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Humoristische Meister-Novellen
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Eva Gräfin v. Baudissin

Die Kündigung · Eine Hauptdelikatesse

Die Kündigung

Seitdem die Frau Malzfabrikbesitzerswitwe Kerschreiter die kleine Wohnung in der Apotheke innehatte, fühlte sie sich recht wohl; ja, sie mußte sich, wenn sie nachsann, gestehen, daß sie in den sturmbewegten Ehejahren an der Seite des Herrn Kerschreiter, der ihre Mitgift schleunigst in Malz schlechtester Qualität umgesetzt hatte, nie ein ähnliches Heimatsgefühl gehabt hatte, wie hier in den sehr bescheidenen vier Wänden. Und daran trug wirklich das Hauptverdienst die freundliche Aufnahme, die sie von vornherein gefunden; hatte ihr doch der Herr Apotheker eigenhändig zur Einweihung eine Schachtel mit Magenmorsellen heraufgebracht und die Frau Rechnungsrätin Prasser aus dem Ersten eine Kanne Kaffee und eine selbstbereitete Sachertorte gesandt. Da revanchierte sich die Frau Kerschreiter, nachdem sie nach einigem Zögern das Bild des seligen Malzfabrikbesitzers als Letztes nicht wie anfangs geplant über ihrem Bett, sondern nur neben dem Nähtisch aufgehängt hatte, und lud die Frau Prasser, deren Tochter, das ältliche Fräulein Brigitte, und den Herrn Apotheker Badenstuber zum Nachtmahl ein. Es gab Regensburger Würstchen und einen Kartoffelsalat, wie ihn nach Meinung aller Beteiligten in dieser Vollendung eben nur die Frau Kerschreiter anfertigen könne; und man beschloß, das wohltuende Gefühl innerer Zusammengehörigkeit jeden Sonntag durch einen längeren Spaziergang neu zu stärken und danach die Abendmahlzeit abwechselnd bei einer der drei Parteien einzunehmen. Selbstverständlich sollten die drei Hunde, die zu den drei Haushaltungen gehörten – denn welche Münchner Familie wäre ohne diesen Freund des Menschen? – an diesem Vergnügungsprogramm beteiligt sein.

Bis Weihnachten – ja, das mußte ungefähr der Termin sein – war alles recht gut gegangen, bis auf gelegentliche kleine Bosheiten der Prassers. Aber Frau Kerschreiter durfte sich gestehen, daß sie alles in Demut getragen habe – vielleicht mit zuviel Demut! Sie nahm den stützenden Arm vom Nähtisch und hob den Kopf: am Ende hätte sie von vornherein energischer sein müssen?! Ach, aber gerade das war ihr nicht gegeben, darin hatte ja schon ihr Unglück dem gewiß seligen Gatten gegenüber bestanden, der nicht nur in Geldangelegenheiten leichtsinnig gewesen war. Immer schweigen, dulden, tragen, war ihre Losung ihr Lebelang gewesen – leider hatte sie auch vor den Prassers wieder versagt. Bald erklärten sie, dem Herrn Apotheker, der doch Junggeselle sei, dürfe man die Lasten der Bewirtung nicht zu oft zumuten, außerdem sei es bedeutend unterhaltender, die Reihenfolge nicht streng zu wahren – und so hatte es den ganzen Dezember die Frau Kerschreiter getroffen! Sie hatte sich darüber gefreut, sie war viel zu arglos, um dahinter eine Berechnung zu wittern. Jetzt allerdings – sie seufzte schwer auf: immer neue Enttäuschungen bereiteten einem die Menschen!

Prassers hatten sich nicht lange mehr verstellen können. Daß der Herr Apotheker ihnen nur eine Diaphanie mit einem Reh drauf beschert, der Frau Kerschreiter dagegen ein neusilbernes Körbchen mit einem blauen Glaseinsatz zu Füßen gelegt hatte, schlug dem Faß den Boden aus.

Beim Spaziergang am ersten Weihnachtstag – man ging von einer Kirche in die andre, um die schönen »Krippen« anzusehen – bemerkte die Frau Kerschreiter, daß das Fräulein Brigitte, wenn man vorm Portal die wartenden Hunde wieder begrüßte, den eignen Dackel streichelte und unversehens jedesmal ihren guten Waldmann mit dem Schirm stieß, so daß er laut aufheulte.

Da, endlich, riß ihr die Geduld: mochte man sie selbst kränken und ihr wehetun, aber so einem armen, machtlosen und unschuldigen Viecherl, o nein! Das Fräulein Brigitte sagte etwas von einem »drecketen Verreckerl«, wobei sie es ganz ungewiß ließ, ob sie den Waldmann oder seine sehr zarte Herrin meinte. Kurz und gut, Frau Kerschreiter brach in Tränen aus und rief den Herrn Apotheker zum Zeugen auf; aber leider, leider! konnte er nicht Partei ergreifen, da er gerade wieder seinen Schnauzerl hatte zur Ordnung rufen müssen. Frau Prasser triumphierte, Frau Kerschreiter sah ihn nur traurig an – in drei getrennten Kolonnen kehrte man nach Hause zurück. Weinend aß Frau Kerschreiter den Kartoffelsalat allein auf.

Von dem Tag an begann ihr Martyrium. Nicht allein, daß das Fräulein Brigitte ihr schrieb, wie lange man schon ihrer Gesellschaft, des Waldmanns und des Kartoffelsalats satt sei und wie sehr man sich in ihrem Charakter geirrt habe – Anfeindungen, die ignoriert wurden –, aber man griff sie auch in all ihren Rechten an: in der Waschküche, auf dem Trockenspeicher, im Treppenhaus. Frau Kerschreiters Brotbeutel war täglich verschwunden, die Milchfrau reklamierte die vor die Tür gestellte und doch fehlende Flasche, die Zeitung fehlte aus dem Briefkasten, und täglich verewigte sich Prassers Dackel auf der schönen Kokosmatte der Gehaßten. Sie ertrug alles – aber am ersten April, ja, da hatte sie dem Herrn Apotheker geschrieben, falls sich die Verhältnisse nicht ändern ließen, so müsse sie wohl die ihr liebgewonnenen Räume verlassen.

Seit bald vierzehn Tagen wartete sie nun auf eine Antwort; denn eine direkte Kündigung hatte ihr Brief doch noch nicht enthalten –? Oder doch? Ach, hätte sie doch lieber geschwiegen – jetzt wagte sie nicht einmal mehr in die Apotheke hineinzusehen. Sonst, beim täglichen Spazierengehen, lockte sie immer gerade vor der Glastür Waldmann an sich, und es fügte sich dann, daß der Herr Badenstuber von seinem Pult aufblickte, sehr rot wurde und sich tief verneigte. Auch diese letzte, allerletzte Beziehung hatte sie selbst abgebrochen. Denn wenn er nun im Ernst meinte, sie wolle ausziehen, dann würde er sie natürlich auch hassen und ihr die letzte Zeit ihrer Anwesenheit noch vergällen – – –

*

Sie stützte den Kopf wieder in beide Hände und weinte, unbekümmert darum, daß die Tränen auf die gute Plüschdecke ihres Nähtisches liefen. Du lieber Gott, da saß sie nun wieder mutterseelenallein, Ostersonntag! Erst hatte sie beschlossen, mit Waldmann einen längeren Ausflug zu machen, aber am Morgen hatten Prassers ihre »Zugeherin« hinaufgeschickt und sagen lassen, wenn die Frau Kerschreiter noch einmal ihre Geranien so begösse, daß das Wasser vom Blumenbrett an ihre frischgeputzten Scheiben spritze, so würde man sie verklagen. Da war ihr die Lust vergangen, schon aus Furcht, den Prassers auf der Stiege zu begegnen, und sie blieb lieber daheim. Dabei hatte sie eine Sehnsucht, die ihr das Herz beklemmte, nach Luft und Sonne und heiteren Menschen, und vielleicht konnte man schon Kätzchen pflücken oder gar Schneeglöckchen! Waldmann lag verdrossen und regungslos in seinem Korb – sie weinte stärker, ja, sie schluchzte förmlich – –

Waldmann richtete sich aus seiner Ecke empor, plötzlich stand er schweifwedelnd neben ihr, den Blick zur Tür gerichtet. Draußen im Treppenhaus ging wohl jemand vorüber –? Nein, es war still, aber der Hund horchte, und ganz leise hörte sie ein Anklingeln. Waldmann bellte laut und freudig auf und sprang an der Tür in die Höh' – sie trocknete die Augen und eilte in den Korridor: ein Bettler, wer sollte es sonst sein – – aber dann sah sie, wem Waldmanns Freude gegolten hatte: dem Schnauzerl des Herrn Apotheker! Er drängte sich ungestüm durch den Spalt und jagte mit Waldmann den Korridor entlang. Und fast ebenso eilig folgte ihm sein Herr, schloß sofort die Tür hinter sich und horchte eine Weile nach draußen.

Alles blieb still. Zwar atmeten sie beide auf, aber die Verlegenheit zwischen ihnen wurde nicht geringer. Der Herr Badenstuber streckte endlich seine Linke aus, die hielt ein Vogelnest, und in dem lagen mehrere buntfarbige, aber merkwürdig giftig aussehende Eier; sie waren aus selbstbereitetem Fruchtmark hergestellt und von ihm eigenhändig in diese nicht ganz geglückte Form gepreßt. Aber Frau Kerschreiter sah nur den guten Willen: Ostereier – für sie! Mein Gott, wie lange hatte sie keine mehr erhalten und, da doch der Waldmann nichts Süßes fraß, auch keine mehr gekauft. – Langsam verebbten ihre Freudenausbrüche, und zaghaft fragte sie: ob der Herr Apotheker nicht nähertreten wolle – –

Er setzte das Vogelnest auf die Spiegelkonsole, ohne sich vom Fleck zu rühren, sah bedeutungsvoll auf den Boden, der ja gleichzeitig Prassers Decke bildete, und fragte flüsternd, was sie zu einem Spaziergang meine –

Sie wurde rot: allein, mit ihm?! Der Waldmann brauche Bewegung, überredete er sie eifrig. Ja, das sah sie ein! So einem armen Tier durfte man sein Osterfest nicht mißgönnen. Auf den Zehenspitzen holte sie Hut und Jacke. Aber nun hinunter, bei den Prassers vorüber –? Daß die am »Guckerl« lauerten, war ihnen beiden eine Gewißheit; und wie sie nun einen Kriegsplan ausheckten, fiel aller Zwang und jede Scheu von ihnen ab, wie Kinder wurden sie, voll geheimen Glücks. Zuerst ging der Herr Badenstuber hinab, mit gewichtigem Schritt, mit gelegentlichen Pausen auf den Treppenabsätzen, als prüfe er sein Haus. Und nach ein paar Minuten huschte sie wie ein Vogel, den geduldigen Waldmann unterm Arm, über die Stiegen, kaum die Füße aufsetzend. Vor der Glastür, die sonst ihre Blicke vermittelt hatte, trafen sie sich, und infolge des gelungenen Streichs konnten sie frei, so ohne jeden Rückhalt miteinander reden, wie noch nie zuvor. Weit, weit hinein in den Englischen Garten wanderten sie, an großen Rasenplätzen vorüber, auf denen der Schnauzerl und der Waldmann sich jagen und wälzen konnten; beim Aumeister zahlte der Herr Apotheker ihre halbe Maß, was sonst die Frau Prasser mit strengem Blick verboten hatte, und den ganzen Arm trug sie heim voll Weiden- und Haselnußkätzchen. Aber so schön es auch war: ganz konnte sie weder den Spaziergang noch die Gesellschaft des wiedergewonnenen Freundes genießen. Weshalb sagte er nichts von ihrem Brief noch von der verblümten Kündigung? Denn falls er kein Machtwort sprach, wollte sie ausziehn; diese Prassers sollten ihr nicht länger das Leben verderben! Sie wartete; einmal mußte er doch anfangen, aber es kam nichts. Er schien ihre Einsilbigkeit kaum zu bemerken. Vor der Tür reichte sie ihm dankend die Hand, er hielt ihre Finger fest:

»Haben S' denn kein Kartoffelsalat ang'schafft?«

Nein, das hatte sie nicht. Für sich selbst war sie nicht so luxuriös. Wenn er aber so gut sein wollte, so vorliebzunehmen – –

Er war halt so gut. Aber sie freute sich nicht recht, sie ging auch, unbekümmert um Prassers, mit etwas müdem Schritt nach oben, während er diesmal ihre Taktik nachahmte und im Galopp die Stiegen hinaufstürmte. Und eine Flasche Wein hatte er unter seinem Rock mitgeschmuggelt. Er begriff auch nicht, daß sie trotz des guten Tropfens und der fröhlichen Ostereier auf dem Tisch so ernsthaft bleiben konnte. Immer wieder wanderte ihr Blick zum Bild des seligen Malzfabrikbesitzers hinüber: ja, der war leichtsinnig gewesen, aber es hatte zu ihm gepaßt, und er machte kein Hehl daraus. Wenn jedoch ein guter Bürger – wo sie ihm doch so wichtig und geschäftlich geschrieben hatte. Er nahm sie also gar nicht für voll, lachte über ihren Kummer und die Leiden, die sie durch Prassers zu ertragen hatte, und würde nicht weiter unglücklich sein, wenn sie sein Haus verließe. Konnte er sich nur unterhalten – einen gemütlichen Ostersonntag haben – was sie dabei empfand, wie unruhig sie innerlich war, das blieb ihm gleichgültig! Er war eben auch ein Mann wie alle andern Männer.

Als er aufstand, weil die Flasche leer war, sagte sie mit niedergeschlagenen Augen: »Haben S' denn mein' Brief net 'kriegt? Und daß i lieber ziehn möcht' –?«

Sie hörte einen langen, tiefen Atemzug. Und dann, ordentlich wie im Roman in ihrer Zeitung, kniete jemand vor ihr nieder. Es war der Herr Apotheker.

Gott sei Dank – Gott sei Dank! Endlich fing sie von dem Brief an! Ja, hatte sie denn nicht gefühlt, daß er den ganzen Tag darauf wartete –? Wußte sie nicht, daß ihm durch ihr Schreiben klar geworden war, daß sie sich liebten und zusammengehörten, allen Prassers zum Trotz, und daß ihr Wunsch, auszuziehen, ihm erst die Unmöglichkeit gezeigt habe, sie zu lassen?

»Wie?« fragte sie atemlos. »Das sollt' i g'schrieben haben – in meiner Kündigung –?«

Ja, ganz klar und deutlich hatte der Herr Apotheker dies zwischen den Zeilen herausgelesen. Er verstand sich eben auf derlei krauses Zeug von den Rezepten her. Die Antwort, die stand fertig in seinem Blick von jenem Tage an, aber sie hatte den Blick gemieden und nie mehr durch die Glastür geschaut. Vierzehn Tage lang litt er Unerträgliches – dann hatte er sich Ostern als Ziel gesetzt, um ihre Leiden zu beenden und sie beide zu erlösen. Er sprang auf die Füße und nahm seine Mieterin fest ans Herz, als müsse es so sein. Sie war viel zu erstaunt, zu fassungslos glücklich, um sich zu wehren: sie durfte also dableiben, brauchte nicht mehr in die Fremde. »Nie mehr,« versicherte Herr Badenstuber an ihrem Ohr. – – »Aber Prassers –?«

»Sind schon gekündigt. Am ersten April,« sagte er triumphierend.

Auf den Ausweg war sie gar nicht gekommen; die naheliegenden Dinge hatte sie im Leben stets übersehen.

»Wie sie mich wohl hassen,« fragte sie schüchtern, »diese Prassers –«

»Wie ich dich liebe,« rief der Apotheker begeistert und begann über Prassers Kopf zu tanzen. »Jetzt pfeife ich auf sie – jetzt, da ich dein Wort hab' –« Ja, hatte sie das eigentlich gegeben –? Aber ihr wurde heute schon so viel zugeschoben: einen Brief mit einer Liebeserklärung sollte sie geschrieben haben, und eine Kündigung hatte sie gemeint; da war es am besten, auch dies alles ruhig hinzunehmen. Eins blieb ja doch fest und unerschütterlich bestehen: daß dies Osterfest die schönste Feier ihres Lebens war.

*


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