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»Nun kommen Sie mir auch mit meiner ›vornehmen Gesinnung‹ . . .!« raunzte der Doktor und tat ein paar ärgerliche Züge aus seiner schweren schwarzen Zigarre.
»Aber, Verehrtester, Sie wollen doch nicht bestreiten . . .«
»Um Gottes willen, nein! Gar nichts will ich bestreiten. Dazu ist erstens die Bowle zu fein; die soll man nicht im Ärger des Disputs genießen. Und dann natürlich mein bißchen Kultur aus guter Kinderstube will ich gewiß nicht leugnen. Ich kränke niemand wissentlich in seinem Recht. Sage keinem Krüppel, daß er einen Buckel hat. Frage keinen Herrn Meyer, ob er verwandt ist mit dem Raubmörder gleichen Namens, der vor drei Jahren in Odessa hingerichtet wurde. Rede nicht augenzwinkernd darüber, wenn ich mal 'ne hübsche Frau beim abendlichen Gartenfest hinter einer Rosenhecke geküßt habe. Steige protestierend aus der Droschke, wenn ein Kutscher sein lahmendes Pferd roh mißhandelt. Esse Sonntags schneller zu Mittag, damit meine Köchin nichts von ihrem Ausgang verliert . . . Alles richtig. Aber unter dem unverdienten Renommee vornehmer Gesinnung – im Einzelfall – hab' ich Jahre meiner Jugend hindurch so gelitten, daß ich gegen das Wort »vornehme Gesinnung« innerlich revoltiere; daß ich geradezu ausschlage wie der Schimmel gegen die Stiefelwichse.
Ich ging damals nach Quinta. Ohne Begeisterung. Spielte lieber Schlagball, als daß ich Sallust präparierte. Und die Helden des Cornelius Nepos waren mir ein Greuel und ein Ekel – ich zog ihnen »Robinson Crusoe« und »Robert den Schiffsjungen« bei weitem vor. Die Viri illustres rochen meinem gesunden Instinkt meilenweit nach aufdringlicher Pädagogik. Ob die Kerle nun Hamilkar oder Hannibal, Atticus oder Cato hießen – ich sah sie beim Übersetzen nie mit dem Schwerte vor mir, sondern immer mit erhobenem Zeigefinger: »Mein lieber Gustav,« sagte so ein nach der Schablone frisierter Karthager, »ich bin nämlich ein lateinisches Beispiel des Guten, verstehst du wohl! Und wenn du mich genossen hast, so wird mir der brave Nepos gleich einen anderen Bonzen parallel gegenüberstellen, der ebenso eine geölte Herrlichkeit darstellt wie ich.«
Der Mann aber, der seit neunzehn Jahren sich in Quarta an Hamilkar begeisterte, sah schon selber aus wie der ältere Cato. Er hieß Oberlehrer Doktor Melchior Mützel, hatte ein bartloses, scharfgeschnittenes Gesicht über einem zu engen und deshalb ewig genierenden Stehkragen, und liebte es, durch andeutungsweise eingestreute Bemerkungen über die eigene Person eine gewisse Übereinstimmung in Lebensgang wie seelischen Qualitäten mit dem großen Vorbild aus Utica den Schülern nahezulegen. Auch er war auf dem Lande geboren, war ein geschworener Feind des Luxus und der Putzsucht und liebte die Einfachheit so sehr, daß ihm ein weißes Taschentüchlein, dessen Zipfel ich gern aus der Brusttasche leuchten ließ, ein Ärgernis schien. Als ich eines Tages aber gar ein paar Tropfen Kölnisches Wasser, vom Toilettentisch meiner Schwester stibitzt, auf dieses Tuch gesprengt hatte, sagte er mir, den Toilettenluxus erschnüffelnd, meinen Untergang in energielosem Wohlleben mit schmerzlichem Bedauern voraus. Auch er hatte als Jüngling im Heere gedient und verriet in seinem Spaziergang in den Pausen quer durch den Schulhof durch gereckte Rumpfhaltung und durchgedrückte Knie die militärische Schulung. Auch er war ein abgesagter Feind fremden Wesens wie jener Cato major. Er behandelte deshalb den nervösen, hilflosen Doktor aus Lausanne, der uns an Hand des Kleinen Plötz in die galante Sprache des Erbfeindes einweihte, wie einen lästigen Ausländer.
Trotz seines stets betonten catonischen Rechtsgefühls nahm er sich unter seinen Schülern die Söhne der Bankdirektoren und Großindustriellen mit besonderer Strenge vor, wobei ihm wohl wiederum das Vorbild des geliebten Römers vorschwebte, der als Statthalter von Sardinien den reichen Wucherern und ihrem Nachwuchs das Leben in einer Weise zu versalzen wußte, daß sie nichts zu lachen hatten.
Meine geringe Vorliebe für die heldischen Biederleute des Nepos und ihre für die Völkerfibel zugeschnittene Tugendboldigkeit blieb dem Scharfblick des Herrn Doktor Melchior Mützel nicht lange dunkles Geheimnis. Er verwies mir des öftern mein angebliches Lächeln und rächte die Heldengröße der Viri illustres an meinem Quartanervorwitz durch Feststellung der Tatsache, daß ich mangelhaft präpariert sei, durch Rügen ins Klassenbuch und mehrfach auch durch Arreststunden.
Gewöhnlich waren diese Arreststunden, die Samstagsvormittags nach Schulschluß abgesessen wurden, ganz unterhaltlich.
Es kamen da allerlei Schwerverbrecher aus verschiedenen Klassen im Singsaal zusammen. Neben verschüchterten Sextanern saßen freche Tertianer, die aus in die Tischplatte gekeilten Federspitzen kleine Klaviere herstellten und Bänke quietschen ließen. Sekundaner flochten in ihre halblauten Unterhaltungen holde Mädchennamen ein und schnitten pfeildurchbohrte Herzen in die Tische. Und hin und wieder nahm auch mit hochmütigem Lächeln ein Primaner unter den Gemaßregelten Platz und las, von einem aus der Odyssee, der Antigone und den Briefen Ciceros künstlich aufgebauten Wall geschützt, im »Neuen Tannhäuser« oder in der Reclam -Ausgabe von Casanovas Flucht aus den Bleidächern Venedigs.
Vorn aber thronte der die Arreststunden beaufsichtigende Gesang- und Zeichenlehrer Eberhard Sterzner, blätterte in einem Schmöker und warf manchmal einen mehr ängstlichen als beherrschenden Blick über die bunt zusammengewürfelte Sünderschar.
Er schwitzte Blut im Gedanken, daß – wie das öfter geschah – plötzlich ein heuchlerischer Sekundaner sich scheinbar von intensiver geistiger Arbeit erheben und eine Frage an ihn richten könnte, wie diese: »Verzeihung, Herr Sterzner, saßen zur Zeit der Völkerwanderung die Alemannen am Niederrhein oder die ripuarischen Franken?«
Herrn Sterzner, der vom Staate nicht dafür bezahlt wurde, über den Sitz der ripuarischen Franken zu Beginn der Völkerwanderung orientiert zu sein, stieg dann die Röte vom Hals her über die goldene Brille, und er pflegte mit etwas unsicherer Stimme zu entgegnen: »Setzen Sie sich! . . . Hier – ehem – hier ist kein Auskunftsbureau – ehem, nein, hier ist ein Arrestlokal!«
Diese im Ton nicht sehr imponierende Zurechtweisung überzeugte dann alle Anwesenden bis hinunter zum kleinsten Sextaner, daß Herr Eberhard Sterzner selbst nicht wußte, wo die ripuarischen Franken zu Beginn der Völkerwanderung domizilierten. Und das schmälerte sein Ansehen in einer Weise, daß meist nach solchem kurzen Dialog die Privatunterhaltungen der Arrestanten lauter wurden, die Federklaviere kühner in ihren Melodien, und sogar einige Papierpfeile mit unbestimmbarem Ziel durch den Singsaal flogen.
Eines Samstags aber ereignete es sich, daß ich ganz allein nachsitzen mußte. Ich glaube, weil ich des alten Cato ewig wiederholtes »Ceterum censeo, Carthaginem esse delendam« blöd gefunden hatte.
Da der Singsaal an diesem Tage noch benutzt wurde für Proben zu einer Festkantate, die Herr Eberhard Sterzner persönlich leitete, wurde mir unser Klassenzimmer angewiesen, meine Stunde ohne Aufsicht abzubrummen.
Dieses unser Klassenzimmer war nun auch nicht unterhaltlicher ausgestattet als die anderen Schulräume. Ich kannte den üblen Raum so gründlich, daß sogar meine Träume zuweilen ein einwandfreies Bild davon als dem Schauplatz höchst phantastischer Begebnisse entwarfen. An der Hinterwand hing eine Karte des römischen Forums, die ich schon deshalb nicht billigte, weil vermutlich an diesem topographisch dargestellten Ort der unselige Cato viele seiner unnützen Reden gehalten und für die Weltanschauung des Oberlehrers Doktor Melchior Mützel den festen Grund gelegt hatte. An der linken Wand war ein Riesenbild der schmerzvollen Laokoongruppe zu sehen, auf dem wunderlicherweise der sterbende Priester eine ihm von Frevlerhand verliehene blaue Brille trug; und eine Tafel an der rechten Wand belehrte uns durch Farbe und gestrichelte Grenzlinien über die Fauna Ostindiens. Man konnte sich da genau überzeugen, wo in den westlichen Wüsten die Gazelle herumspringt, wie weit der Löwe vordringt und der Schakal; dann wieder war im Gangesgebiet das Reich der Affen, Wildschweine und Zwergmoschustiere sauber eingezeichnet. Vorderindien aber erfreute in dieser tiergeographischen Darstellung durch seinen Reichtum an seltenen Giftschlangen. Ich verdanke es, nebenbei bemerkt, diesem Klassenzimmer, daß ich heute noch unter den Steinen des Forums und den Biestern Ostindiens besser Bescheid weiß als in meiner lieben Vaterstadt und unter den Tieren, die in Mitteleuropa die Landschaft beleben.
Auf dem Klassenschrank aber thronte ein Globus.
Ein ziemlich gewöhnlicher Erdglobus war's, sicher nicht aus der Homannschen Offizin in Nürnberg, aber für den Schulgebrauch eben durchaus genügend. Denn in seinem Gradnetz lagen, auf die fünf sauber angemalten Erdteile richtig verteilt, die wesentlichsten Städte und Gebirge der Erde; und das Meer zwischen den Kontinenten war so blau, wie man irgend verlangen konnte.
Da ich mich langweilte, stieg ich auf einen Stuhl und holte mir den Globus herunter. Ich nahm ihn behutsam aus dem Gestell, betrachtete ihn eine Weile, suchte mir, was mir gerade so einfiel: London, den Nil, Benares, Offenbach – das stand nicht darauf, aber ich fand dafür Frankfurt –, den Himalaja und den Amazonenstrom. Als ich gerade interessevoll den Südpol beaugenscheinigte, der von einer ganzen Reihe rätselhafter Fragezeichen umtanzt war, entglitt die glatte Kugel meinen Händen, sprang und rollte über das Pult.
Mit Schrecken sah ich, als ich sie wieder eingefangen, daß die Rocky Mountains zwischen dem siebenunddreißigsten und dreiundvierzigsten Breitengrad eine üble Beule bekommen hatten, und daß just an einer Stelle, wo das Felsengebirge seine stolzesten Gipfel reckt, ein Tal von beträchtlicher Tiefe entstanden war.
In diesem Augenblick hörte ich Schritte auf dem Korridor. Und in meinem ängstlichen Eifer, die beschädigte Kugel wieder in das Gestell einzuschrauben, entglitt sie mir zum zweiten Male und fiel so unglücklich auf die gußeiserne Banklehne, daß nun auch die Stadt Hamburg mit Umgebung zerstört wurde, und die Insel Helgoland versank in einer Schramme, die sich südwestlich über Norderney zog, Borkum berührte und erst kurz vor Amsterdam im Zuidersee verschwand.
Die Schritte verhallten. Es kam niemand herein.
Ich stellte den mit zitternden Händen wieder eingeschraubten, zwiefach verbeulten Globus auf den Schrank zurück. Wie eine Erlösung aus Leibes- und Lebensgefahr klang mir die schrille Schelle aus dem Schulhof.
Wie seltsam der Zufall spielt! . . . Am nächsten Tag war unser Lehrer für Geographie unpäßlich, und Oberlehrer Doktor Melchior Mützel gab uns aushilfsweise die Stunde.
Da seine Kenntnisse im Stromgebiet der Wolga, das uns zuletzt beschäftigt hatte, wohl nicht ganz so gründlich waren wie seine Wissenschaft über den älteren Cato, so gedachte er sich allgemeiner zu fassen.
»Böhnicke, nimm dort mal den Globus herunter! Aber – vorsichtig! Stelle dir vor, Böhnicke, du bist jetzt der Atlas, der Sohn der Okeanide Klymene, der die Welt auf den Schultern trägt!«
Die Klasse belachte pflichtschuldigst diesen bescheidenen Scherz.
Ich lachte nicht mit. Mir war nicht drum.
Was wird jetzt kommen, dachte ich, wenn man sieht, daß die Rocky Mountains . . . und daß Helgoland . . .
Böhnicke stand auf demselben Stuhl, auf den ich gestern gestiegen.
Es war ein kurzbeiniger, ungelenker Junge. Seine Mutter war nämlich durchaus keine Okeanide, sondern eine Witwe, die sich von einem kümmerlichen Papierlädchen gerade so ernährte. Und das Studium ihres Jungen knapste sich die verhutzelte dürre Frau, die nie jung gewesen zu sein schien und das Lachen nicht kannte, noch so am schmalen Munde ab.
Böhnicke war ohne jedes Talent zum Atlas. Er vergaß, daß der Stuhl, auf dem er stand, eine Lehne hatte, und so fiel er beim Absteigen hin.
Der Globus fiel aber zugleich dem Doktor Mützel auf die Füße.
»Gib doch acht, Böhnicke,« sagte Mützel, als das Unglück geschehen war. »Er wird hoffentlich keinen Schaden genommen haben, der Globus!«
Er hatte Schaden genommen. Die Rocky Mountains zwischen dem siebenunddreißigsten und dreiundvierzigsten Breitengrad hatten eine Beule. Helgoland war versunken. In einer Schramme, die sich südwestlich über Norderney zog, Borkum berührte und erst kurz vor Amsterdam im Zuidersee verschwand.
Oberlehrer Doktor Melchior Mützel schüttelte den Kopf. »Seltsam, ich hätte geschworen, der Globus hätte nur mit dem Südpol meine Füße berührt!«
Böhnicke heulte in tiefer Zerknirschung.
Als der Globus fiel, hatte in mir etwas frohlockt. So denke ich mir das Gefühl eines Schwerverbrechers, der seine Spur verwischt sieht.
Aber jetzt sah ich Böhnicke weinen. Böhnicke war ein guter Kerl und ließ mich oft die Mathematik abschreiben.
»Tja, Böhnicke, den Globus, der durch deine Unachtsamkeit bös zu Schaden gekommen ist, wirst du nun wohl der Schule ersetzen müssen . . .«
Böhnicke schluchzte auf.
Doktor Melchior Mützel aber setzte den beschädigten Globus stirnrunzelnd beiseite und erklärte das römische Forum, ohne der Stelle zu vergessen, von der aus Cato geredet hatte.
In der Pause sagte ich zu meinen Mitschülern: »Kinder, Böhnickes Mutter ist eine arme Frau. So ein Globus kostet mindestens zehn Mark. Wir wollen eine Sammlung machen!«
»Famos – famos!«
Die Hosen wurden nach Geldbeuteln durchwühlt. Einer gab zwanzig Pfennig, ein anderer vierundsiebzig, die beiden Ruttenbachs, Zwillinge eines Gummifabrikanten, je eine Mark fünfzig. Und ich selbst leerte einfach mein Portemonnaie aus. Darin war noch eine Mark und vierzehn.
Einer brachte mir, da er kein Taschengeld bekam, drei Briefmarken, eine grüne Uruguay und zwei Englische Kolonien. Für die gab unser Primus, der ein fanatischer Sammler war, achtzig Pfennig.
Die ganze Sammlung ergab zwölf Mark und achtzehn Pfennig.
Ich weigerte mich, den Betrag dem Böhnicke persönlich zu überreichen. Der Primus tat's – damit es nicht von den anderen Schülern gesehen werde – auf der Toilette. Und er erwähnte dabei, daß die Initiative von mir ausgegangen sei.
Am nächsten Tag in der Neposstunde sagte Doktor Melchior Mützel:
»Ich höre da von einer Sammlung. Tja – unser junger Freund Gustav hat sie angeregt. Ei, ei! Das verrät eine vornehme Gesinnung. Und eine vornehme Gesinnung – das wißt ihr alle aus eurem Cornelius Nepos – ist ebenso gut wie persönliche Tapferkeit, und ist mehr als vornehme Geburt! Deshalb sage ich, unser junger Freund Gustav präpariert zwar unzuverlässig und lernt seine Vokabeln schlecht. Und leider, leider findet er zu Cornelius Nepos kein rechtes Verhältnis. Das ist bedauerlich, denn dadurch entgehen ihm hohe geistige Freuden. Aber – aber er hat Seelenadel bewiesen, vornehme Gesinnung! Und deshalb« – er war ganz Cato, als er das sagte, Cato der Ältere, Cato der Allerälteste –, »deshalb erlasse ich ihm die Stunde Arrest, die er, soviel ich weiß, noch abzusitzen hätte.«
Ich sagte nichts. Wer weiß, wenn er nicht so unleidlich catonisch, so überwältigend altrömisch geredet hätte, ich wäre jetzt vorgetreten und hätte bekannt: »Ich habe gut vornehm gesinnt sein, denn ich . . .«
Aber ich schwieg und sah nur nach dem neuen Globus in der Ecke, auf dem Helgoland wieder drauf war und die Rocky Mountains kein Tal hatten, wo's nicht hingehört.
Am Jahresschluß waren meine Leistungen »befriedigend«. Aber ins Betragen hatte mir der Cato geschrieben:
»Im Anfang des Schuljahres schwankend – vom Juni an höchst lobenswert.«
Im Juni aber war mir der Globus vom Schrank gefallen.
Seit der Zeit hat mich die »vornehme Gesinnung« durch die Schule begleitet. Hat schützend, fördernd, rettend die Hand über meine Leistungen gehalten. Cato-Mützel hat die Geschichte überall herumerzählt. In seinem eindringlich lehrhaften Stil, der an Cornelius Nepos, dem Freunde des Cicero, gebildet war . . .
Viele Jahre später traf ich Böhnicke wieder, den ich seit dem Abgang von der Schule nicht mehr gesehen hatte. An der Ostsee, oder besser: auf der Ostsee.
Ich hatte dort ein paar angenehme Wochen verbracht und wollte in drei Tagen abreisen. Da stand er plötzlich neben mir, auf dem Landungssteg. Er war Kapitän eines kleinen Dampfers, der von Warnemünde nach Heiligendamm fährt und wieder nach Warnemünde und nach Rostock. Unter dem blonden Spitzbart und dem Wetterbraun der Haut war das Knabengesicht noch zu finden.
Ich beschloß, die alte Schuld loszuwerden, und lud ihn ins Kurhaus nach Heiligendamm für einen dienstfreien Nachmittag. Dann wollte ich ihm dort im Schatten der herrlichen Buchen die alte Geschichte mit dem Globus aufklären.
Als ich am sauber gedeckten Tisch saß – die Musik spielte den Brautmarsch aus dem »Lohengrin« und der halbe mecklenburgische Adel saß im Tenniskostüm an den Nachbartischen –, kam breitbeinig ein Matrose daher, fragte in seinem Platt herum, fand mich und brachte mir ein Briefchen.
»Vom Kapitän Böhnicke,« sagte die Blaujacke, grüßte und verschwand.
Böhnicke schrieb: »Alter Freund! Ich habe ganz plötzlich den Dienst für einen erkrankten Kollegen übernehmen müssen. Kann leider nicht kommen. Zu schade! Hätte gern mal mit Dir ein Männerwort geredet. Ich habe Dich nie vergessen und die vornehme Gesinnung, die Du schon als Junge hattest. Ich habe die Geschichte mit dem Globus oft erzählt, wie Du für mich armen Teufel die Sammlung einleitetest und selbst Dein ganzes Taschengeld hergabst, damit ich für die aus Unvorsichtigkeit zerbrochene Erdkugel der Schule eine neue kaufen könnte . . .«
Da war sie wieder, die »vornehme Gesinnung«! Ich wollte sie loswerden. Es ging nicht! . . .
Am Tag der Abreise beim letzten Bad, das mich noch zum Abschied erquicken sollte, verlor ich den Unglücksbrief irgendwie aus der Tasche. Ein Berliner, der mit mir im selben Hotel wohnte, hatte ihn gefunden und brachte ihn mir.
Ich zerriß ihn sofort, da ich keine Autographen von Ostseekapitänen sammle und auch befürchtete, es könne jemand die dumme Geschichte von meiner vornehmen Gesinnung lesen.
Diese Vorsichtsmaßregel aber kam zu spät. Der Herr aus Berlin hatte den Brief bereits gelesen. Machte auch gar kein Hehl daraus.
Als ich verspätet – denn ich hatte meine Koffer gepackt, die, wie immer, nicht zugingen – zu Tisch kam, standen Blumen vor meinem Kuvert. Auch Sekt war angefahren.
Der Herr aus Berlin hielt eine Rede auf mich. Er bedauerte, daß ich abreiste; bedauerte das um so mehr, als er – der ganze Saal hörte zu – jetzt erst erfahren habe – durch einen Zufall, nicht von mir –, eine wie vornehme Gesinnung ich besitze.
Und er erzählte, während die Lendenschnitte kalt wurden, die Geschichte vom Globus.
Eine Geschichte, die er aus einem gefundenen Brief gelesen hatte, und die gar nicht richtig war.
Ich wollte protestieren. Aber man ließ nichts gelten und brachte mir drei Hurras. Die Blumen, sagte der Wirt, seien von seiner Schwiegermutter, die ihm die Bücher führe. Der habe der Herr aus Berlin schon vorhin im Bureau die Geschichte vom Globus und meiner vornehmen Gesinnung erzählt. Außerdem machte er mich darauf aufmerksam, daß ich sofort aufbrechen müsse, wenn ich den Zug noch erreichen wolle.
Als ich acht Tage später meine Praxis in Berlin wieder aufnahm, war der zweite oder dritte, der im Wartezimmer aufstand und in mein Sprechzimmer kam, ein alter Patient von mir, ein Kaufmann aus dem Bayerischen Viertel. Krank sei er diesmal nicht, sagte er, auch seiner Familie gehe es leidlich wohl. Aber er käme, um meine Liquidation zu begleichen. Gewiß, er gebe zu, ich sei häufig in sein Haus gerufen worden – als das Annachen die Mandelentzündung hatte, die Gott sei Dank keine Diphtherie war, und als das Peterchen den Hosenknopf geschluckt hatte, und als die Köchin irrtümlich in die kochende Milch gegriffen. Aber es seien so schlechte Zeiten. Der Hauswirt habe ihn gesteigert, und ein Umzug sei gar zu teuer. Und ich hätte – er wisse das – so eine vornehme Gesinnung . . .
Woher er das wisse? Ich glaube, ich habe die Frage fast unhöflich gestellt.
Er habe einen Brief bekommen von einem Vetter seiner Frau, der an der Ostsee seine Ferien verbracht. Darin habe gestanden: »Euer Hausarzt hat auch in unserm Hotel gewohnt. Wir haben ihn sehr gefeiert, als er abreiste. Er ist aber auch ein Mann mit einer wahrhaft vornehmen Gesinnung. Schon als Junge hat er – wie wir hier erfuhren – einen Globus . . .«
Sie verfolgt mich seitdem, die Geschichte. Es war vielleicht dumm, daß ich dem Patienten aus dem Bayerischen Viertel, um ihn loszuwerden, die Hälfte seiner Schuld erließ. Die andere Hälfte hat er mir auch noch nicht bezahlt; aber er erzählt dafür die Geschichte vom Globus überall herum. Der Mann hat einen Zigarrenladen, und drei Viertel meiner Patienten kaufen bei ihm.
Was soll ich machen? Den Leuten das Rauchen verbieten?
Wie singt Heine? »Ich unglücksel'ger Atlas! Eine Welt – die ganze Welt der Schmerzen, muß ich tragen . . .« Ich werd ihn nicht los, den Globus. Und die vornehme Gesinnung, die daran klebt, auch nicht.
Proteste nützen nichts mehr. Für dieses Leben hab' ich mich damit abgefunden.
Wenn sie mir's nur nicht noch aufs Grab bescheinigen. Mit einem Marmorglobus darüber, der auf den Rocky Mountains 'ne Beule hat und über Helgoland 'ne Schramme bis in den Zuidersee.
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