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Der Rentier Borromäus Jädecke legte eines Tages, als er gerade dabei war, einen Kalbsnierenbraten zu tranchieren, das große Messer auf die Seite, faltete die Hände über den geräumigen Bauch und äußerte: »Mir ist nicht gut.« Dazu schloß er die Augen.
Seine tüchtige Gattin Ernestine, geborene Kumms, die das »nicht gut« auf den Kalbsnierenbraten bezog, entgegnete spitz, daß sie nicht in dem Kalb drin stecke, daß ferner kein Verlaß mehr auf die modernen Köchinnen sei, die des Sonntags große Hüte trügen und des Werktags nichts kochen könnten; und daß überdies die Auguste eine Zahnwurzelhautentzündung habe, die sie sehr schmerze, aber leider nicht bewegen könne, einen Zahnarzt aufzusuchen.
Auf alle diese Mitteilungen reagierte der Rentier Borromäus Jädecke nicht. Er schien sogar gar nicht zuzuhören. Sein Haupt war tief auf die sich bauschende Hemdbrust herabgesunken. Der silberdurchzogene Vollbart stellte sich um das blasse Doppelkinn wie eine wunderlich struppige Halskrause. Die Augen blieben geschlossen.
In diesem Augenblick schob Fridolin Jädecke, der fünfzehnjährige Sohn des Ehepaares und die einzige Frucht ihrer ehelichen Liebe, mit dem Handrücken das Weißbrot beiseite, aus dem seine Finger sinnvolle Figürchen geknetet hatten, und sagte ganz leise:
»Mutter, sieh doch – Vater wird doch nicht . . .?«
Die Uhr schlug gerade zwei.
Fridolin erinnerte sich später stets dieses Umstandes, wenn er vom Tode seines Vaters erzählte. Er nannte diesen Tod einen schönen; fügte aber allemal hinzu, daß ihm die Erinnerung edler erschiene, wenn der vortreffliche Mann wie Sophokles – er glaube, es sei Sophokles gewesen – an einer Weinbeere oder wie der große Plato am Schreibtisch gestorben sei. Ein Kalbsnierenbraten sei immer eine lächerliche Sache, obschon er nicht anzugeben wisse, warum. Und schließlich: sein Vater habe sich das Menü für seinen so plötzlichen und schmerzlosen Abschied von der Welt nicht persönlich ausgesucht.
Vor Ernestine, die vor sechzehn Jahren diesen braven Garnfabrikanten geheiratet hatte, um einen österreichischen Oberleutnant zu vergessen, türmten sich die Sorgen. Und sie bemühte sich, das durch die Länge ihrer Kreppschleier zum Ausdruck zu bringen.
Das letzte Porträt des guten Borromäus stand stets unter frischen Blumen auf ihrem Schreibtisch, und sie hielt oft heimlich Zwiesprache mit ihm. Um Nahrung, Kleidung und Wohnung brauchte der Zurückgebliebenen ja nicht bange zu sein. Aber wie würde sie den Sohn erziehen? Wie würde sie ihn durch die starrenden Klippen des humanistischen Gymnasiums lancieren?
Auf Fridolins verstellbarem Patentpult, an dem er seine Schulaufgaben erledigte, wenn er nicht gerade mit einem kleinen Netz im Aquarium zwischen den Schlingpflanzen herumfuhr oder in seiner Käfersammlung die abgefallenen winzigen Insektenbeine mit der Pinzette vom Korkboden der Kästen pickte, lagen immer Bücher aufgeschlagen, Bücher, die mit ihren unlesbaren griechischen Buchstaben, mit ihren rätselhaften mathematischen Zeichen die forschende Mutter in die höchste Unruhe versetzten.
Eines Tages aber las sie in einem dieser schrecklichen Bücher unter der Überschrift »Moduslehre«, die ihr wenig sagte, den anregenden Satz: »Modi nennt man diejenigen Formen des Verbums, durch welche das Verhältnis der ausgesagten Tätigkeit zur Wirklichkeit bestimmt wird.«
Durch eine kühne Gedankenverbindung dachte sie alsbald – ohne sich weiter um die vier Modi zu kümmern, die im nachfolgenden der griechischen Sprache nachgesagt wurden – über den Modus im Leben ihres Sohnes nach und kam zu der beängstigenden Gewißheit, daß hier das »Verhältnis der ausgesagten Tätigkeit« mit der »Wirklichkeit« durchaus nicht übereinstimmen wollte. Denn nach seinen Bekundungen war Fridolin fleißig bis zur Erschöpfung; zu dieser ausgesagten fieberhaften Tätigkeit aber stand die Wirklichkeit der heimgebrachten Zensuren in einem schroffen und unerklärlichen Gegensatz.
Auch die reichlich gelegten Patiencen gaben leider widerspruchsvolle Orakel.
Einige mütterliche Zweckbesuche, für die das trostlose Witwentum durch einen besonders langen Kreppschleier betont wurde, brachten keine rechte Klarheit.
Der Ordinarius äußerte sich in langen Sätzen, die durch das ewig wiederkehrende »Einesteils-andernteils« auf das Gehirn der an solche Konstruktionen nicht gewöhnten Mutter eine lähmende Wirkung übten.
Der Mathematiklehrer verwechselte Fridolin mit einem nicht unbegabten, aber unbotmäßigen Zögling namens Ignaz Cohn (der aber dennoch die evangelische Religionsstunde mit genoß), ein Irrtum, der sich erst herausstellte, als Frau Ernestine ziemlich verwirrt schon wieder im Türrahmen stand.
Und der Herr Direktor äußerte sich nicht ohne Wohlwollen dahin: es gebe nach seiner eignen Erfahrung viererlei Arten von Schülern: a) solche, die könnten und nicht wollten, b) solche, die wollten und nicht könnten, c) solche, die nicht wollten und nicht könnten, d) solche, von denen es ungewiß bliebe, ob sie nicht wollten oder ob sie nicht könnten. Er persönlich neige zu der Ansicht, daß Fridolin der Gruppe d zuzuteilen sei; doch bleibe immerhin die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß er auch zu einer der andern Gruppen gehöre. Wie denn überhaupt erst das Abiturium einen wahren Einblick in den Wissensvorrat und die Wesensart des Schülers gestatte.
Um diese Erkenntnis von der Nützlichkeit des Abituriums reicher, über die Zukunft des Sohnes aber unaufgeklärt, verließ Ernestine Jädecke, geborene Kumms, das durch die Fülle seiner Bücherschränke imponierende Studiergemach des Direktors, das Herz voll heißer Sorge und den Kreppschleier voll kalten Pfeifenrauchs.
Kurze Zeit nach diesen denkwürdigen Besuchen ließ sie Fridolin vom Hausarzt untersuchen.
Dieser Gelehrte, der sich bereits durch langes Leben den Titel Geheimer Sanitätsrat zugezogen hatte, klopfte, während die Mutter in ängstlicher Spannung hinter einer spanischen Wand ihre Finger in das noch warme Unterwämschen des Sohnes krampfte, eine halbe Stunde lang schweigend an dem hageren nackten Körper ihres Sohnes herum. Mit verhaltenem Atem behorchte er mittels eines langen dünnen Röhrchens Körperteile, in deren Innerem ein Laie niemals orientierende Geräusche vermutet hätte. Dann ging er mit der Mutter in die gute Stube, setzte sich in einen grünen Plüschsessel und stellte die Diagnose.
»Der Junge ist rasch gewachsen, aber gut gebaut. Herz und Nieren sind in Ordnung. Aber – hm – ja, aber im rechten Lungenflügel scheint eine kleine, unbedeutende Dämpfung vorhanden zu sein.«
Als der Geheime Sanitätsrat diese Diagnose stellte, vergaß er leider, daß er am Tage zuvor, von der Hundstagshitze verlockt, ein Flußbad genommen hatte. Bei welcher Gelegenheit ihm etwas Wasser ins Ohr gekommen war, das seine akustischen Wahrnehmungen noch immer ein wenig beeinflußte.
Eine Dämpfung –! In der Lunge . . .
Er hätte Ernestine ebensogut sagen können, in zwanzig Minuten werde ihr Junge guillotiniert und eine Begnadigung durch den Landesfürsten sei nicht zu erhoffen.
Sie las tränenden Auges im Konversationslexikon nach, daß die Lunge das Atmungsorgan der Wirbeltiere – mit Ausnahme der Fische – und des Menschen sei, daß dieses notwendige Organ die Form eines durchgeschnittenen Kegels aufweise, schwammig-elastisch sei und unter dem Fingerdruck knistere. Dieses schreckliche »Knistern«, von dem sie nie zuvor gehört hatte, verfolgte sie in ihre Träume. Und wenn sie jetzt ihren Sohn anfaßte, ihm die Hand gab, ihm das Haar streichelte, glaubte sie seine Lunge »knistern« zu hören. Über Lungenabszesse, Lungenbrand, Lungenerweiterung unterrichtete sie sich mit schreckhaftem Eifer; und ihr armer Kopf hatte in seinem ganzen Leben noch nicht so viele unaussprechbare Fremdwörter von dunklem Sinn hin und her geworfen als in diesen qualvollen Wochen, in denen der Band XI des Konversationslexikons: »Lederindustrie bis Lina Morgenstern«, ihr jede von Haushaltungssorgen freie Minute ausfüllte.
Aus der »kleinen, unbedeutenden« Dämpfung wurde in ihrer Phantasie rasch eine »große, gefährliche« Dämpfung. Sie sah die rechte Lunge schon zerstört. Und eines Tages hatte ihr Kummer den düsteren Ausdruck gefunden: »Fridolin hat nur eine Lunge.«
Fridolin selbst merkte davon nichts.
Die Tränen, die seine Mutter immerzu vergoß, wenn er in ihren Gesichtskreis trat, brachte er in Verbindung mit seinen unerquicklichen Zensuren und einigen Rechnungen für Fensterscheiben in der Nachbarschaft, denen verirrte Kugeln seines Blasrohres gefährlich geworden waren. Und die angstvolle Fürsorge, mit der die brave Frau ihn umgab, mit der sie die Temperaturen in seinem Arbeitsraum regelte, seine Kleidung jeder Witterungsschwankung anpaßte und mit Milch, Fleischextrakt und Lebertran sein erstaunliches Wachstum unterstützte, schien ihm in Anbetracht seiner wertvollen menschlichen Qualitäten durchaus erklärlich.
Verwunderlicher kam es ihm schon vor, daß auch die Lehrer nach abermaligen Zweckbesuchen seiner Mutter ihn mit einer gewissen zarten Sorgfalt behandelten. Der Ordinarius setzte ihn vom Fenster, der Mathematiklehrer wieder vom Ofen weg; und als er sich in der Homerstunde an einem Lakritzbonbon verschluckt hatte, stieg der Professor Böckelmann persönlich vom Katheder, klopfte ihm mit onkelhafter Vorsicht den Rücken und bat ihn, eine halbe Stunde im Schulhof in der Sonne langsam auf und ab zu gehen. Eine Ermahnung, der Fridolin um so lieber und eilfertiger nachkam, als er nicht präpariert hatte.
Der Turnlehrer aber, ein etwas robuster Herr, der wenig nachdachte, seine bescheidenen Denkresultate aber stets laut und ungeschminkt zum besten gab, verschaffte ihm eines Tages den Schlüssel zu dieser befremdlichen Ausnahmestellung. Als nämlich Hochsprung mit Stange geübt wurde, ordnete dieser ganz in einen kakaofarbenen Trikotstoff gehüllte muskelstrotzende Mann in einem väterlichen Tone an:
»Der Fridolin Jädecke braucht nicht mitzuspringen, insofern, als daß er nur eine Lunge hat.«
Nun wußte er's. Insofern, als daß er nur eine Lunge hatte!
Daher also kamen alle die Freundlichkeiten, die er genoß! Er hatte nur eine Lunge; was ein populärer Ausdruck für eine halbe Lunge sein mußte.
Er fühlte zunächst nur das Interessante des Falles und kam sich vor, als ob ihm jemand gesagt hätte, es sei nun erwiesen, daß er direkt von Karl dem Großen abstamme, oder in der Stunde seiner Geburt sei ein leuchtender Meteorstein durchs Fenster in die gute Stube auf den grünen Plüschsessel geflogen.
Am Abend dieses Tages, an dem die denkwürdige Turnstunde stattgefunden hatte, sagte er zu seiner Mutter, während er sich Kartoffelsalat zu dem kalten Hühnchen nahm:
»Ich habe also nur eine Lunge!«
Er sagte das ruhig, kühl und bloß feststellend, wie ein anderer etwa gesagt hätte: ich werde mir einen Strohhut kaufen, oder: ich muß meine Kneiferschnur erneuern.
Die Mutter fiel fast vom Stuhl, auf dem sie in ihrer Schreckhaftigkeit überhaupt nie fest saß. Sie wollte antworten, brach aber bloß in einen Strom von heißen Tränen aus.
Fridolin bat sie, sich zu beruhigen, und lobte, daß der Salat noch selten so wohlschmeckend gewesen sei.
Er fühlte sich von nun an in einer Heldenrolle.
Da er nicht die geringste Unbequemlichkeit von seinem angeblichen schweren Leiden spürte, so gab ihm sein Zustand nur Gelegenheit zu schönen Redewendungen, in denen er stoische Philosophie zum Ausdruck zu bringen sich mühte. Er sprach lächelnd von »dieser schönen Welt«, die er allen guten Menschen gönnte, im Ton eines weisen Mannes, der schon heimlich auf die Uhr sieht, wann sein Zug geht. Er ließ die mütterliche Fürsorge ohne Widerspruch walten, aß Taubensüppchen, trank zur glacierten Kalbsmilch ein Glas alten Bordeaux, fuhr an sehr heißen und sehr kalten Tagen in der Droschke zur Schule und machte erfrischende Waldspaziergänge, wenn in seiner Klasse Extemporalien geschrieben wurden.
Zuweilen nahm er auch mit nachsichtigem Lächeln ein Fieberthermometer unter die Achsel, das ihm die zitternden Hände seiner Mutter reichten und das in all der Zeit nur ein einziges Mal über 37,5 Celsius anzeigte. Und dieses war, als sich Fridolin an seinem Geburtstag an Hummermayonnaise übernommen hatte.
Allen diesen eher erfreulichen als anstrengenden Übungen unterzog er sich mit der lächelnden Miene und liebenswürdigen Geste eines gütigen Jünglings, der, eigene Unbequemlichkeiten tapfer niederkämpfend, seiner geliebten Umgebung noch eine letzte Freude machen will. Und hin und wieder floß in seine Rede eine Anspielung auf die heimlich gehegte Hoffnung, daß er bei all seinen menschlichen Fehlern, die er weder leugne noch verkenne, seinen Nächsten ein ungetrübtes Erinnerungsbild zurücklassen werde . . .
Der Geheime Sanitätsrat, der auf dem grünen Plüschsessel in der guten Stube das schreckensvolle Wort von der »Dämpfung« gesprochen hatte, war nach einer heftigen Mittelohrentzündung gestorben. Auf seinem Grab stand eine Marmorurne, um die sich eine Schlange ringelte, die mit aufgesperrtem Rachen eine lange lateinische Inschrift fressen zu wollen schien; vielleicht weil sich ein grammatischer Fehler in diesen sinnreichen Spruch eingeschlichen hatte.
Sein Nachfolger war ein angenehmer, dicker junger Mann mit einem von Mensuren frikassierten Gesicht und einem kurzen, zuversichtlichen Lachen, das ihn zum Liebling lebenshungriger Patienten in wohlsituierten Kreisen machte. Dieser Doktor Egon Bänder hatte auch Fridolin untersucht und behorcht, bis ihm vor Anstrengung die Schmisse wie Frühstückswürstchen angeschwollen waren. Dann hatte er mit fröhlichem Lachen erklärt, er finde nichts an der Lunge; aber, lieber Gott, eine gute Ernährung, Waldspaziergänge und gelegentlich ein Aufenthalt im Süden werde dieser Konstitution, wie jeder anderen, besser bekommen als die ewige Berechnung von Kegelschnitten und die Präparation von Tacitus' Annalen. Und da die verehrte Frau Jädecke so gestellt sei, so . . .
Fridolin lächelte sein mildes, verzeihendes Lächeln. Er fühlte sich wohl in dieser Stimmung eines ewigen zu frühen Abschiednehmens, und wenn ihm einer vor aller Augen und jeden Einwand besiegend seinen zweiten Lungenflügel wieder eingesetzt hätte, er hätte solchen Eingriff als eine empörende Störung seines seelischen Gleichgewichts empfunden.
Er fühlte sich mit seinen achtzehn Jahren durchaus in der Abendsonne; und die Melancholie, die alle seine Unternehmungen, Gedanken und Aussprüche in violette Tinten zu tauchen schien, tat dem Auge seiner Seele unendlich wohl. Mit der Miene des greisen Stoikers, der sich nicht täuschen läßt über sich und seinen Zustand, zerlegte er weiter das bekömmliche weiße Fleisch gutgebratener Poularden, trank er weiter in gemessenen Zügen seinen dunkelroten Wein, bestieg er weiter, wenn das Wetter ungünstige Wendung zu nehmen schien, die Droschken seiner Vaterstadt.
Und dies alles tat er mit einem warmen Blick der Liebe auf seine Mutter, der zu sagen schien: »Für dich will ich mich schonen!«
Dabei war er auch gegen andere von einer verzeihenden Milde, die das Mutterherz tief rührte.
Ernestine hatte sich mit der Tante Karoline, der Stiefschwester ihres Gatten, überworfen, weil diese robuste Dame, die bereits zwei Männer hatte begraben und einen dritten in Gotha hatte verbrennen lassen, die Ansicht vertrat, der Geheime Sanitätsrat sei ein alter Schafskopf gewesen, und Fridolins Lunge sei gesund wie ihr Herz und wie der Kehlkopf ihres Harzer Rollers, der zur Verzweiflung der Anwohner auf dem Balkon der Tante von morgens bis abends sein etwas grelles Lied schmetterte. Fridolin aber hatte die Tante in sanfter Rede verteidigt und das schöne Wort gesprochen: der Himmel möge ihr die Kraft ihrer siebenundfünfzig Jahre erhalten, in der allein das Unverständnis für fremde Bresthaftigkeit und die Ablehnung unabwendbarer Gefahren liege. Für den Fall seines Todes aber hatte er auf besonderem Blatte angeordnet, daß die Tante ein in Leder gebundenes Exemplar seiner rhythmischen Horazübersetzungen erhalten sollte, die er die Mutter als Privatdruck herauszugeben und an Hand einer häufig von ihm vervollständigten Liste an die Freunde als »letzten Gruß eines Frühgeschiedenen« zu verteilen bat.
Fridolin hatte sich hübsch entwickelt. Er war ein schlanker Junge geworden mit leichten, mühelosen Bewegungen, mit roten Backen und guten Muskeln, dem das gewellte kastanienbraune Haar und der goldig schimmernde Anflug von Schnurrbart auf der vollen Oberlippe gut stand. Die gesunden weißen Zähne lugten ein wenig vor und schienen Eisen knacken zu können. Von allen Kinderkrankheiten war er verschont geblieben; und wenn nicht die besorgte Mutter mit leiser Stimme die Geschichte von der Lungendämpfung erzählt hätte (eine Erzählung, die übrigens keinem erspart blieb, der Ernestine Jädecke, geborene Kumms, länger als eine Viertelstunde zu sprechen den Vorzug hatte), der hätte geschworen, einen kerngesunden jungen Burschen vor sich zu haben.
Zuweilen hegte die Mutter selbst einen frohen Zweifel an des alten Geheimrats trauriger Diagnose. Dann aber lächelte Fridolin nur sein melancholisches Lächeln des Wissenden, in dem es wie ein gütiger Verzicht und heimlicher Abschied lag, sprach eines jener mitleidsvollen verschleierten Worte, aus dem leise und ohne Bitterkeit die Überzeugung naher Schicksalserfüllung klang; und Ernestine nahm wieder einmal seufzend den Baedeker vor, um einen Ort auszusuchen, dessen geschützte Lage und gesundes Klima dem geheimnisvollen Zustand ihres Lieblings in den Ferien zuträglich sein konnte.
Wenn es für die vortreffliche Frau noch eines Beweises bedurft hätte für den Ernst, mit dem Fridolin sein durch die Unauffälligkeit doppelt tückisches Leiden betrachtete, so war dieser Beweis erbracht durch die vornehm duldende, sich selbst überwindende Art, mit der ihr Sohn der Allbesiegerin einer gesunden, kraftvollen Jugend begegnete: der Liebe.
Sie hieß Thekla.
Ihr Bruder Konrad ging mit Fridolin in dieselbe Klasse. Als Fridolin sie kennenlernte, trug sie eine Defreggerfrisur und schwärmte für Mademoiselle Boulanger, eine sommersprossige Genferin, die im Institut Voltaires »Zaire« mit ihren Schülerinnen las, für Obsttörtchen und für Körners Gedichte.
Fridolin machte sie mit dem »Mirza Schaffy« bekannt. Und als er im Stadtgarten Scheffels »Trompeter« mit ihr besprach, küßte er sie zum erstenmal hinter einem Rhododendron.
Da es ein Gärtnerbursche gesehen hatte, der an den Marschall-Niel-Rosen die Läuse mit Nikotin abspritzte, schwebten sie beide mehrere Tage in großer Angst. In Konrads Ovidexemplar wanderten Briefchen hin und her, die tiefe Zerknirschung atmeten.
Aber der Gärtnerbursche war diskret und sah offenbar in der Vertilgung der Blattläuse eine würdigere Lebensaufgabe als in der Vernichtung eines jungen Menschenglücks.
So folgten jenem köstlichen Spaziergang um die Rhododendren einige Ausflüge in die Umgebung, bei denen Theklas Bruder Konrad zwei Schwestern Kleemüller zu unterhalten hatte, außerordentlich frischgewaschene blonde Mädels, die durch ein entzückend zweistimmiges Lachen aller Herzen eroberten, wenn sie zusammen erschienen, und die, einzeln genossen, schweigsam, bedrückt und sehr töricht waren. Da Konrads Herz heftig zwischen diesen beiden Schwestern schwankte und die lieben Mädchen gewohnt waren, all die kleinen Huldigungen Hand in Hand gehend und, zweistimmig lachend, gemeinsam zu genießen, so blieb für die stets listig im Hintertreffen wandelnden Thekla und Fridolin reichlich Zeit und Gelegenheit zu seelischer Annäherung.
Bei Besichtigung eines Kuhstalls in Neu-Strettenau kam es hinter dem Schlafverschlag des Schweizers zu einem zweiten Kuß; und auf dem Söller der Ruine Dachsfels hinter dem Rücken des mit vielen schmierigen Verdienstbändern gezierten Wächters, der gewissenhaft das Fernrohr putzte, zu einem dritten.
Fridolin besaß bereits ein Zopfband, einen Zwirnhandschuh und eine lila gefärbte Hühnerfeder, welche Dinge sämtlich zu Theklas Erscheinung gehört hatten. Und in Theklas verschließbarem Nähkästchen ruhten unter dem koketten Bilde der Mademoiselle, dessen Entstehungszeit – wenn sie überhaupt die Dargestellte war – viele Jahre zurückliegen mußte, zwei welke Veilchensträußchen, eine lateinische Ode in sapphischen Strophen und ein deutsches Gedicht, in dem in Fridolins unverkennbar steiler Handschrift sehr kühn der isländische Vulkan Hekla auf Thekla gereimt war; ein Reim, dessen unbestreitbare Originalität durch den sonstigen Inhalt der poetischen Huldigung nicht überboten werden konnte.
Bei aller Verliebtheit hatte Thekla, wie das bei Mädchen mit Defreggerfrisuren häufig beobachtet wird, den Sinn für die Realität des Lebens nicht verloren. Auf einem Sonntagsausflug nach dem Birtzelsee, während Konrad die frischgewaschenen Schwestern Kleemüller ruderte, bis er Blasen an den Händen hatte, traf es sich, daß Fridolin und Thekla, dem Sport der anderen vom Ufer neidlos im Fichtenschatten zuschauend, auf die Ehe zu reden kamen.
Fridolin erklärte diese Institution für den »idealen Menschheitszweck«; und Thekla fand in ihrem Herzen Gründe, dem beizupflichten.
Ohne die Gedankenbrücke ahnen zu lassen, die ihre Ideen knüpfte, fragte das Mädchen, während es mit der Schirmspitze kleine braune Rindenstückchen in den moosigen Waldboden eingrub, was er eigentlich zu studieren gedenke und wann dieses Studium beendet sei.
Da trat in Fridolins Auge jener merkwürdige unbestimmbare Ausdruck, der immer das Blau seiner Sehwerkzeuge umflorte, wenn er an seinen Zustand dachte oder an etwas, das damit nahe zusammenhing: an glacierte Kalbsmilch, Droschken, alten Rotwein und Rivierahotels. Und er sprach wie zu sich selbst, nicht ohne die leise Freudigkeit, die ein großer Verzicht auf die Erfüllung des Menschheitszweckes edeln Herzen leiht:
»Es ist wohl gleichgültig, was ich studiere, da mein Studium doch nie zu Ende geführt wird.«
Und seine Fingernägel betrachtend, als ob alsbald Maiglöckchen daraus wachsen müßten, äußerte er noch:
»Mit mir erlischt das Geschlecht Jädecke. Selbst wenn ich das durch Staat und Gewohnheit festgesetzte Alter und die bürgerliche Möglichkeit zur Ehe noch knapp erreichte – ich bin zum Verzicht geboren.«
Theklas Schirmspitze ruhte. Der kleine rote Mund des Mädchens öffnete sich gerade so weit, daß man eine Kirsche hätte hineinschieben können, und mit tiefem, lähmendem Erstaunen dachte sie an das Rhododendron, den Ovid und den Gärtnerburschen, an den Neu-Strettenauer Kuhstall, an die Dachsfelsruine und an den Wächter, der das Teleskop putzte. Ein großes Mitleid mit sich selbst, das ehrlichste, das Menschen empfinden, stieg in ihr auf und füllte ihre Augen mit Tränen. Die Defreggerfrisur drückte sie plötzlich wie eine Märtyrerkrone.
Fridolin aber, der unbeweglich vor sich hin sah, sprach das merkwürdige Wort:
»Ich darf nicht vergessen, daß jeden Augenblick der Kalbsnierenbraten aufgetragen werden kann.«
Da Thekla die tragische Geschichte vom Tode des alten Borromäus Jädecke nicht kannte, mithin die symbolische Beziehung zwischen Fridolin und diesem Braten nicht würdigen konnte und persönlich Kalbsnierenbraten nicht gern aß, so erschien ihr dieser Ausspruch des Freundes als eine geistige Verwirrung. Sie war dem Bruder Konrad dankbar, daß er eben hochrot von Sport und Verlegenheit angekeucht kam, um Fridolin um fünfzehn Pfennige zu bitten, die zur Begleichung der Forderung des Bootsverleihers an seinem Taschengeld fehlten.
Fridolin reichte ihm die zwei Nickelstücke mit jenem verlorenen Lächeln, das seine Freundschaftsbeweise zu letzten Abschiedshandlungen stempelte; und die Schwestern Kleemüller, die der argwöhnische Bootsmann nicht hatte an Land steigen lassen, ehe seine Forderung voll befriedigt war, konnten mit ihrem zweistimmigen Lachen die »Schwalbe« verlassen.
Auf dem Heimweg schien der Mond. Die Schwestern Kleemüller sangen zweistimmige Lieder. Konrad, der ihre naßgewordenen Mäntel trug, war glücklich.
Thekla kämpfte mit Tränen. Und Fridolin verbreitete sich darüber, daß der Mond, der keine Eigenwärme und keine Leuchtkraft besitze und auf die Gnade der Sonne angewiesen bleibe, so recht das Gestirn des Entsagenden sei.
Er fand diese Mondgedanken so schön, daß er sie zu Hause in Rhythmen brachte und aufschrieb. Es war Mitternacht und der Mondschein längst einem Platzregen gewichen, als er diesen fünf Gedichten einer schmerzlichen Entsagung die Überschrift gab: »An Thekla.«
Als er das Manuskript, das er einzuschließen vergessen hatte, am anderen Tage nach überstandenem Schulunterricht wieder vorfand, waren einige Stellen verwischt wie von dicken Wassertropfen. Er kannte diese Tropfen; es waren Tränen aus den Mutteraugen der Frau Ernestine Jädecke, geborenen Kumms.
Thekla nahm zwar noch eine Abschrift der »Mondgedanken« in Empfang, aber sie behandelte Fridolin jetzt mit merklicher Kühle und nahm die Huldigungen des jungen Joseph Binzer freundlicher auf, der zwar aus Abneigung gegen die ionische Formenlehre und die analytische Geometrie schon mit dem »Einjährigen« das Gymnasium verlassen hatte und augenblicklich in gebranntem und ungebranntem Javakaffee die Dörfer bereiste, der aber von etwas törichter Gesundheit strotzte und Aussicht hatte, bald in das Geschäft seines Vaters übernommen zu werden.
Die Wahrnehmungen dieser Beziehungen gaben Fridolin Veranlassung, einen Zyklus in Trochäen zu schreiben: »Die Treulose«, mit dessen grausigem Inhalt verglichen Bürgers »Lenore« ein munteres Liedchen genannt werden müßte. In seinem zum siebenten Male ins reine geschriebenen letzten Willen aber machte er das Vermächtnis seines goldenen Füllfederhalters an Thekla rückgängig.
Freundliche Rücksicht der Herren Prüfenden erleichterten Fridolin das Abitur. Er wurde, obschon seine Arbeiten nicht allzu glänzend waren, vom Mündlichen dispensiert, in dem er zweifellos hereingefallen wäre.
Seine Mutter schenkte ihm einen Rubinring und legte den Kreppschleier ab.
»Überarbeite dich nicht,« ermahnte sie den ausziehenden Studenten, »nimm dir Zeit!«
Und er versprach das, nicht ohne leise anzudeuten, daß vielleicht gerade er sich recht sehr zu beeilen gute Gründe habe. Immerhin, da es die gute Mutter wünsche . . .
Seine erste Freiburger Zeit beherrschte noch die Erinnerung an Thekla. Und in seinem Kollegheft der Pandekten fanden sich zwischen Hinweisen auf Windscheid und Dernburg allerlei kurzzeilige Eintragungen, die mit der »Litera Pisana« nicht das geringste zu tun hatten.
Dann aber trat Klärchen in sein Leben, und der Kollegienbesuch erlitt dadurch Unterbrechungen, die das Führen von Heften für längere Zeit überhaupt erübrigten.
Klärchen betrieb in der Rheinstraße ziemlich selbständig ein Papiergeschäft. Denn die halbtaube Mutter, die immer frierend und in einen alten Türkenschal gewickelt in einem Winkel Strümpfe strickte und nur zuweilen, ohne aufzublicken oder sich für die Antwort zu interessieren, nach vorn rief, wieviel Uhr es sei, kam nicht in Betracht.
Klärchen war nicht ganz so jung mehr, wie sie im Halbdunkel des sauberen Lädchens aussah, aber die angenehme Fülle ihrer Figur, das anmutige Oval ihres frischen Gesichts und die flinke Art, mit der sie, die lustig rauschenden Röckchen werfend, die Leiter erstieg, um die gewünschten Schreibwaren zu holen, die alle merkwürdig hoch in den Schränken aufbewahrt wurden, verfehlte auf jüngere Semester ihren Eindruck nicht.
Es hieß, sie habe vor zwei, drei Jahren einen kleinen Roman mit einem steinreichen Australier, der hier vergeblich Medizin studierte, erlebt. Aber sie selbst sprach so unbefangen von dem längst Heimgekehrten, daß niemand Böses dabei denken konnte.
Klärchen hatte ein fabelhaftes Gedächtnis für alles, was mit ihren Kunden zusammenhing. Sie war auch, ohne daß man je eine neugierige oder unbescheidene Frage von ihr gehört hätte, erstaunlich rasch über alle persönlichen Verhältnisse der in ihrem Laden verkehrenden Studenten unterrichtet. Nur »anzuschreiben« war sie nicht zu bewegen; es mußte alles bar bezahlt werden. Angeblich war das eine Marotte der tauben Mutter, die, in den Türkenschal gewickelt, Strümpfe strickte; und es bereitete ihr selbst, wie sie gern betonte, Schmerz, daß sie von dieser Geschäftspraxis nicht abgehen könne.
Seitdem Fridolin hier zum erstenmal einen Radiergummi gekauft, der aus der obersten Schublade des hohen Schrankes geholt werden mußte, war er ein guter Kunde geworden; und da er offenbar vergeßlich war, wurde oft zwei- und dreimal im Tag ein Gang in das seiner Wohnung benachbarte Lädchen notwendig.
In seinem wackelnden Schreibtisch, den er nicht zu oft benutzte, stauten sich bald viele Pakete Schreibpapier, Federkasten, Bleistiftspitzer, Albums und Lampenschirme. Er hätte auf Grund dieses Lagers selbst ganz gut einen kleinen Handel mit Schreibutensilien eröffnen können.
Beim Einkauf nahm er sich Zeit und stand stets gern hinter anderen Kunden zurück, die es eiliger hatten. Er knüpfte hübsche Bemerkungen an die vorgelegten Waren, ging zu kleinen Galanterien über, brachte ein paar Blumen, eine Tüte Konfekt, ein Billett zum Stadttheater und lenkte schließlich an einem Vorfrühlingstag das Gespräch auf seine Einsamkeit, die ihm vom Ernst seiner Studien und von seinem Gesundheitszustand vorgeschrieben werde.
Am nächsten Sonntag gingen sie zusammen spazieren, auf den Schloßberg. Sprachen beim Hinaufsteigen von der Unzulänglichkeit der Gesetze, von den Professoren der juristischen Fakultät und von der Erhabenheit des Münsters. Sprachen beim Hinabsteigen von der Flüchtigkeit der Jugend, von dem Zauber des Frühlings, den man zuversichtlich erwarten dürfe, und von der Liebe.
Aus den geöffneten Fenstern einer Verbindungskneipe schwamm der »Schwarze Walfisch zu Askalon« auf Tabakswolken in die Nacht.
Im Schatten der alten Universität küßte er sie.
Ihr Mund war frisch und kühl; und ihre Augen blieben ruhig und weit geöffnet.
Dann gingen sie zusammen in eine kleine Weinstube, aßen Beinfleisch, tranken Markgräfler; und er schrieb eine Karte an seine Mutter, daß es ihm den Umständen nach wohlgehe.
Sie leckte die Marke und klebte sie mit der Akkuratesse auf, die all ihren Handlungen eigen war . . .
Der Frühling schien herrlicher denn je ins Land kommen zu wollen.
Die jungen Leute machten Sonntags Touren in den Schwarzwald und hielten sich an den Händen, wenn sie durch die dunkeln Tannen gingen. Und sprachen von Glück und Wissenschaft, von Studium und Papierpreisen und auch von der Ehe. Und Fridolin erklärte diese Institution für den »idealen Menschheitszweck«; und Klärchen fand in ihrem Herzen Gründe, dem beizupflichten. Aber die alte taube Dame, die im Winkel des Papierlädchens saß, merkte nichts davon. Sie legte ihren Türkenschal nicht ab, und Strümpfe strickte sie keine mehr. Und immer seltener rief sie nach vorn, wieviel Uhr es sei.
Und eines Morgens, als Fridolin rasch vor dem Kirchenrechtskolleg noch einen Radiergummi kaufen wollte, fand er Klärchen in Tränen. Die Mutter hatte sich gegen sechs noch einmal nach der Zeit erkundigt, hatte einen Blick auf ihr im Wasserglas schwimmendes Gebiß geworfen und war dann befriedigt eingeschlafen für immer.
Klärchen war nach der Beerdigung sehr mitgenommen und niedergeschlagen.
In der rätselhaften Schatulle, in der die Mutter ihr Erspartes gesammelt, ohne sich über dessen Art und Wert zu äußern, hatte sich wenig genug vorgefunden. Eine Anzahl Hemdenknöpfe des seligen Gatten, eine Hornbrille, ein Schuhknöpfer, ein Krönungstaler und ein Sparkassenbuch über einige hundert Mark. Klärchen sah besorgt in die Zukunft.
Ein schüchternes Angebot pekuniärer Beihilfe, das Fridolin wagte, wies sie stirnrunzelnd zurück. Als er ihr aber am anderen Tage half, die neuangekommenen Kopiertintenfläschchen auszupacken, ließ sie eine Andeutung fallen, daß sie immer noch ein gutes Wort von ihm erhoffe, das auf ernste Absichten abziele.
Da trat in Fridolins Auge jener merkwürdige unbestimmbare Ausdruck, der immer das Blau seiner Sehwerkzeuge umflorte, wenn er an seinen Zustand dachte oder an etwas, das damit nahe zusammenhing: an glacierte Kalbsmilch, Droschken, alten Rotwein und Rivierahotels. Und er sprach, wie zu sich selber, nicht ohne die leise Freudigkeit, die ein großer Verzicht auf die Erfüllung des Menschheitszweckes edeln Herzen leiht:
»Ich kann das teure Leben eines geliebten Wesens nicht an das meine ketten. Ich bin zum Verzicht geboren.«
Und dabei blieb er, auch als ihn Klärchen mit Hilfe von zwei herbeigeholten Handspiegeln von seinem kerngesunden Aussehen überzeugen wollte.
Das täusche, äußerte er; Äpfel, in denen der Wurm sitze, hätten oft die frischesten Backen. Und als sie ihm herzlich empfahl, noch einmal einen der berühmten Professoren der Universität zu konsultieren, lehnte er das ab mit der elegischen Bemerkung, eine der größten Autoritäten seiner Vaterstadt, ein Geheimer Sanitätsrat, habe schon vor Jahren seinen Zustand erkannt; und er schilderte dem betrübt aussehenden Mädchen im Anschluß an diese Reminiszenz die Marmorurne auf dem Grab des Geheimen Sanitätsrats, um die sich die Schlange ringelte, und übersetzte ihr den ehrfurchtgebietenden lateinischen Spruch, der ihn und seine Kunst rühmte.
Da schwieg sie. Denn sie lebte in einer Universitätsstadt und hatte eine große Hochachtung vor Marmorurnen und lateinischen Sprüchen. Schlangen aber ekelten sie.
Fridolin litt unter den traurigen Augen des Mädchens und ihrem stummen Vorwurf. Er faßte an einem Mittwoch in dem ziemlich unappetitlichen »Publicum«, das der ewige Privatdozent Doktor Geigenspühl über gerichtliche Medizin las und das namentlich von Germanisten und Theologen stark besucht war, einen Entschluß.
Auf einem herausgerissenen Blatt seines Kollegheftes schrieb er an seine Mutter. Er habe eine Liebe; es sei wohl die letzte in diesem Leben. Er wolle nicht sagen, warum er das glaube; aber er träume eben häufig von dem muskelstrotzenden Turnlehrer, der, ganz in einen kakaofarbenen Trikotstoff gehüllt, in väterlichem Ton die Worte sprach: »Der Fridolin Jädecke braucht nicht mitzuspringen, insofern als daß . . .« Die Mutter wisse schon. Wenn sie ihm noch eine letzte Freude machen wolle, nehme sie das Klärchen zu sich ins Haus. Sie lese hübsch und mit Ausdruck vor, spiele auch etwas Klavier. Und was die Lebensanschauungen des vortrefflichen Mädchens angehe, so brauche er die Mutter nur darauf hinzuweisen, daß . . .
Hier mußte er den Brief unterbrechen, weil es einem Theologen neben ihm infolge einer allzu detaillierten Schilderung eines Leichenbefundes am Tatort übel wurde.
Zu Hause schrieb er den Brief fertig und ließ ihn auf der Hauptpost einschreiben. Am Abend verfaßte er einen Nachtrag zu seinem »letzten Willen«. Er wünschte verbrannt zu werden, und das Klärchen sollte die Asche in einer kleinen Urne erhalten. An ihrem Hochzeitstage aber sollte sie den Inhalt der Urne in ein fließendes Wasser streuen. Das »fließende Wasser« strich er dann wieder durch und ersetzte es durch das »ewige Meer«. Obschon diese Bestimmung, wie er wußte, Reisespesen verursachen mußte, gefiel sie ihm besser.
Acht Wochen später zog Klärchen mit einem Schließkorb und drei Pappschachteln bei Ernestine Jädecke, geborenen Kumms, in Fridolins Vaterhaus ein.
Ernestine küßte sie unter Tränen.
»Sie sind seine Freundin,« sagte sie, »und Sie werden mir einst sein Vermächtnis sein!«
Auch Klärchen weinte und ließ sich den Plüschsessel zeigen, in dem einst der Geheime Sanitätsrat gesessen, als er das harte Wort von der kleinen Dämpfung ausgesprochen . . .
. . . Fridolin war Referendar geworden und hatte dank der Schonung, die er sich in jeder Beziehung auferlegte, auch das zweite Staatsexamen bestanden. Er wirkte, ohne sich durch Überarbeitung zu gefährden, als Rechtsanwalt in seiner Vaterstadt und hatte die Vorsicht, sich bald einen Associé zu nehmen, der Blumenthal hieß und eine wahre Leidenschaft für das Aktenstudium besaß.
Kurz nach dem Tode seiner Mutter – die noch im Fiebertraum gebeten hatte, Fridolin möge nicht mit auf den Friedhof gehen, wenn das Wetter schlecht sei, auf alle Fälle aber Gummischuhe anziehen – verheiratete sich Klärchen mit Konrad.
Der gute Konrad hatte während seines ganzen chemischen Studiums die Schwestern Kleemüller im Herzen getragen, ohne sich für eine entscheiden zu können. Das ging übrigens allen so, die sich in dies angenehm zweistimmig lachende Schwesternpaar verliebten; und so bekam schließlich keine von beiden einen Mann. Ihr zweistimmiges Lachen wurde spitzer und büßte seine Lieblichkeit ein. Sie selbst wurden rundlich und gaben gemeinsam Gesangunterricht in besseren Familien.
Thekla hatte Joseph Binzer die Hand zum Bunde gereicht, dessen Javakaffeegeschäft einen großen Aufschwung genommen hatte, seit er sich zwei Eingeborene als Verkäufer hatte kommen lassen; baumlange braune Kerle, die zwar nur gebrochen Deutsch sprachen und etwas exotisch rochen, aber das Entzücken aller Köchinnen und auch der kleinen Bürgerfrauen waren.
Mit Klärchen war Thekla eng befreundet. Sie gingen Dienstags und Freitags gemeinsam auf den Markt, hatten Mittwochs ihr Abonnement im Parkett des Stadttheaters nebeneinander, verglichen neidlos ihren Küchenzettel, tauschten ihre Meinungen und Gefühle in der Dienstbotenmisere aus und lasen abwechselnd die Bücher, die ihnen Fridolin mit dem wehmütigen Lächeln eines Mannes, der vielleicht seinen letzten Gang tut, aus seiner Bibliothek mitbrachte.
Fast niemals vergaß er bei solcher Gelegenheit zu sagen: »Sollte ich keine Gelegenheit mehr haben in diesem Leben – man weiß ja nie –, das Buch zurückzuholen, so behalten Sie es als kleines Andenken an mich!«
Die beiden Männer Konrad und Joseph sahen mit Rührung diese Freundschaft, die ihre Frauen mit dem nun schon seit Jahren unter der täuschenden Hülle eines Kerngesunden langsam Dahinsiechenden verband. Sie gönnten ihm auch die Freude, ihre ersten Kinder – Thekla schenkte Joseph ein Mädchen, Klärchen wiegte einen strammen Bengel – über die Taufe zu heben. Beiden Patenkindern brachte Fridolin ein versiegeltes Päckchen mit. Und seine Stimme war leicht umflort, als er die lieben Eltern bat, dieses Paketchen, das seinen »letzten Gruß« an das geliebte Patenkind enthalte, erst nach seinem Heimgehen zu entsiegeln. Man versprach das auch mit gerührtem Dank und trank Rheinwein dazu.
Weder Konrad noch Joseph hat jemals erfahren, was in dem versiegelten Päckchen ihre Kinder erwartet.
Sie sind beide vor Fridolin gestorben; und er hat ihnen beiden in dem Tageblatt seiner Vaterstadt, das er zuweilen durch anonyme Beiträge poetischen und philosophischen Inhalts schmückt, einen Nachruf gewidmet, dessen edle Herzlichkeit durch einige sinnstörende Druckfehler nicht verwischt werden konnte.
Mit den beiden Witwen hat er nun schon seit Jahren einen Whistabend, zu dem er selbst bei rauhem Wetter trotz seiner Lungendämpfung pünktlich erscheint.
Er nähert sich jetzt schon den Sechzigern. Aber die Galanterie seiner geschonten Jugend ist sich stets gleichgeblieben.
Zuweilen, wenn ein Rhododendron genannt wird oder eine Defreggerfrisur, blickt er Thekla mit einem verlorenen Lächeln an. Und wenn, wie das im Sommer zuweilen geschieht, durch das geöffnete Fenster der klingende Fetzen eines Studentenliedes in die Stube dringt, wo die drei ihre Tricks und Honneurs zählen, dann geschieht es wohl, daß er die Trumpffarbe vergißt und einen Augenblick aus verträumten Augen zu Klärchens silbrigem Scheitel hinübersieht.
Und wenn er dann nach Hause geht, spricht er leise, zärtliche Worte vor sich hin. Aber die hört keiner, der ihm begegnet, denn er hält ein Tuch vor den Mund und hütet sich, gegen den Wind zu atmen.
In den Kreisen der juristischen Kollegen und an Stammtischen, die er nie besucht, erklärt man den alten Herrn für einen Sonderling. Aber er hat auch liebenswürdige Einfälle.
So ließ er die unlesbar gewordene lateinische Inschrift auf dem Grabe eines Geheimen Sanitätsrates neu vergolden. Und seinem ehemaligen Turnlehrer hat er ein Wägelchen gekauft, in dem sich der vom Schlag gerührte alte Mann mittags ein bißchen in die Sonne fahren lassen kann.
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