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29. Schöne Kleider tun viel

. Es war einmal ein Zar, der hatte eine einzige Tochter, die war über die Maßen schön. Aus Übermut und zum Ruhm ihrer Schönheit ließ er in aller Welt verkünden: Wenn sich ein junger Mann finde, der raten könne, was für ein Mal seine Tochter habe und an welcher Stelle, dem werde er sie zur Frau geben und sein halbes Reich dazu; wer es aber nicht rate, der werde in ein Lamm verwandelt oder verliere seinen Kopf. Diese wunderbare Nachricht verbreitete sich in der Welt, und es kamen Tausende Freier von allen Enden herbei, aber vergebens; eine große Zahl junger Leute wurde in Lämmer verwandelt, und eine Unmenge verlor den Kopf. Dieselbe Nachricht vernahm auch ein junger Mann, arm, aber gewandt und klug; er bekam große Lust zu dem schönen Mädchen und dem halben Reich, und so machte er sich zu dem Mädchen auf, aber nicht, um sie gleich zu freien, sondern nur, um sie zu sehen und sie etwas zu fragen. Als er zu dem Zarenhof gekommen war, da gab es was zu sehen: rings um ihn wimmelte es von Lämmern aller Art, die sprangen an ihm empor und blökten, als wollten sie ihm ein Zeichen geben, er solle seinen Gedanken aufgeben, daß er nicht auch zum Lamme würde, und die abgehauenen Köpfe, die auf Pfähle gesteckt waren, fingen alle an zu weinen. Darüber erschrak er und wollte weglaufen, aber ein Mensch in blutigen Kleidern, mit Flügeln und nur einem Auge im Kopf hielt ihn auf und rief: »Halt! Wohin? Zurück, sonst bist du verloren.« Darauf kehrte er wieder um und ging zu der Zarentochter; die empfing ihn und sagte: »Bist auch du gekommen, um mich zu freien?« Er antwortete: »Nein, erhabene Zarin, aber ich habe gehört, daß du dich, wenn die rechte Zeit kommt, zu verheiraten denkst, so bin ich gekommen, dich zu fragen, ob du keine Hochzeitskleider brauchst.« – »Was für Kleider hast du?« fragte sie ihn, und er antwortete: »Ich habe Hosen aus Marmor, ein Hemd aus Tau, ein Tuch den Aufzug aus Sonnenstrahlen, den Einschlag aus Mond und Sterne, und Schuhe aus lauterm Gold, nicht gewebt noch geschmiedet. Wenn du das alles kaufen willst, befiehl, daß ich es herbringe, aber das mußt du wissen: Wenn du eins nach dem andern von den Kleidungsstücken anprobierst, darf niemand dabei sein als wir beide; und wenn du sie brauchen kannst, werden wir leicht einig, wenn nicht, werde ich sie niemand zeigen, sondern sie aufheben für meine Braut.« Die Zarentochter ließ sich betören und hieß ihn alles bringen. Er ging und brachte es, Gott weiß, wo er es her hatte. Darauf schlossen sie sich in ein Zimmer ein; sie probierte erst die Hosen an, und er spähte, ob er nicht irgendwo an ihrem Beine ein Mal finden könnte; da bemerkte er zu seinem Glück einen goldnen Stern auf ihrem rechten Knie, sagte aber nichts, sondern dachte bei sich: »Wohl mir, heute und für alle Zeit!« Danach probierte die Zarentochter das Hemd und alles andre an, er aber achtete gar nicht mehr darauf, ob sie noch ein andres Mal habe. Alles paßte ihr wie für sie zugeschnitten. Darauf wurden sie über den Preis einig, und sie zahlte, was sie abgemacht hatten, er nahm sein Geld, und nach einigen Tagen zog er sich so schön an, wie er nur konnte; dann ging er, um des Zaren Tochter zu freien. Vor dem Zaren sprach er: »Erhabener Zar, ich bin gekommen, deine Tochter zu freien; so gib sie mir.« – »Gut, antwortete der Zar, »aber weißt du, wie man um meine Tochter freit? Merke wohl, wenn du ihr Mal nicht errätst, bist du verloren; errätst dus aber, so sei sie und die Hälfte meines Reiches dir gewährt.« Da verneigte sich der junge Mann vor dem Zaren und sprach: »Dank dir, Zar und Schwiegervater! Sie hat einen goldnen Stern auf dem rechten Knie.« Der Zar war sehr verwundert, woher er das wisse, aber ausweichen konnte er nicht, sondern mußte sie ihm geben, und er heiratete sie. Als nun das Reich geteilt werden sollte, sagte der Schwiegersohn zu dem Zaren: »Ich lasse dir die Hälfte des Reiches, nur verwandle die armen Seelen da wieder in das, was sie gewesen sind.« Darauf antwortete der Zar, das stehe nicht in seiner Macht, sondern in der seiner Tochter, »deiner Frau«, wie er sagte. Da bat er seine Frau, und sie sagte: »Laß ein wenig Blut ab unterhalb meines Sterns, jedes Lamm soll nur mit der Zunge daran lecken, und jeden Kopf bestreiche damit an der Unterlippe, dann werden die Lämmer wieder zu Menschen und die Köpfe wieder lebendig und zu Menschen, wie sie vorher waren.« Das tat er, und als sie alle wieder waren wie früher, lud er sie zur Hochzeit, dann ging es unter Singen und Schießen mit dem Mädchen nach Hause, und dort bewirtete er alle mit Speise und Trank. Zuletzt ging jeder nach seiner Heimat, er blieb mit seiner jungen Frau da.

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