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Rudolf Presber

Mein Patient · Der Globus Fridolin

Mein Patient

Ich bin nie Mediziner gewesen. Vielleicht wird mir aus diesem Grunde und weil ich das Klavierspiel rechtzeitig aufgab, im Himmel mancherlei verziehen, was ich sonst geleistet und was sich später als recht verbesserungsbedürftig erwies.

Aber ohne Mediziner zu sein, habe ich doch meinen Patienten gehabt!

Einen einzigen nur. Aber ich hatte genug davon; und ich habe gute Gründe, anzunehmen, daß auch er genug davon hatte.

Ich wohnte als Student mit einem »stud. jur. et cam.« Wand an Wand. Auf das »cam.« legte er stets besonderen Wert. Das stand ihm frei, denn solange ich ihn kannte, hat er sich um das edle Jus ebensowenig gekümmert wie um die Cameralia. Er hieß Thomas Conradin von und zu Glotzbach und war aus sehr gutem altem Hause.

Wenn er etwas getrunken hatte – und er trank stets etwas –, so wurde das Haus immer besser und älter. Nach dem dritten Glas hatten seine Ahnen in den spanischen Niederlanden gegen Ludwig XIV. gekämpft; nach dem fünften Glas hatten sie teilgenommen an jener denkwürdigen Fahrt des Admirals Walter Raleigh, als er die Kartoffeln aus Virginien nach Irland brachte; nach dem siebenten Glase hatten sie händeringend unten an der Martinswand gestanden, als Kaiser Maximilian I., der letzte Ritter, sich dort oben verstiegen hatte; und nach dem neunten Glase waren sie es gewesen, die auf der Kirchenversammlung zu Clermont den Papst Urban II. bestimmt hatten, den Kreuzzug predigen zu lassen.

Nach dem neunten Glase aber waren die Mitteilungen Thomas Conradins leider niemals mehr recht verständlich. Sonst hätte die erstaunte Tafelrunde vielleicht erfahren, daß ein Ahnherr dieses braven und gerührten Burschen unter dem großen Theoderich am Isonzo gegen Odoaker gefochten habe oder hinter der Leiche Konstantins als vornehmster Leidtragender durch die Straßen von Ravenna geschritten sei.

Thomas Conradin war ein baumlanger Kerl, dürr und sehnig. Er »stand« wundervoll auf der Mensur; aber seine Fechtkunst war gering. Er »stöpselte«, wie der technische Ausdruck lautet. Nur ein Duselhieb von ihm war gefürchtet, eine steile Quart, die er – vermöge der enormen Länge seines Affenarmes – auf das Hinterhaupt des Gegners zu setzen wußte. Wer diese »Abfuhr« von ihm bekam, der schimpfte weidlich. Das war nicht nur das Gegenteil von einem »Renommierschmiß«, sondern es sah, wie der kleine dicke Schwabe Birlebach behauptete, »allemal ehr aus, als hätt' einer mit Prolete g'rauft und mit 'n alte Rägeschirm eini aufs Dach kriegt«.

Thomas Conradin war ein grundanständiger, ehrlicher Kerl. Aber bei der Erfindung des Schießpulvers war er im Nebenzimmer gewesen. Und wenn es sich wirklich so verhielt, daß seine Ahnen mit Sir Walter Raleigh die Kartoffeln nach Europa brachten, so waren sie es gewiß – die Ähnlichkeit mit dem Enkel vorausgesetzt –, die sich durch Einführung der dicksten dieser sympathischen Knollenfrüchte verdient gemacht hatten.

Eine rechte Last für mich, der ich freundschaftliche Nachbarschaft mit Thomas Conradin hielt, war seine große Vorliebe für und seine geringe Widerstandskraft gegen den Alkohol. Gingen wir zusammen aus, so hatte ich meistens den Vorzug, einen Schwergeladenen nach Hause zu bringen. Und die überschwengliche Zärtlichkeit, mit der er mich dann, glücklich in seiner Stube angelangt, auf beide Backen küßte, entschädigte mich nur gering für den Aufwand an Zeit und Kraft, mit dem ich ihn durch die Fährnisse der schlecht erleuchteten Straßen gesteuert.

Ich verdanke ihm die Bekanntschaft mit sämtlichen Nachtwächtern und mit reichlich zwei Dutzend Philistern der Alma mater. Ja, einmal, als ich ihn nicht hindern konnte, aus mir unbekannten Gründen seinen weichen und neuen Filzhut in einen ehrwürdigen Briefkasten zu stopfen, wurde ich sogar mit ihm auf die Wache gebracht, wo er durch Anstimmen unzähliger, an sich schöner, aber hier durchaus deplacierter Lieder und durch Mitteilungen über einen Großvater mütterlicherseits, der bei Austerlitz sterbend dem vorbeireitenden Kaiser Napoleon derb die Wahrheit gesagt haben sollte, die Verhandlung sehr in die Länge zog.

Eines Abends nun gab ein gemeinsamer Bekannter seinen Doktorschmaus.

Wilhelm Möpsel wohnte in der Etage über uns bei der Witwe eines Totengräbers, die durch ihre äußerst erschrecklichen und ebenso unappetitlichen Geschichten über Geschehnisse auf dem alten Friedhof unter dem ihr äußerst verhaßten Nachfolger ihres vorzüglichen, aber leider zu früh am Trunk heimgegangenen Gatten sehr berühmt war.

Vielleicht war es Aberglaube gewesen, der den vortrefflichen Wilhelm Möpsel, der seit fünfzehn Semestern Medizin studierte, als Mieter bei dieser unheimlichen Witwe des Totengräbers festhielt, die in ihrem Blick und Wesen noch etwas von dem düsteren Beruf des verewigten Ehegatten mit sich herumtrug. Ja, es gab in unserem Kreise Leute, die ganz ernsthaft in Erwägung zogen, ob nicht geheimnisvolle Kräfte, düstere Zaubermittel und verwerfliche Hexereien dieser unheimlichen alten Dame ihren Mieter schließlich durch das böse Examen gesteuert, das er so lange und nicht aus unzureichenden Gründen ängstlich gemieden hatte. Das wäre allerdings einem Wunder gleichgekommen. Und unsere aufgeklärte Zeit ist den Wundern abhold. Aber daß Wilhelm Möpsel, der ewige Kandidat, das Examen ohne fremde und geheimnisvoll wirkende Zauberkräfte bestanden haben sollte, das mußte eben allen, die seine heftige Neigung zum interessanten Skatspiel und seine Vorliebe für kraftvoll gemischte Knickebeine kannten, ein noch viel größeres Wunder erscheinen.

Gleichviel. Wunder oder nicht – Wilhelm Möpsel war praktischer Arzt, und auch seine staatlich geprüfte Kunst als Geburtshelfer drohte den noch ungeborenen Generationen.

Der Festschmaus war in dem gemütlichen Hinterzimmer der »Blauen Rose« gerüstet. Der gefeierte Gastgeber in einem sehr festlichen, aber zu engen Kragen hatte die bemerkenswerte Anordnung getroffen, daß vor und nach der Suppe je ein Knickebein serviert werde. Dann erst begann die sympathische Folge recht hübsch gewählter, gut behandelter Weine. Als der Braten serviert wurde, gab es Sekt. Zwar deutschen, aber reichlichst.

Es wurden leider sehr viele Reden gehalten. Eine Rede aufs Vaterland, die noch mit blondem, spitzem Mosel begossen wurde; eine Rede auf den gefeierten Gastgeber, die nur darunter litt, daß der Redner, ein sehr kurzsichtiger Chemiker, fortgesetzt auf einen zum Platzen wohlgenährten Gast von der landwirtschaftlichen Hochschule einsprach, der so geniert, wie vergebens, diese Ehrungen ablehnte. Dann eine Rede auf die medizinische Wissenschaft, in der sehr viel von Äskulap und Hippokrates und sehr wenig von näherliegenden Dingen gesprochen wurde; eine umfangreiche Rede auf das liebe Universitätsstädtchen, zu der man vorzüglichen Rauenthaler trank, und eine Rede auf die leider abwesenden Damen, bei der dem Redner nur das Malheur passierte, fortgesetzt von der »lieben, prächtigen Mutter des Gefeierten« zu reden, »der ehrwürdigen Greisin«, während der mit den Familienverhältnissen Vertraute wußte, daß der Vater vor kurzem eine sehr törichte dritte Ehe mit einer Ballettdame aus der zweiten Quadrille des Breslauer Stadttheaters eingegangen war.

Das alles aber schadete nichts. Man war weidlich animiert. Der Dicke von der landwirtschaftlichen Hochschule erzählte mit Donnerstimme von einer neuen Zucht baskischer Maskenschweine. Ein Leutnant a. D. erläuterte die auf der deutschen Seite gemachten Fehler in der Schlacht bei Sedan. Ein Frankonen-Fuchs saß mit zurückgebogenem Kopf und sang andachtsvoll und ganz für sich das Lied vom Enderle von Ketsch.

Plötzlich steht etwas neben mir; steif, kerzengerade, wie ein Laternenpfahl. Ich erschrak, als ich Thomas Conradin erkannte, der bisher stillvergnügt und ohne durch geistvolle Bemerkungen den Gang des harmlosen Gesprächs eigenmächtig zu stören, dabeigesessen und mit wachsendem Behagen dem Sekt zugesprochen hatte.

»Thomas Conradin, was willst du denn? So setz' dich doch! Es gibt ja noch Eis.«

»Ich – esse kein – – Eis,« tönt es von oben.

»Aber wir. So setz' dich doch!«

»Nein. Ich muß eine – –,« und da er sieht, daß der dicke Mann von der Landwirtschaft vergnügt die Ellenbogen aufstemmt und ihm erwartungsvoll zuhört, wendet er sich beinahe feindlich zu diesem gesunden Jüngling – »zunächst, ich muß eine Rede halten . . . Verstehen Sie mich!«

»Grundgütiger! Sei doch verständig, Thomas Conradin, es ist ja schon so spät. Und du . . .«

»Und ich bin auch – spät.« Er schnauzt mich an. Seine Augen blinken ausdruckslos wie blaugrüne Glasknöpfe. Der irisierende Sektkelch in seiner unsicheren Hand gießt Spende auf Spende über das Tischtuch. Es ist ersichtlich: Thomas Conradin hat einen Gehörigen sitzen.

Und Thomas Conradin redet.

Die Rede hätte auf alles gepaßt. Er hätte damit ebensogut eine Geweihausstellung eröffnen, als einen von Zulus erschlagenen Missionar bestatten können. Sie war in gleicher Weise geeignet, die Wiederkehr des Tages des Rastatter Gesandtenmordes zu betrauern, wie die Taufe eines Findelkindes zu verschönen, die Generalversammlung eines Lesekränzchens zu würzen oder eine wissenschaftliche Expedition gegen die Beulenpest einzuleiten. Es war eine der außerordentlichsten Reden, die ich je gehört habe.

Und sie dauerte so lange, daß das schöne Eis auf der Schüssel vollständig zu einer kalten Soße zerflossen war, als er seinen Spruch mit einem dreifachen Hurra auf – die Wendung überraschte allgemein – auf den Oberkellner der »Blauen Rose« beendigte.

Nach dieser Rede verfiel Thomas Conradin in einen betrübenden Zustand der Teilnahmlosigkeit. Nur zuweilen sagte er leise und zu sich selbst: »Prost!« und trank aus dem längst leeren Sektkelch einen imaginären Ganzen auf sein Spezielles.

Von nun an ist meine Erinnerung lückenhaft . . . Es muß schon einige Stunden später gewesen sein, da erkenn' ich an einer großen wüsten Tafel auf dem Ledersofa Wilhelm Möpsel, den lustigen Gastgeber, der Unmenschliches vertragen kann, mit einem Glase Pilsener vor sich und einem Assistenten vom Pathologischen Institut neben sich, der durch seine Seßhaftigkeit berühmt ist. Sie streiten lebhaft über einen Fall von Gehirnerweichung, der Möpsels kritischem Urteil im Examen unterbreitet worden war.

Ich muß sagen, daß mich in meinem augenblicklichen Zustand der seelischen Ermattung diese Unterhaltung über Erweichungsherde im Gehirn, über Pfropfenbildungen in den Hirngefäßen und über Entartungen der Gefäßwände nur mäßig auffrischte. Ich lehnte das Pilsener Bier ab, stellte noch fest, daß Thomas Conradin neben mir in einem Sessel lag, den Kopf mit einer Serviette zugedeckt, und schnarchte; dann döste ich selbst ein bißchen weiter.

Der erste Schimmer des Morgens fiel in das Hinterzimmer der »Blauen Rose«, als mir Möpsel auf die Schulter schlug und mich ermunterte. Er war schon in Hut und Paletot.

»Wir wollen nun auch gehn, was? Den da« – er hob die Serviette von Thomas Conradins sehr blassem, aber friedlichem Haupt, aus dem jegliche Spur von Intelligenz gewichen war –, »den da bringen wir zusammen nach Haus.«

Und wir brachten ihn. Er empfand nicht mehr davon, als ein rindslederner Handkoffer, der im D-Zug von Basel über den Gotthard nach Chiasso geschafft wird.

Als wir ihn auszogen, sagte er mehrfach »Prost!« Nur als wir ihn glücklich im Bett hatten, zeigte er sich eine Weile unruhig. Es erwies sich, daß er auf seinem Zwicker lag, der zerbrochen war und ihn durch seine Kanten geniert hatte.

Möpsel wandte sich zum Gehen. Mir war übel zumute, und ich klagte ihm: »Das soll nun drei Abende so weitergehen! Heute abend bei den Rhenanen Stiftungsfest. Morgen Festkommers für den Geheimrat Bitzelmann. Übermorgen – –«

»Und jeden Abend mußt du ihn nach Hause bringen?«

»Abend – ist gut. Aber jeden Morgen, ja.«

»Hm.« Möpsel sagte nur: »Hm.« Aber in seinem Gesicht arbeitete ein Gedanke.

»Weißt du was?« sagte er nach einer Weile. »Ich werde dir ein paar Tage Urlaub von dieser Sklaverei verschaffen.«

»Aber wie?«

»Sehr einfach. Ich lege ihm ein Bein in Gips.«

Nun war das ja allerdings ein wunderlicher Gedanke, einem total gesunden Menschen ein Bein in Gips zu legen. Aber es gibt im Leben Stunden, in denen die verschmitztesten und verwickeltsten Dinge ein ganz schlichtes, einfaches Gesicht zeigen.

Ich sagte also – nicht anders, als ob er vorgeschlagen hätte: ich sehe jetzt nach der Uhr, oder: ich koche jetzt Tee –: »Gut, lege ihm ein Bein in Gips.«

Möpsel ging in seine Wohnung, das Nötige zu holen, und kam nach einer Viertelstunde, reich bepackt mit Binden und Bandagen und Tüten und Pappdeckeln und was weiß ich, wieder herunter.

Von diesem Augenblick an war ich ganz wissenschaftliches Interesse.

»Wir werden das linke Bein nehmen,« sagte Möpsel, während er – unsagbare Schmutzerei in dem Zimmer anrichtend mit seinen Vorbereitungen – den Gipsbrei anrührte, »damit du besser dran kannst.«

»Ich – dran kann? Wozu?«

»Nun, du wirst ihm doch zur Hand gehen müssen. Ich reise heute mit dem Frühzug ab. Einen Examenspump bei meinem alten Herrn anlegen. Bis ich wiederkomme, mußt du ihn betreuen.«

Das schien mir ganz in der Ordnung. Und so hoben wir die Decke und bemächtigten uns Thomas Conradins linken Beines.

»Wir werden einen Unterschenkelbruch annehmen,« meinte der Mediziner. »Es ist dir doch recht?«

Mir war es recht. Und Thomas Conradin war es auch recht. Das heißt, er lag wie tot in seinen Kissen und kümmerte sich den Teufel um sein linkes Bein.

Nach etwa einer halben Stunde war Möpsel mit seiner Arbeit fertig. Ich konnte nicht umhin, ihm meine Bewunderung auszudrücken. Es war ein sehr appetitlich aussehender Gipsverband. Nur etwas reichlich dick und breit kam er mir vor. Selbst für einen, der wirklich den Unterschenkel gebrochen hätte.

Möpsel wusch sich die Hände und gab mir noch einige Verhaltungsmaßregeln: »Also, er darf nur Leichtverdauliches essen die nächsten Tage. Keine Spirituosen. Etwas Pflaumenmus mittags und abends. Du weißt schon, von wegen . . . Das ist wichtig beim Liegen. Und sonst – Ruhe, absolute Ruhe.«

Mir war ganz feierlich zumute. Alle diese ernsten Hantierungen, diese Reden und Ermahnungen brachten mein übermüdetes, alkoholbeschwertes Gehirn dahin, zu glauben, daß hier tatsächlich ein armer Kranker meiner Pflege bedürfe.

Ich war fast stolz auf mein Amt. Eh ich mich legte, sah ich noch einmal nach, ob der Verband nicht gerutscht sei. Er war nicht gerutscht. Aber Thomas Conradin schlief nicht mehr so friedlich wie vorhin. Ihm war etwas unbequem, man sah es . . .

Am nächsten Morgen – ich hatte die Verbindungstür zum Zimmer offen gelassen – erwachte ich von seinem Rufen: »Du, hör mal . . . mir ist nicht gut!«

Mir war auch nicht gut. Ich hatte Genickschmerzen und Haarweh. Trotzdem stand ich auf und ging – sehr leicht bekleidet – zu dem Patienten.

»Einen Katzenjammer hab' ich,« sagte er, »das ist eine ausgemachte Tatsache. Das sind die verdammten Knickebeine. Ich habe das Zeug nie vertragen. Aber dann – du, weißt du, ich habe da was am Bein. Ach, bitte, sieh doch mal, was das ist – ich kann mich gar nicht bewegen!«

Jetzt fiel mir die ganze Nacht wieder ein.

Es wäre vielleicht am besten gewesen, ihm alles zu gestehen. Aber ich fühlte mich den dann notwendig folgenden Zornausbrüchen noch nicht gewachsen. Und dann – ich wollte mal ein paar Tage Ruhe haben. Ich setzte mich also an sein Bett, nahm feierlich seine Hand und sagte:

»Thomas Conradin, sei stark, sei ein Mann –«

»Bin ich. Nu, was weiter?«

»Bist du auch sicher, daß du ein Mann bist?«

»Mach keine Witze. Was willst du eigentlich?«

»Du hast nämlich – das Bein gebrochen!« platzte ich heraus.

Die Wirkung meiner Mitteilung war seltsam. Eine Weile schwieg Thomas Conradin nachdenklich. Dann sagte er fast freudig: »Gebrochen bloß? . . . Ich habe die ganze Zeit das Gefühl gehabt, als hätt' ich überhaupt nur noch eins

»Nein, nein,« beeilte ich mich tröstend zu berichtigen: »Da ist's schon noch. Aber, wie gesagt – gebrochen.«

»Hm. Gebrochen? Das ist fatal. Aber wo denn . . . Wieso denn? . . . Warst du dabei, ja? oder – –?«

Und nun log ich wie ein geprüfter Forstadjunkt. Ich erzählte eine Räubergeschichte von einem Fall auf einer Treppe; schilderte, wie der vortreffliche Möpsel und ich den Bewußtlosen hinauftrugen –

»Siehst du – bewußtlos war ich,« sagte Thomas Conradin bei dieser Stelle. »Be–wußtlos! Ich habe vorhin gleich so das dunkle Gefühl gehabt, als wär' ich heute nacht be–wußt–los gewesen.«

Ich verbreitete mich über Möpsels ärztliche Tätigkeit, rühmte seine umsichtige Art und sein schonendes Vorgehen –

»Sehr richtig« – nickte Thomas Conradin ernst –, »nicht einmal aufgewacht bin ich. Freilich, ich war be-wußtlos!« Er sagte das mit einem gewissen Stolz.

»Und wie fühlst du dich jetzt?«

»Hm. Ich habe Genickweh und Haarweh; und am Bein – ja, ich habe solche Schwere, bleierne Schwere drin. Schmerzen –? eigentlich nein. Das heißt doch –! eben, eben hab' ich Schmerzen.«

»Du darfst dich nicht bewegen, Thomas Conradin. Mußt ruhig liegen. Sollst wenig sprechen; und nachher bekommst du dein Pflaumenmus.«

»Was bekomm ich?«

Ich erklärte ihm Sinn und Zweck dieser weisen Verordnung. Er fand sie lästig, aber erklärlich, bat mich aber, zunächst nicht mehr davon zu sprechen, da sich ihm bei Erwähnung von Pflaumenmus vorerst noch einige Knickebeine im Magen umdrehten.

Ich riet ihm, noch etwas zu schlafen, und stieß mit diesem Vorschlag auf sein Verständnis. Er schlief.

Als er wieder aufwachte, hatte er heftige Schmerzen an der »Bruchstelle« und verlangte einen Arzt.

Möpsel war schon abgereist. Ich war in einer bösen Lage. Ich log also weiter. Ich erzählte von einer Morphiumlösung, die – von Möpsel bereits vorsorglich aufgeschrieben – alle durchaus normalen und erklärlichen Schmerzen lindern und die Heilung beschleunigen werde. Und ich gab ihm nun alle zwei Stunden drei Tropfen von meiner Zahntinktur in einem halben Weinglas Quellwasser ein. Er fühlte sich sofort erleichtert und auch – wie er sagte – seelisch gehoben.

Mittags verlangte er selbst nach Pflaumenmus und war überhaupt ein angenehmer Patient.

Er unterhielt mich damit, mir zu versichern, es sei etwas vom Spartaner in ihm. Ein anderer würde zweifellos wimmern und klagen bei den Schmerzen, die er empfinde. Er aber beiße die Zähne zusammen und halte aus, wie es sich für einen Mann und den Sohn seiner Ahnen zieme. Ein Linderungsmittel freilich verschmähte er nicht. Er meinte die drei Tropfen meines Zahnwassers, die er andachtsvoll hinunterschluckte, indem er Vortreffliches über die segensreiche Kraft solcher Arzneien zu sagen wußte . . .

Acht Tage lag er so auf dem Rücken, aß Pflaumenmus, trank Zahnwasser und tyrannisierte mich. Denn ich mußte – wollte ich kein Barbar erscheinen – dem »armen Gelähmten« alle kleinen Handreichungen leisten, Gänge besorgen und auf seine Unterhaltung bedacht sein.

Den Ulk ihm einzugestehen – nein, das wagte ich nicht mehr. Ich wartete sehnsuchtsvoll auf den Mediziner. Er ließ nichts von sich hören. Ich schrieb, schrieb wieder, schrieb zwei Eilbriefe, telegraphierte – endlich kam er!

Ernst und würdevoll besah er auf dem Nachtkästchen die Reste des Pflaumenmuses, roch verständnisvoll an dem Weinglas mit der Zahnwassermischung und lobte meine »für einen Laien erstaunliche Umsicht« bei der verantwortungsvollen Pflege. Dann hob er die Decke und prüfte den Verband.

»Wir werden ihn abnehmen,« entschied er. »Sie haben gutes Blut, vorzügliche Säfte, lieber Thomas Conradin.«

Thomas Conradin deutete zur Erklärung dieser erfreulichen Tatsache nur auf den über seinem Schmerzenslager angebrachten Stammbaum.

Und während Möpsel – ganz Arzt, ganz Chirurg – den Gipsverband abklopfte, daß das weiße, kerngesunde Bein Thomas Conradins allmählich in leuchtender Schöne wieder zum Vorschein kam, nickte er mit würdiger Ruhe und doch nicht ohne leisen Stolz, der dem Wohltäter der Menschheit so gut ansteht:

»Ja, ja, das schon, das schon. Aber wenn Sie nicht gleich einen so tüchtigen Arzt gehabt hätten und einen so umsichtigen, liebevollen Pfleger – wer weiß!«

*


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