in den Tod gestürzt und ihr einen so herben Schmerz bereitet habe. Die Umstehenden suchten sie zu überzeugen, es sei nur ein Versehen, nicht böse Absicht gewesen, und das Mädchen verdiene deshalb nicht den Tod. Da sie aber ihren Zorn nicht beschwichtigen konnte, begehrte sie, man solle sie den Händen der Gerechtigkeit übergeben, damit sie zum Tode verurteilt würde. Nach einem gründlichen Verhöre fanden indes die Richter, daß sie eher unvorsichtig gewesen als schuldig sei, und sprachen sie von jeder Strafe frei.
Dies war für Placida ein harter Schlag; denn sie war nicht zufrieden mit dem, was das Recht verlangte, sondern ließ sich einzig vom Zorn leiten und von der Wut. Man nahm ihr daher das Mädchen aus dem Hause, und sie ging voll Trauer hinweg; denn sie war sich bewußt, durch ihre Unvorsichtigkeit einen so bedeutenden Unfall veranlaßt zu haben. Als nun Placida sah, daß die frei ausgegangen war, die sie gerne zu einem grausamen Ende gebracht gesehen hätte, war ihr auch der kleine Trost entwunden, den sie aus dem Untergang derjenigen zu ziehen hoffte, die sie als die Ursache des Todes ihres Sohnes ansah. Sie kehrte daher den ganzen Zorn wider sich selbst; sie zog in Betracht, daß alles das geschehen sei zur Aufrechterhaltung ihrer Schönheit, und zerkratzte und verderbte sich dermaßen ihr Gesicht, daß ihre bisher schönen Züge viel häßlicher wurden als die des garstigsten alten Weibes, das man je gesehen. Sie sprach auch von nichts, als daß sie sich den Tod geben wolle.
»Nimmermehr«, rief sie, »werde ich, die Mörderin meines Sohnes, am Leben bleiben. Diesen Sohn hat sein Vater Perpetuo genannt, in der Meinung, er werde in langer Nachkommenschaft sein eigenes Leben fortpflanzen.«
Und fortwährend weinte und seufzte sie.
»Du, Perpetuo«, sagte sie, »bleibst tot, und die dich umgebracht hat, soll leben bleiben? Leben bleiben soll die, die dich von der Hand deines Vaters empfangen, um dich zur Tugend zu erziehen und zu den Jahren der Reife zu bringen! Und jetzt hat sie dich getötet? Nein, nein, das darf nicht sein.«
Damit bat sie die, welche sie bewachten, daß sie sich kein Leid antue, sie mögen ihr den Tod geben. Als sie aber kein Mittel wußte, sich das Leben zu nehmen, verfiel sie endlich darauf, nicht mehr zu essen und zu trinken. Ihre Wärter mußten ihr mit Gewalt den Mund öffnen und Flüssigkeiten hinuntergießen, um sie am Leben zu erhalten. Doch war die Gewalt ihres Schmerzes so groß, daß sie wahnsinnig wurde; während ihres Wahnsinns, der ihr jede vernünftige Überlegung raubte, führte sie fortwährend den Namen ihres Sohnes im Munde, und in diesem Zustande starb sie nach einigen Jahren. Man darf diesen Wahnsinn als ein Glück für sie betrachten, da er ihr das Bewußtsein des Unglücksfalls entzog, der ein Herz von Stein und Eisen, geschweige das Herz einer so liebenden Mutter, wie Placida ihrem Sohne war, hätte mit Jammer erfüllen müssen.